Vorspann
In unserem Blog vom 17. September 2017 haben wir die Interpellation von Martina Munz vom 15. Dezember 2016 und die Antwort des Bundesrats vom 15. Februar 2017 zur Frage der Aufsichtsfunktion des ENSI im Sachplanverfahren behandelt. Im vorliegenden Beitrag gehen wir auf das Positionspapier des ENSI vom 3. Juli 2017 ein, das sich dieser Aufsichtsfrage annimmt. Die Interpellation Munz hat somit erfreulicherweise dazu geführt, dass das ENSI zumindest seine Rolle im Rahmen des Sachplanverfahrens reflektiert.
Am 3. Juli 2017 also, stellte das ENSI sein Positionspapier „Aufsicht über geologische Tiefenlager“ https://www.ensi.ch/de/2017/08/03/positionspapier-konkretisiert-aufsicht-ueber-geologische-tiefenlager/ im Netz vor. Wir fassen im Folgenden wichtige Aussagen zusammen und kommentieren sie.
Die Zielsetzung
In der Zielsetzung des Positionspapiers lesen wir:
„Das ENSI trägt aktiv dazu bei, dass die radioaktiven Abfälle in der Schweiz sicher entsorgt werden. Auf kommende Herausforderungen bei der geologischen bei der geologischen Tiefenlagerung ist es frühzeitig gut vorbereitet.“
„In Fragen der sicheren Entsorgung der radioaktiven Abfälle ist das ENSI in der Schweiz und im internationalen Umfeld als fachlich kompetenter und glaubwürdiger Ansprechpartner anerkannt.“
Kommentar: Das ENSI ist eine Aufsichtsbehörde im Bereich der nuklearen Sicherheit. Es sollte sich als erstes in diesem Sinne definieren:
- Welches ist seine Zielsetzung?
- Welches ist seine strategische Rolle?
- Wie passt es die Aufsicht dem sich wechselnden Umfeld an? Wie geht es etwa mit Langzeitfragen um? Und wie, mit dem Wechsel der Akteure, wenn einmal keiner der Genossenschafter der Nagra mehr ein Kernkraftwerk betreiben wird und über entsprechende Fachkompetenzen verfügt?
- Nach welchen Grundprinzipien nimmt das ENSI seine Aufgabe wahr (Weitsichtigkeit, hinterfragende Grundhaltung, offenes Gehör, Diskussionsbereitschaft, Anstand, selbstkritisch usw.)? Wie werden diese Prinzipien über das Wort hinaus in der Praxis umgesetzt?
Die materielle Umsetzung der sicheren nuklearen Entsorgung ist nach heutiger Gesetzgebung nicht Aufgabe des ENSI, sondern des Entsorgungspflichtigen, also v.a. der Betreiber der Kernkraftwerke. Dabei stellt sich natürlich auch die Frage, wer diese Aufgabe nach dem definitiven Abschalten der Kernkraftwerke übernehmen wird.
Im obigen Statement nimmt das ENSI auch eine Selbstbewertung vor. Steht ihm dies wirklich an?
Die Einleitung des Positionspapiers
Die Einleitung fasst wichtige Aufgaben zusammen, welche das ENSI in der Etappe 3 des Sachplanverfahrens wahrnehmen möchte. „Mit dem Beginn der Etappe 3 des Sachplans geologische Tiefenlager (SGT) ändern sich die Aufgaben des ENSI vermehrt von einer Aufsicht über die Standortsuche eines Tiefenlagers hin zu einer Aufsicht über Entwicklung und Bau eines Tiefenlagers an einem bestimmten Standort. Der ENSI-Rat hat sich deshalb entschlossen, die Anforderung an die Aufsicht über Tiefenlager und die Rollenteilung zwischen dem ENSI und den Entsorgungspflichtigen für die anstehenden Arbeiten im vorliegenden Positionspapier zu konkretisieren.“
„Nach Abschluss der Etappe 2 des SGT durch den Bundesratsentscheid (…) schlägt die Nagra in der folgenden, letzten Etappe die Standorte der Tiefenlager für schwach- und mittelaktive Abfälle (SMA) und hochaktive Abfälle (HAA) vor und bereitet Rahmenbewilligungsgesuche vor. Gleichzeitig entwickelt die Nagra die Lagerkonzepte hinsichtlich der später folgenden Baubewilligung weiter. Für das ENSI stellen sich somit mehrere Herausforderungen: Es muss die Standortvorschläge weiterhin kompetent überprüfen und zudem die Weiterentwicklungen der Lagerkonzepte im Hinblick auf die spätere Realisierung verfolgen. Die Aufsichtstätigkeiten umfassen auch die Überprüfung der Kostenstudien und der Entsorgungsprogramme (…). Zudem sind die erdwissenschaftlichen Untersuchungen bei den Sondierbohrungen während der Etappe 3 des SGT und bei der Erkundung untertage nach Erteilung einer Rahmenbewilligung zu beaufsichtigen.“
In den weiteren Ausführungen blendet die Einleitung wichtige gesetzliche Grundlagen aus dem Kernenergiegesetz, der Kernenergieverordnung und aus Richtlinien des ENSI ein.
Kommentar: Die Einleitung des Positionspapiers greift unterschiedliche Themen in zufälliger und unkohärenter Art und Weise auf (Sachplan, Kostenstudien, Entsorgungsprogramm, Bohrungen usw.). Zum Teil liegen die grundlegenden Probleme dieser Aufzählung auch in der Struktur des Sachplans selbst, der völlig unterschiedliche Zielsetzungen und Prozesse amalgamiert und auch grundlegende konzeptionelle Schwächen offenbart.
Etappe 3 soll laut Sachplan nicht nur Standorte für die beiden Lagertypen bezeichnen, sondern den Übergang zu den Rahmenbewilligungen und damit zum Bau der Lager sicherstellen. Das Standortwahlverfahren hätte nie und nimmer mit einem Bewilligungsprozess nach Kernenergiegesetzgebung (Rahmenbewilligung) verschmolzen werden dürfen. Denn die grundlegende Aufgabe der Sicherheitsbehörde wäre es zunächst einmal sicherzustellen, dass der Einengungsprozess in einem sachlich einwandfreien Prozess abläuft.
Bisher war die Überprüfung des Prozessvorgehens aber chaotisch: die Aufsicht hat es versäumt, einen erdwissenschaftlichen Prozess zu definieren und durchzusetzen, der von der Nagra auch eingehalten worden wäre. Sie hat die Genossenschaft weitgehend frei wirken lassen. Kantone, die Kommission für Nukleare Sicherheit (KNS), die Regionalkonferenzen, externe Experten mussten im Nachgang immer wieder dafür sorgen, dass zum Teil hanebüchene Fehler berichtigt und längst fällige Korrekturen im Prozess eingeführt wurden (Ergänzung 2D-Seismik, Standorte über Grundwasserbereichen, Einengungsprozedere usw.).
Vor allem aber wäre es die Aufgabe der Aufsicht, dafür zu sorgen, dass ein Standortwahlprozess Ergebnis-offen ausgeführt wird, was auch bedeutet, dass am Ende des Prozesses auch die Möglichkeit bestehen muss, dass sich kein Standort als geeignet erweist. Das heisst Ergebnis-offen. Nichts anderes.
Ein wissenschaftlich korrekt geführter Auswahlprozess bedingt auch, dass nicht nur Auswahl- sondern auch Ausschlusskriterien zu Beginn definiert werden und bekannte Schwächen der diversen Standorte sauber untersucht werden – eine Forderung, die vom ENSI bisher durchgehend ignoriert wurde. Vorläufig letztes Kapitel in dieser Auseinandersetzung ist das systematische Überhören der Notwendigkeit, Tiefbohrungen durch den Permokarbontrog auszuführen und die Nutzungsfragen umfassend abzuklären.
Die Grundsätze
Das Positionspapier kommt dann zu den Aufsichtsfunktionen und nennt fünf Grundsätze der Aufsichtstätigkeit.
Grundsatz 1 bezieht sich auf die Frage der Anforderungen an die Aufsicht: „Die Anforderungen an die Aufsicht im Bereich geologische Tiefenlager unterscheiden sich wesentlich von den Anforderungen, die für die Aufsicht über die in Betrieb stehenden Kernanlagen (Kernkraftwerke, Zwischenlager, Forschungsanlagen) gelten.“
Kommentar: Nein. Aufsicht ist Aufsicht und hat gleichen Grundsätzen zu folgen, ob dies nun planerische Phasen, Bau- und Betriebsphasen oder die Verschlussphase betrifft. Das ENSI hat auch keine anderen Grundsätze für die Aufsicht für den Rückbau der Werke eingeführt. Die Grundanforderungen sind immer dieselben: strategische und fachliche Kompetenz, Interessenunabhängigkeit, Eigenständigkeit, Offenheit, Kritikfähigkeit, Durchsetzungsvermögen usw. Dabei hat nukleare Sicherheit immer Priorität. All die Eigenschaften, die zur Sicherheits- und Fehlerkultur gehören, bestimmen, was Aufsicht sein soll. Gelebte Aufsicht ist hier notwendig, nicht geschwatzte oder geschriebene Absichtserklärungen.
Grundsatz 2 bezieht sich auf die Frage der Anforderungen an die Aufsicht: „Das ENSI konkretisiert die gesetzlichen Vorgaben auf Richtlinienstufe und gibt Schutzziele, Leitsätze und Sicherheitskriterien vor.“
Kommentar: Die Aufgaben werden aber nur teilweise umgesetzt. Offensichtlichstes Beispiel in Sachen Sicherheitskriterien ist das Mauern gegenüber der von vielen Seiten geäusserten Forderung, endlich verbindliche Ausschlusskriterien für den Standortwahlprozess zu definieren. Ausschlusskriterien gehören zu einem seriösen Auswahlverfahren. Einzig sie können verhindern, dass ein ungeeigneter Standort „gesund gerechnet“ wird.
Grundsatz 3 geht auf die diversen Funktionen der Entsorgungspflichtigen und der Aufsicht ein: „Die Entsorgungspflichtigen entwickeln Lösungsvorschläge für die Realisierung der Tiefenlager. Die zentrale Aufgabe des ENSI besteht darin, die vorgeschlagenen Lösungen fachtechnisch zu begutachten und dabei zu beurteilen, ob die Schutzziele, Leitsätze und Sicherheitskriterien eingehalten werden.“
Kommentar: Diese Arbeitsteilung beruht auf der naiven Vorstellung, man könne einer Industrie, die ihre Tätigkeit im Verlauf der kommenden zwei Jahrzehnten definitiv einstellen wird, die Aufgabe überlassen, Planungen über Zeiträume von einer Million Jahre auszuführen. Über Jahrzehnte hat die Nagra Projekte verfolgt, die grundlegend falsch aufgezogen waren (Anhydritprogramm, Kristallin-Programm, SMA-Projekte und Projekt Wellenberg). Der Bund hat die Stromwirtschaft immer gewähren lassen, mit den bekannten Folgen. Es ist an der Zeit, dass der Bund das Heft in Hand nimmt, die Strukturen grundlegend reformiert und die strategische Planung eines generationenübergreifenden Projektes sicherstellt, um eine korrekte Abwicklung eines wissenschaftlichen Programms zu gewährleisten. Eine de facto bankrotte Stromwirtschaft ist nicht im Stande, langfristige Entsorgungsprojekte zu entwickeln. Dass das ENSI im Juli 2017 immer noch dieses Modell verfolgt, zeigt nur auf, wie schwach, konformistisch und auf die Gegenwart und Vergangenheit ausgerichtet die Aufsichtsbehörde in Wirklichkeit ist.
Grundsatz 4 bezieht sich auf die Anspruchsgruppen im Prozess: „Das ENSI nimmt sicherheitstechnische Fragestellungen aller Anspruchsgruppen auf und berücksichtigt sicherheitsrelevante Aspekte in seiner Aufsichtstätigkeit.“
Kommentar: Wenn das ENSI etwas nicht macht, dann ist es genau dies. Wir haben in unseren Blogs unzählige Beispiele für Aufsichtsdefizite dieser Behörde aufgeführt. Aktuell stehen etwa folgende Forderungen im Raum: die Analyse der Schwachstellen der diversen Standorte und die Programme, um diese Schwachstellen abzuklären und auszuräumen; die Definition von verbindlichen Ausschlusskriterien und die Untersuchung des Permo-Karbon-Trogs.
Grundsatz 5 erläutert nochmals die Rolle in Sachen Gesetzgebung: „Gelangt das ENSI zur Auffassung, dass Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen nötig werden, informiert es die zuständigen Bundesbehörden.“
Kommentar: Es wäre vor allem am Parlament, die strukturellen Missstände in der nuklearen Entsorgung zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass endlich eine nukleare Aufsicht installiert wird, die diesen Namen verdient.
Die Unterschriften
Das Dokument ist von ENSI-Rats-Präsidentin Anne Eckhardt und Direktor Hans Wanner unterschrieben. Eine eigenartige Praxis. Aufsichtsfunktionen zu definieren ist Sache des ENSI. Der ENSI-Rat hat sich nicht inhaltlich zu diesen Fragen zu äussern, sondern soll seine Funktion als Verwaltungsrat und Überwachungsorgan des ENSI wahrnehmen. In diesem Zusammenhang hätte der ENSI-Rat schon längstens gegen die Beschneidung der Aufsichts-Kompetenzen des ENSI intervenieren müssen, indem er bei Bundesrat und UVEK vorstellig geworden wäre und dafür gesorgt hätte, dass die Aufsichtsbehörde im Rahmen des Sachplans auch verfügen kann. Auch dieses letzte Beispiel zeigt, dass die „Aufsicht“ nicht so funktioniert, wie sie sollte.
Eine kurze Schlussbetrachtung
Es ist löblich, dass das ENSI sich endlich mit seiner Aufsichtsfunktion im Bereich der Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle befasst. Dass es sich sogar den Raum für eine eigene Publikation reserviert hat, ist ebenfalls erwähnenswert. Was dabei allerdings an allgemeinen Zielen und Grundsätzen herausgekommen ist, und was Aufsicht tatsächlich leisten sollte, geht kaum über einige wenige inhaltlich wirklich überdachte Phrasen hinaus. Die Definition der Zielsetzung, welche die Aufsichtsbehörde erfüllen muss, ist völlig misslungen. Inhaltlich gleicht die Aufzählung des Pflichtenhefts einer Aufsichtsorganisation einer Wüste. Welche Aufgaben die Aufsichtsbehörde im Rahmen weitsichtiger strategischer Führung zu leisten hätte, bleibt unerwähnt. Von Sicherheitskultur kein Wort. Kein Wort zu den vielen Kriterien, welche Sicherheitskultur umschreiben, angefangen bei der Fehlerkultur bis hin zum Umgang mit Kritik. Unzählige Berichte von internationalen Organismen liegen dazu vor – kein einziges Wort ist dazu im Positionspapier vom Juli 2017 zu finden. Was unsere „Aufsichts“-Behörden leisten ist eine Zurschaustellung von Anpassung und Unterwerfung an bestehende Machtinteressen. Die dem ENSI durch das Gesetz anvertraute Funktion der Aufsicht wird mit solchen Papieren kaum verbessert. „Positiv“ daran ist höchstens der Umstand, wie durchsichtig die Überlegungen des ENSI sind und wie unprofessionell das ganze „Aufsichtswerk“ daherkommt. Ein Beispiel mehr,das zeigt, wie dringend es ist, endlich die Strukturreform der nuklearen Entsorgung anzupacken und die Verantwortungsposten mit kompetenten Personen zu besetzen.
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