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Die Mitteilung erschien am Montag den 8. Februar 2016 auf der folgenden nicht ganz einfachen Internet Adresse:
https://www.awel.zh.ch/internet/baudirektion/awel/de/energie_radioaktive_abfaelle/radioaktive_abfaelletiefenlager/ausschuss_der_kantone_sicherheit.html#title-content-internet-baudirektion-awel-de-energie_radioaktive_abfaelle-radioaktive_abfaelletiefenlager-ausschuss_der_kantone_sicherheit-jcr-content-contentPar-textimage_11
“Die Experten der Standortkantone im Sachplan Geologische Tiefenlager haben den Vorschlag der Nationalen Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) zur Einengung der möglichen Standortgebiete beurteilt. Sie kommen wie die Nagra zum Schluss, dass Wellenberg (NW/OW), Südranden (SH) und Jura-Südfuss (SO/AG) nicht weiterverfolgt werden sollen. Hingegen soll neben Jura Ost (AG) und Zürich Nordost (ZH) auch Nördlich Lägern (AG/ZH) weiter untersucht werden.
Für den Ausschuss der Kantone (AdK) mit den Regierungsvertretenden der möglichen Standortkantone und Vertretern Deutschlands steht die Sicherheit im Auswahlverfahren für geologische Tiefenlager an erster Stelle. Entsprechend wichtig sind die erdwissenschaftlichen und sicherheitstechnischen Gesichtspunkte. Vor einem Jahr reichte die Nagra in der laufenden Etappe 2 des Sachplanverfahrens ihren Vorschlag zur Einengung der sechs Standortgebiete aus Etappe 1 ein. Nach eingehender Prüfung vor allem in den Bereichen
Seismik und Tektonik, Geomechanik, Erosion und Sicherheitsanalyse haben die Experten des AdK diesen Vorschlag nun beurteilt.”
Der „Ausschuss der Kantone“ (AdK) steht unter dem Vorsitz von Regierungsrat Markus Kägi (Zürich). Dem Ausschuss angegliedert ist einerseits die „Expertengruppe Sicherheit“ (AG SiKa), bestehend aus 7 Mitgliedern, incl. ihrem Sekretär und Vorsitzenden Dr. Thomas Flüeler (AWEL, Kanton Zürich), sowie die „Kantonale Expertengruppe Sicherheit“ (KES), bestehend aus 5 erfahrenen Geowissenschaftlern und einem Spezialisten für Reaktorsicherheit. Diese Expertengruppe, verstärkt durch Prof. A. Kovàri, einem Fachmann in Felsmechanik und Geotechnik, verfasste die der Medienmitteilung der AdK zu Grunde liegenden vier Fachberichte:
- Alan G. Green: Seismic images, neotectonism and seismic hazard: Evaluation of Nagra’s Stage 2 recommendations for the High-Level Waste (HLW) siting regions [Seismikprofile, Neotektonik und Erdbebengefährdung: Beurteilung der Empfehlungen der Nagra in Bezug auf Standortgebiete für hochradioaktive Abfälle in Etappe 2].
- Kalman Kovári: Die bautechnische Machbarkeit der Lagerstollen. Einfluss der Tiefenlageauf die Langzeitsicherheit. Beurteilung der Untersuchungen der Nagra.
- Erich Müller & Stefan Schmid: Zu erwartende Erosionsprozesse in den drei möglichen Standortgebieten für hochradioaktive Abfälle (Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost).
- Bruno Baltes: Dosisberechnungen.
Die Berichte behandeln spezifische Themen zur generelle Frage, ob die Einschränkung der Nagra am Ende der Etape 2 des Sachplans geologische Tiefenlager auf die beiden Standorte Zürcher Weinland (Zürich Nord-Ost) und Bözberg (Jura Ost) gerechtfertigt ist. Dabei werden die Rahmenbedingungen der Nagra bei der Standortwahl (namentlich die Fragen der maximalen Tiefe der Lager und der möglichen Tiefenerosion durch Gletscher) hinterfragt. Auch der geologische Rahmen, wie etwa die Einschränkung des zur Verfügung stehenden Lagergebietes durch tektonische Störungen, wird neu evaluiert.
Die Schlussfolgerungen der Experten weichen teilweise signifikant von jenen der Nagra ab. Sie postulieren namentlich (Text angepasst):
- dass eine grössere Lagertiefe als die von der Nagra gesetzte Grenze bei 800 m Tiefe möglich ist,
- dass die Gletschererosion anlässlich einer kommenden Eiszeit auch anders verlaufen kann, als dies durch die Nagra postuliert wird, und somit die durch die Nagra vorgeschlagenen Standorte gefährden könnten,
- dass am Standort Lägern Nord ein grösseres Gesteinsvolumen, als von der Nagra veranschlagt, für ein Lager zur Verfügung steht.
Aus ihren Schlüssen leitet die KES ab, dass der Standort Lägern Nord am Ende des Auswahlverfahrens der Etappe 2 zu Unrecht ausschied. Sie stellt auch fest, dass die beiden durch die Nagra vorgezogenen Standorte im Vergleich zu Lägern Nord zu optimistisch beurteilt wurden. Im Bericht ist dies wie folgt formuliert:
„Verschiedene Überlegungen führen dazu, NL in Etappe 3 weiterzuverfolgen. Einerseits sind die Gründe für die Zurückstellung nicht stichhaltig: Sie fussen auf unzutreffenden Modellvorstellungen (Geomechanik) und unsicherer Datenlage (2D-Seismik). Gleichzeitig haben anderseits ZNO und JO grössere Schwächen als von der Nagra angenommen – der Erosion sind sie weit stärker ausgesetzt als NL. Da alle drei Standorte aus heutiger Sicht sicherheitstechnisch die Minimalanforderungen erfüllen, gleichzeitig aber unterschiedliche Schwächen und Stärken aufweisen, sind in Etappe 3 zwingend alle drei weiter zu untersuchen. Denn nur so kann gewährleistet werden, schliesslich den vergleichsweise sichersten Standort zur Auswahl zu haben. Dabei sollten gezielt die heute erkannten Ungewissheiten und möglichen sicherheitstechnischen Schwächen der einzelnen Standortgebiete angegangen werden. Ein solches Vorgehen ist fokussiert und effizient.“
Die Schlussfolgerungen der „Kantonale Expertengruppe Sicherheit“ (KES) bestätigen die im Expertenbericht durch Florian Amann, Simon Löw und Matthew Perras (2015) zuhanden des ENSI formulierten Reserven, was die mögliche Tiefenlage der Abfalllager betrifft. Es herrscht somit Einigkeit unter Experten, dass der Vorschlag der Nagra für die Standortwahl zu überarbeiten, auf grössere Lagertiefen und auf räumlich erweiterte potentielle Standortregionen auszuweiten ist.
Quintessenz
Es ist zu begrüssen, dass heute die Kantone bereit sind, eine Rolle in der fachlichen Begleitung des Sachplanverfahrens zu spielen. Wie der Bericht der Expertengruppe zeigt, ergänzt und verstärkt die kantonale Expertise die Überwachung der Arbeiten der Nagra durch das ENSI ganz bedeutend.
Die jetzt vorliegenden Expertisen z.Hd. der Kantone und der Bundesbehörden zeigt aber auch Lücken in der Projektbegleitung auf: Offensichtlich beschäftigt sich heute kein Sicherheitsorgan in angemessenem Mass mit der Frage der Sicherheit des Gesamtprojektes, incl. Lagerauslegung, Abfallkonditionierung, Lagerbetrieb, Projektorganisation und Finanzierung. Auch die Zeitplanung bleibt ein Schwachpunkt: korrigiert die Nagra alle von Seiten der Experten hervorgehobenen Mängel, so wird das Verfahren um weitere X Jahre verlängert, und die Kosten der nuklearen Entsorgung machen einen weiteren Sprung.
Schliesslich ist der Flurschaden nicht mehr vollständig aus der Welt zu schaffen, der durch die Fixierung der Nagra auf die beiden Standorte „Zürcher Weinland“ und „Bözberg“ entstanden ist. Dass die Nagra nach der im Oktober 2012 öffentlich bekanntgewordenen internen Aktennotiz AN11-711 weiterhin auf die gleichen beiden Standorte setzte, ist ein strategischer Fauxpas erster Güte. Sie bestätigte letztendlich mit der Medienmitteilung von Dezember 2015 und der Bekanntgabe von „weiteren Verzögerungen von ca. 2 Jahren“[2] nur, dass es ihr nie ernsthaft um diese Standortregion „Nördlich Lägern“ ging.
Mit ihrer Stellungnahme versuchen die Kantone die ramponierte Glaubwürdigkeit des Verfahrens wieder herzustellen. Dies kann aber nur dann gelingen, wenn die Weichen im weiteren Verfahren anders gestellt werden, als bisher. Erstens braucht es – wie oben aufgezeigt – eine andere Begleitung des Sachplanverfahrens durch die Prüfungsbehörden. Hier ist in erster Linie das ENSI gefordert, das durch seine zögerliche und abwartende Haltung wesentliche Verantwortung für den Flurschaden trägt, der entstanden ist. Gleiches gilt für alle Bundebehörden die im Verfahren involviert sind und den in falscher Richtung fahrenden Zug gewähren liessen. Hier ist also eine grundsätzliche Korrektur erforderlich, was Aufsicht und Aufsichtspflichten angeht.
Zweitens braucht es nun inhaltliche Korrekturen und eine Erweiterung der Untersuchungen auf weitere Bereiche, die in den bisherigen Arbeiten nicht Gegenstand von Abklärungen waren, wie etwa
- die Klärung von Verfahrensfragen, Ergänzung und Korrektur methodischer Defizite beim Auswahlverfahren, systematische Aufnahme bekannter geologischer Schwachstellen in den Standortregionen und auf die Klärung der Unsicherheiten ausgerichtete gezielte Untersuchungen (siehe Kästchen), dazu die Definition klarer Ausschlusskriterien (z.B. Abscherungshorizonte im Opalinuston, siehe Kästchen) und Priorisierung der Abklärungen usw.
- sodann die Klärung der Ressourcenkonflikte, namentlich in Bezug auf mögliche Kohlenwasserstoffvorkommen im Permo-Karbon Trog, als auch in Bezug auf die Nutzung der Erdwärme,
- die Auslegung der Anlagen, insbesondere Art, Geometrie und Bau der Zugänge (Vertikal- oder Schrägschächte, Rampen), die Dimensionierung der Betriebsanlagen und der Lagerstollen, des Pilotlagers und der Testbereiche, inklusiv Bewetterung und Abwehrmassnahmen gegen Wassereinbruch, Verstärkungsmassnahmen anderer Art als Spritzbeton, usw.
- die Abfallkonditionierung und Beladung der Lagerstollen, Rückholbarkeit im industriellen Massstab usw.
Und schliesslich: Jeder gut geführte Prozess braucht regelmässige Standortbestimmungen. In diesem Fall ist eine solche angezeigt. Es braucht wieder eine Reflexion, wo und warum man gerade da steht. Der gleichen Überlegung liegen beispielsweise die Überprüfung des Entsorgungsprogramms mit den Realisierungszeitplänen oder die Kostenüberprüfungen zugrunde. In der gegenwärtigen Situation, in der sich das Sachplanverfahren befindet, gehört eine solche Analyse ausgeführt. Sie sollte aufzeigen, wie der Prozess weitergeführt werden soll und wo Anpassungen und Verbesserungen notwendig sind. Eine Prise Selbstkritik würde dem Verfahren und dem Anspruch, eine Fehlerkultur auch zu leben, gut tun, auch wenn die alemannische Seele Mühe mit dem Eingestehen von Fehlern hat.
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Kästchen: Vorfaltenzone und Abscherhorizonte im Opalinuston
Die Bedenken der verschiedenen Geologen, Felsmechaniker oder Ingenieure zur geologischen Situation des Gebiets „Nördlich Lägern“ und zur „bautechnischen Machbarkeit“ sollten auch in Zusammenhang mit den heutigen geologischen und tektonischen Kenntnissen des Gebietes betrachtet werden. Das Gebiet „Nördlich Lägern“ liegt geologisch in der sogenannten Vorfaltenzone des Juras, jener Zone also, die durch die Auffaltung der Alpen und dem Druck, welcher dieser Vorgang bis in den Bereich der Nordschweiz ausübte, betroffen ist. „Nördlich Lägern“ liegt nach heutigem Stand der Kenntnisse de facto vollflächig über dem Permo-Karbo-Trog mit seinen randbegrenzenden Störungszonen (Figuren K1, K2 und K3). Darüber und nördlich der Lägern-Kette sind die Gesteinsschichten leicht verfaltet oder gewölbt (siehe Figur K2). Die Nagra hat aufgrund ihrer Untersuchungen in diesem Gebiet stets die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass der Opalinuston in diese Faltungen mit einbezogen worden sein konnte (Figuren K3 und K4). Sie wies dazu in ihrem Bericht aus dem Jahre 1994 auf die „Abscherhorizonte und Überschiebungen“ in diesem Gebiet hin (Nagra 1994, S. 10), welche auch auf Profilen eingezeichnet sind (siehe Figuren K3 und K4, aus Nagra 1994). Und hielt fest: „Die Zerscherung des Mesozoikums erfolgte in verschiedenen dafür geeigneten Niveaus. Neben den durch die Schichtreihen aufsteigenden Rampen und Überschiebungen (jault propagation fold) muss auch mit schichtparallelen Abscherniveaus im Gefolge von faultbend folds gerechnet werden; hier bildet insbesondere auch der Opalinuston ein potentielles Abscherniveau. Solche schichtparallelen Scherflächen können seismisch nicht kartiert werden.“ (Nagra 1994, S: 32)
In späteren Publikationen der Nagra, insbesondere in Zusammenhang mit den Planung der Arbeiten der Etappe 3 des Sachplanverfahrens, wurden ähnliche Phänomene auch für das Standortgebiet Bözberg beschrieben: „Wie im Nahbereich des Faltenjuras durchaus zu erwarten und bereits aufgrund von Untersuchungen von sprödtektonischen Strukturen in Geländeaufschlüssen vermutet, ergeben sich aus den seismischen Daten vereinzelte Hinweise auf eine lokale Beanspruchung des Wirtgesteins als sekündärer Abscherhorizont in Form sehr flach einfallender Überschiebungen“ (Nagra 2014, S. 38).
Abscherhorizonte im Opalinuston sind de facto ein „Todesurteil“ für die Eignung eines Standorts, zumindest für hochaktive Endlager. Darum sind gezielte Untersuchungen durch Bohrungen in Gebieten, wo Abscherungen oder Verdickungen im Opalinuston vermutet werden, zwingend und unerlässlich. Diese Position wurde bereits in frühen Phasen des Sachplanprozesses vertreten, etwa an einer mit harten Bandagen geführten Diskussion im Technischen Forum im Dezember 2011.
Es ist deshalb von grosser Bedeutung, Ordnung in den Untersuchungsablauf des Verfahrens und der Untersuchungen zu bringen. Als erstes gehört die Klarheit des Gedankens und damit die Logik und Stringenz des Vorgehens. Es ist notwendig ein Verfahren zu skizzieren, wie mit einem gezielten und daher auch wirtschaftlichen Aufwand Schlüsseldaten zur Standortqualität gefördert werden können.[3] Es geht darum sicherzustellen, dass die wissenschaftliche Qualität der Standortwahlprozedur gewährleistet ist. Dazu gehört das Eingeständnis, dass das Verfahren ergebnisoffen ist, also ein absolut negatives Ergebnis („worst case“) bei der gegenwärtigen Standortwahl grundsätzlich möglich ist. Sodann ist ein Ablauf bei der Erkundung der vorgeschlagenen Standorte zu leisten. Dieses Verfahren schliesst die gezielte Auflistung bekannter geologischer Schwachstellen mit ein sowie die Definition von eindeutigen Killer-Kriterien. Dazu gehört auch die Frage nach Abscherhorizonten im Opalinuston. Mit einer oder maximal wenigen Bohrungen in Bereichen, wo solche Phänomene vermutet werden, kann Klarheit über die Standorteignung bezüglich dieses Kriteriums geschaffen werden. Es gehört zum wissenschaftlichen Vorgehen und zur Glaubwürdigkeit des Verfahrens, dass die vermuteten Schwachstellen möglichst gezielt und rasch ausgeräumt werden, auch wenn die entsprechenden Standorte dann aus dem Suchverfahren fallen. Beim Gebiet „Nördlich Lägern“ besteht tatsächlich die Befürchtung, dass dieses Szenario zutreffen könnte.
Figur K1: Regionale strukturgeologische Übersicht, aus Nagra (2002): Projekt Opalinuston, Synthese der geowissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse, NTB 02-03, Dezember 2002, S. 18
Figur K2: Geologisches Profil im Bereich der Vorfaltenzone, aus Nagra NTB 02-03, S. 80. Man beachte die roten gestrichelten flachen Linien (mögliche Abscherungshorizonte) im violetten Opalinuston
Figur K3: Strukturkarte in den Gebieten „Nördlich Lägern“ und „Weinland“, aus aus Nagra (1994): Sedimentstudie, Zwischenbericht 1993, NTB 94-10, August 1994, Anhang 7
Figur K4: Seismisches Profil mit interpretierten Störungszonen sowie Abscherungshorizonten und Verdickungen des Opalinistons, aus Nagra (1994): Sedimentstudie, Zwischenbericht 1993, NTB 94-10, August 1994, Figur A.7.4
Referenz
Florian Amann, Simon Löw & Matthew Perras2015: Sachplan Geologische Tiefenlager, Etappe 2. Assessment of Geomechanical Properties, Maximum Depth below Ground Surface and EDZ Impact on long Term Safety. ENSI Report 33-460, 2015
[1] 2 x 2: 2 Standorte mit je einem Tiefenlager für schwach- und mittelaktive (SMA) und hochaktive (HAA) Abfälle.
[2] https://www.nagra.ch/de/news/medienmitteilungdetail/erarbeitung-der-zusatzdokumentation-bis-mitte-2016.htm
[3] Die bisherigen Ausgaben für die Standortwahl von rund 1.3 Milliarden Franken sind Ausdruck für ein schlecht geplantes und wirtschaftlich schlecht begründbares Vorgehen
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