Im Brennstoffkreislauf kommen wir nach den Uranlagerstätten und –mühlen mit ihren Halden, der Anreicherung und der Herstellung des Brennstoffs und dem Einsatz im Reaktor zu den Produkten, die man als Abfälle wahrnimmt (siehe dazu unser Blog vom 11. Januar). Nach dem Entladen der abgebrannten Brennelemente aus dem Reaktor stehen zwei Wege offen:
- Die direkte Konditionierung (Verpackung) der abgebrannten Brennelemente, Zwischenlagerung und spätere Einbringung in ein geologisches Tiefenlager. Diese sogenannte „Direktlagerung“ betrifft in der Schweiz gemäss nagra.ch voraussichtlich etwa 70 % der bis zum Ende der Nutzung der Kernkraftwerke anfallenden abgebrannten Brennstäbe. Wir werden in einem späteren Beitrag auf die verschiedenen Aspekte dieser Lagerung eingehen.
- Die Wiederaufbereitung, zur weitern Verwendung der in den Brennstäben noch enthaltenen Kernbrennstoffe. Die Wiederaufbereitung betrifft etwa 30% der Brennstäbe aus den schweizerischen Kernkraftwerke. Sie ist seit Einführung des Kernenergiegesetzes (KEG 2003) für Abfälle aus schweizerischen Kernkraftwerken untersagt, ist aber für ältere Brennelemente noch im Gange.
Wiederaufbereitung
Nach dem Entladen der Brennelemente geht die Reise via Abklingbecken und jahrelanger Kühlung in speziell eingerichteten Wasserbecken in die Wiederaufarbeitungsanlage, wo die Extraktion der effektiv wieder verwendbaren Elemente – Uran und Plutonium – erfolgt.
Man muss sich bewusst sein, dass die gesamte Grundkonzeption des Brennstoffkreislaufs in die frühe Entwicklungszeit des Atombombenbaus – und ganz konkret in die Zeit des Manhattan-Projekts – zurückgeht. In seinen Memoiren „The fist nuclear era“ schreibt Alvin Weinberg, einer der Architekten des künftigen Nuklearprogramms über die Konzeption des Brüters in den Jahren unmittelbar vor Ende des zweiten Weltkriegs: „Verrückte und nicht ganz so verrückte Ideen sprudelten hoch, so viele vermutlich weil das gesamte Gebiet noch unerforscht war – wir waren wie Kinder in einer Spielzeugfabrik. Innerhalb eines Zeitraums von etwa einem Jahr, von Frühling 1944 bis Frühling 1945 wurden viele der Konzepte geboren, die zur späteren Nukleartechnik geführt haben.“[1] Dazu gehörte auch der Brüter, eine Konzeption die von Enrico Fermi und Leo Szilard, zwei der „Giganten“ unter den Atomphysikern, getragen wurde und die darauf beruhte, mehr Brennstoff zu erbrüten, als in einem Reaktor tatsächlich verwendet wird.
In industriellem Massstab war die chemische Extraktion von Plutonium und Uran ja bereits in den amerikanischen Fabriken für den Bau der Atombombe umgesetzt worden. Nun sollte die gleiche Technologie – die abgekürzt als PUREX-Extraktion bekannt ist – auch bei der Entwicklung des zivilen nuklearen Brennstoffkreislaufs eingesetzt werden. Die chemische Extraktion von Uran und Plutonium erfolgt über ein mehrstufiges Verfahren, bei dem die bestrahlten Brennelemente zerschnitten, in Säuren aufgelöst und die beiden Elemente mit Hilfe eines Extraktionsmittels „abgesogen“ werden. Ein Phosphorsäureester (Tributylphosphat TBT) wird als Extraktionsmittel eingesetzt. Die Auflösung des abgebrannten Brennstoffs erfolgt in heisser Salpetersäure. Die Abtrennung ist aber nicht vollständig, so dass sich in der „Restsuppe“ , die oft über lange Jahre in speziellen Stahltanks gelagert wurde oder wird, eine Mischung aus Salzen, organischen Verbindungen und radioaktiven Stoffen konzentriert. Die Behandlungs- und Abtrennungsschritte separieren dann die ursprünglich in den Brennelementen enthaltenen Spaltprodukte und Transurane mehrheitlich, doch es verbleiben in den Restlösungen signifikante Mengen an langlebigen Radioisotopen, welche in keinem Fall rezyklierbar sind. Damit sind wir bei der dritten Kategorie von Abfällen, die wir im Rahmen unserer Ausführungen kurz behandeln wollen, die Wiederaufbereitungsabfälle.
Abfälle aus der Wiederaufarbeitung (insbesondere TRU-Wastes)
Wir haben schon im ersten Teil unseres Beitrags kurz auf die hoch radioaktiven Abfallprodukte aus der Wiederaufarbeitung hingewiesen, die in Glaskokillen eingeschmolzen werden. Sie enthalten die meisten radioaktiven Stoffe, die als Abfall betrachtet werden. Darunter sind auch einige Edelmetalle wie Palladium, Rhodium und Ruthenium, die aber aus diversen Gründen (Sicherheit bei Palladium, Kosten) nicht abgetrennt werden. Dieses Inventar, das v.a. aus Spaltprodukten, Uran und Plutoniumresten sowie Transuranen besteht, enthält auch noch einzelne metallische Komponenten (z.B. Zircaloy). Die genauere Zusammensetzung dieser WA-F-KG-K1-HAA und WA-U-KG-K1-HAA genannten 180 l-Kokillen mit verglasten Abfällen ist dem Inventar der Nagra zu entnehmen.[2]
Eine Wiederaufarbeitungsanlage ist eine komplexe technische Fabrik mit einer Vielzahl von Komponenten und Prozessen. Neue Abfälle entstehen in diesen Anlagen bei den Schneidprozessen für abgebrannte Brennelemente, bei deren Auflösung in heissen Säuren, bei der Extraktion von Uran und Plutonium, bei deren Lagerung und den folgenden Arbeitsschritten, d.h. der Eindampfung der Restlösung, der Behandlung und Verglasung in der „heissen Zelle“ usw. Hinzu kommen die üblichen Betriebsabfälle, die bei solchen Prozessen anfallen, also kontaminierte Anlagenteile, Werkzeuge, Schutzkleidung usw. (siehe unten).
Und „last but not least“ sind alle Gase, Aerosole und Flüssigkeiten, welche radioaktiv belastet sind, den Abfällen zuzurechnen, obschon diese direkt an die Umwelt (Luft, Wasser) abgegeben und dort verdünnt werden und nicht in den Abfallbilanzen der Endlagerung erscheinen. Die Aktivitäten, die über die verschiedenen Radioanuklide dabei an die Umwelt abgegeben werden, gehen für Anlagen wie Sellafield/Windscale (Grossbritanien) oder La Hague (Frankreich) in die Millionen und Abermillionen von Curies. In diesen Zahlen sind Aktivitäten kurzlebiger Radionuklide (Krypton 85, Tritium, alle Jod-Isotopen mit Ausnahme des Iod 129 usw.) wie auch in geringeren Mengen langlebige Radionuklide (Iod 129, Transurane, aber auch Kohlenstoff 14) inbegriffen.
Nicht alle Abfälle aus der Wiederaufarbeitung kommen in die Schweiz zurück. Es sind dies – laut Inventar MIRAM (2014, S. A-3/A-4) – die Kategorien „verpresste Metallabfälle AREVA (CSD-C) in 180 l-Kokillen“ und „verglaste Schlämme MAA Areva (CSD-B) in 180 l-Kokille“, insgesamt weniger als 600 Gebinde mit Gesamtaktivitäten von ca. 4 x 10-16 Bq (ca. 1 Millionen Curie). Die anderen Betriebsabfälle werden durch die Wiederaufarbeitungsanlage anderweitig entsorgt. Viele der extrem lästigen Abfälle aus dem Wiederaufarbeitungsprozess kommen also nicht in die Schweiz zurück.
Betriebsabfälle aus dem Brennelementzyklus (By-products)
Bei Atomkraftwerken, Wiederaufarbeitungsanlagen oder anderen nuklearen Anlagen Anlagen, hängt die Abfallzusammensetzung von der eingesetzten Technik mit den spezifischen betrieblichen Eigenheiten und vom Umgang mit den Abfällen ab. Dies betrifft letztendlich auch den Abbruch dieser Anlagen, wie auch die Zwischenlagerung und die Konditionierungsanlagen, sowie deren Abbruch. Bei all diesen Anlagen fallen nicht nur radioaktive Stoffe an, sondern auch andere Stoffe und Elemente, die mit den Radioisotopen vermischt zum Abfall zählen. Die Abfallgemische werden in relativ wenige Kategorien unterteilt, teilweise mit spezifischen Konditionierungsmitteln, Verpackungen und Gebindegrössen. Gerade die Verpackung der Abfälle legt aufgrund der gewählten Materialien und Grössen und der Vielfalt der dabei eingesetzten Stoffe bereits gewisse Rahmenbedingungen für das Endlager fest. Dieser Faktor wird in einem unserer nächsten Beiträge analysiert werden.
Mehrheitlich handelt es sich bei den oben beschriebenen Abfällen um solche mit reduziertem Inventar, die bezüglich ihrer Aktivität und den Zerfallseigenschaften der Radionuklide zu den schwach- und mittelaktiven Abfällen zählen. Hier einige Beispiele aus Kernkraftwerken der Schweiz (Gösgen, Beznau, Mühleberg, Leibstadt): „Filtermaterial KKG in 200 l-Fass“, „Schlämme KKM in 200 l-Fass“, „Edelstahlabfälle KKL in Lagercontainer LC84“, „Reaktoreinbauten KKL in Lagerbehälter Mosaik-II“, „Harze KKG bituminiert in 1m3-BC Betoncontainer“, „Harze KKB in Lagerbehälter Mosaik-II“, usw., usf.[3] Diese Vielzahl von schwach- und mittelaktiven Abfällen und Abfallsorten sind auch für andere Anlagen zu erwarten.
Das Abfallsammelsurium mit einer Vielzahl von anorganischen und teilweise auch organischen Stoffen baut damit ein Substrat auf, das – bei Einlagerung in ein Endlager und im Verlauf des Lagerprozesses – chemisch, physikalisch und/oder biologisch reagieren kann und wird. Das Sammelsurium entspricht in seiner Vielfalt jenem Inventar, das auch in konventionellen reaktiven Deponien zur Ablagerung kommt: eine Mischung unterschiedlichster Stoffe. Konkret soll also eine reaktive Masse von Abfällen und Abfallgebinden mit spezifischen Eigenschaften in ein Endlager eingelagert werden. Bei den schwach- und mittelaktiven Abfällen sieht die Nagra eine Kompartimentierung in einzelne Lagerbereiche vor, die wir ebenfalls in einem weiteren Beitrag erläutern werden.
Zum Abschluss sollen noch zwei weitere Abfalltypen in dieser Gruppe kurz erwähnt werden:
- Abfälle mit hohen brennbaren Anteilen, die in die Plasma Verbrennungsanlage des Zwilag Eingang finden und dort behandelt werden. Nach Behandlung und massiver Volumenreduktion, mit entsprechenden Abgaben von Aerosolen an die Umwelt, finden sich die erwähnten Radionuklide in der Schlacke der Plasmaanlage wieder, die in 200 l-Fässer abgefüllt wird.
- Unfälle, v.a. die Kernschmelze im Versuchskraftwerk Lucens, hinterliessen ein weiteres Gemisch von Abfällen, das unter der Bezeichnung „Lucens-Abfälle [ATA]“ / „SA-LU-MX-L3-ATA“ im Zwilag auf seine Endlagerung wartet.
Abfälle aus der technologischen Entwicklungsschiene – der sogenannte „Rest“
Beim sogenannten „Rest“ handelt es sich um das Sammelsurium verschiedenster Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF). Die Palette ist ausserordentlich breit und geht vom Bergbau, der Kohleindustrie, der Düngemittelindustrie, Giessereisanden, Phosphatrückständen, Forschungsabfällen aus dem CERN und dem Paul-Scherrer-Institut, Beschleuniger- und andere Abfälle aus der Forschung bis hin zur Uhrenindustrie, zu Rauchmeldern, alten Gegenständen aus früheren Anwendungen (Radiumnadeln, Gläser, Blitzableiter usw.) oder Industriealtlasten. Im medizinischen Bereich ist eine weitere breite Stoffpalette bei der diagnostischen und therapeutischen Medizin zu finden. Die Anwendung dieser Geräte und Stoffe wurde zu Beginn ihrer Nutzung völlig unterschätzt, wie ein kurzer Blick auf die Geschichte zeigt (siehe dazu Kästchen 1).
Die Vielfalt der Abfälle und die unterschiedlich angewendeten Verfahren zu ihrer Konditionierung sowie letztendlich auch die gesamten Volumen zeigen, dass dieser sogenannte „Rest“ alles andere als vernachlässigbar ist, weder was die Mengen anbelangt, noch das darin vorkommende Inventar. Was besonders ins Auge fällt ist, dass dieser „Rest“ von der Vielfalt der vorkommenden Radionuklide wie auch der Trägermaterialien die weitaus breiteste und „bunteste“ Mischung darstellt. Die „Restabfälle“ stellen eine Herausforderung für die Planung von Endlagern dar, ungeachtet dessen, dass das darin enthaltene radioaktive Inventar begrenzt ist.
Abfallkategorien für die Endlagerung: ein kurzes Fazit
Mit Ausnahme der Abraum-Halden, die bei den Bergwerken und Mühlen liegen, werden alle anderen Abfälle in Lagerkategorien eingeteilt. Die Praxis hat sich dabei etabliert, folgende „Abfallkategorien“ zu unterscheiden, die sich aus den oben kurz beschriebenen Typen zusammensetzen:
- hochradioaktive Abfälle, die in erster Linie abgebrannte Brennelemente und verglaste Abfälle aus der Wiederaufarbeitung enthalten
- langlebige mittelaktive Abfälle, die vor allem mit sogenannten Transuranen mit sehr langen Halbwertszeiten kontaminiert sind und daher ebenfalls über sehr lange Zeiträume von der Umwelt abgesondert werden müssen (ATA-Abfälle aus der Wiederaufarbeitung oder aus Unfällen [Atomkraftwerk Lucens])
- mittel- und schwachaktive Abfälle (sogenannte by-products) der Produktionsprozesse und der Anwendungen in Medizin, Industrie und Forschung
Möglicherweise werden Abfälle mit sehr kurzer Lagerdauer – etwa 200 bis 300 Jahre bis zum Erreichen der Freigrenzen – in der Zukunft aus dem Inventar genommen und in Kavernen gelagert („gehütet“).[4]
Die oben genannten Abfallkategorien enthalten aber nicht alle der vielen und vielfältigen Abfälle, die bei der Betrachtung des Brennstoffkreislaufs zu betrachten sind. So wird das grosse Problem der Abfallhalden („tailings“) sehr oft in der Debatte um die Endlagerung von Abfällen aus dem Brennstoffkreislauf vergessen. Die Verantwortlichkeit für den nachhaltigen Umgang mit diesen strahlenden Halden wird der Zukunft überlassen. Auch die Abfälle aus den Uran-Anreicherungsprozessen mit hunderttausenden und aberhunderttausenden von Tonnen an abgereichertem Uran werden gerne ausgeblendet. Eine gesamtheitliche Betrachtung des gesamten Brennstoffkreislaufs würde das ganze Ausmass der Abfallproblematik erkennbar machen – und auch den Wahnsinn des Unternehmens „Kernenergie“ (siehe Kästchen 2). Wir werden in zwei weiteren Beiträgen die Eigenschaften der Gesamtpalette dieser Abfälle ausleuchten, was ihre Bedeutung für die Endlagerung anbelangt.
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Kästchen 1: Ein Blick zurück
Wie so oft bei grossen technischen Entwicklungssprüngen, löste auch die Entdeckung der Röntgenstrahlung Ende des neunzehnten Jahrhunderts einen Forschungsboom aus, der seinesgleichen sucht. Die 1895 entdeckten Röntgenstrahlen wurden von der Ärzteschaft in Europa und Amerika sogleich für Therapien in „Beschlag“ genommen, häufig mit katastrophalen Folgen für Patienten wie Röntgenärzte und –personal. Alles was behandelt werden konnte, wurde behandelt: Schwindsucht, Tuberkulose, Blindheit, Tumore usw.[5] Dementsprechend grassierten auch die ersten Strahlenschäden unter Patienten, Ärzten und ihren Mitarbeiterinnen. Friedrich Clausen, einem der renommierteren deutscher Ärzte der frühzeitig mit Strahlen experimentierte, mussten mehrere Finger und schliesslich auch die rechte Hand amputiert werden. Er verstarb im Jahr 1900.[6] Ein Gedenkstein im Garten des St-Georg Krankenhauses zu Hamburg (Fig. 1) erinnert an 160 verstorbene Ärzte, Wissenschaftler, Techniker und Röntgenpersonal aus dieser Pionierzeit und zeugt vom damaligen Umgang mit der neuen Technik. Der Schriftsteller Ernst Weiss verarbeitete das Thema in seinem 1913 bei S. Fischer erschienenen Roman „Die Galeere“.
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Kästchen 2: Ausblick
Es ist doch eindrücklich, was die Menschheit bei der Entwicklung der Atomtechnologie innerhalb von nur zwei Generationen angehäuft und liegengelassen oder der Obhut von Zwischenlagern übergeben hat. Das ursprünglich so überzeugende Konzept des Brennstoffkreislaufs hat sich als nicht oder als nur beschränkt umsetzbar erwiesen – die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu nennen sind insbesondere die komplexe Technik, die hohen Risiken und die explodierenden Kosten für Entwicklung und Umsetzung. Die vielen Projekt- und Umsetzungsruinen weltweit zeugen von einer Geschichte, die als gescheitert bezeichnet werden muss, auch wenn dies die Atomindustrie partout noch nicht eingestehen will. Immerhin musste sie dabei zugeben, dass sie ein ernstes und dauerhaftes Problem mit ihren Abfällen hat. Hören wir uns Alvin Weinbergs Urteil Anfang der 1990er Jahre dazu an: „Dass es der Nuklearindustrie heute schlecht geht, ist eine Enttäuschung. Auf jeder Stufe dieser 50“ (Entwicklungs)-„Jahre wurden Beschlüsse gefasst, die in der Regel vernünftig waren. Sicher, im Nachhinein hätten wir es besser machen können – insbesondere bei der Entsorgung und der Reaktorsicherheit. Aber uns jetzt dafür Vorwürfe zu machen, keine hundertprozentige Voraussicht gehabt zu haben, wäre töricht. Unser Erfolg – 17% des weltweiten Stromaufkommens aus der Kernspaltung – kann uns niemand wegnehmen.“[7] Das war vor mehr als 20 Jahren. Inzwischen beträgt der Anteil der Kernenergie (2014) gerade nur noch 12% gemäss Angaben der schweizerischen Atombranche.[8] Tendenz sinkend (Fig. 2).[9]
Vor allem im letzten Jahrzehnt hat das Nuklearbusiness wieder vermehrt damit begonnen, neue Traumwelten zu erschaffen, die von Laufwellenreaktoren bis zur Spallation und Transmutation von hochaktiven Abfällen gehen. Wir werden uns in einer späteren Beitragsserie diesen Fragen annehmen. Etwas aber sei schon hier gesagt: auch diese neuen Entwicklungsideen folgen dem gleichen Schema, das schon in der Vergangenheit angewendet wurde, und das als missraten und darum auch als verantwortungslos bezeichnet werden muss: den Erfolg einer Technik in die weite Zukunft zu träumen und dabei massive Probleme für die nächsten Generationen zu akkumulieren. Es mag zwar berauschend sein, von der Zukunft zu schwärmen und einer hochkomplexen, vernetzten und ineinander verschachtelten Technik. Aber Entwicklungs-Zeitspannen vorzusehen, die Jahrzehnte und Jahrzehnte voraussetzen, bis diese Technik ihre industrielle Reife erreicht hat, ist vermessen, und ganz besonders dann, wenn dabei grundsätzliche Anforderung zur Stabilität der Gesellschaft vorausgesetzt werden, wie sie derselbe Alvin Weinberg bereits in seinem berühmten Aufsatz von 1972 zu den „Atompriesterschaften“ einforderte: [10] den Träumereien eines 1000-jährigen Reichs der Stabilität. Inzwischen liegt oder steht der Abfallhaufen da, wächst und wächst weiter, und Entscheide werden in einer veradministrierten Welt vor sich hergeschoben.
Programme wie die Atomtechnologie sind extrem anfällig auf technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen. Gerade in einer sich immer schneller drehenden Welt, haben solche Techniken, die eine extreme Kontinuität bei der Umsetzung wie auch beim Geldfluss voraussetzen, keine Chancen zu überleben. Denn kulturellen Präferenzen und Wünsche lassen sich – wie ein Blick auf die Geschichte zeigt – nicht über Generationen aufrechterhalten. Aus diesem Blickwinkel ist das Legat, das die atomnutzenden Generationen ihren Nachkommen überlassen, besonders schwer. Und das vor allem, wenn Zeugnisse der Vergangenheit über die Einschätzung der Risiken der nuklearen Entsorgung in Erinnerung gerufen werden. Etwa jenes von Enrico Fermi, der 1944 vor der mangelnden Akzeptanz dieser Technik durch die Öffentlichkeit gewarnt hatte.[11] Oder das Zeugnis von James Conant, Präsident Roosevelts Berater in Atomfragen und späterer Harvard-Präsident, der 1952 vorhergesagt, dass sich die Welt von der Atomenergie abwenden würde, weil sich das Abfallproblem als unlösbar herausstellen würde.[12] Das Atom trägt in seinen Glaubensbekenntnissen eben religiöse (und ideologische!) Züge,[13] wie dies auch Eduard Kiener, ehemaliger Direktor des Bundesamts für Energie, in einem berühmt gewordenen Statement 1979 äusserte: „Sicherlich ist das Abfallproblem heute in der Schweiz noch nicht gelöst. Was wir aber glauben, – Sie werden sagen: ‚Glauben macht selig? – ist, dass das Abfallproblem notfalls auch in der Schweiz lösbar ist.“[14]
Links und Referenzen
https://www-pub.iaea.org/MTCD/publications/PDF/te_1538_web.pdf
https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_waste_types
[1] Weinberg, Alvin (1994): The First Nuclear Era, The Life and Times of a Nuclear Fixer, AIP Press New York, S. 38-39
[2] Nagra (2014): Modellhaftes Inventar für radioaktive Materialien MIRAM 14, NTB 14-04, Dezember 2014, siehe Seiten A-3 und B-23.ff
[3] Nagra (2014), op.cit.
[4] Buser M. (2014) Hüten oder Endlagern, Eine Standortbestimmung 2014, ENSI Brugg, https://www.ensi.ch/de/dokumente/hueten-versus-endlagern-eine-standortbestimmung-2014/
[5] Glasser, Otto (1931): Wilhelm Konrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen, Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH, S. 215.ff.
[6] Geyer, Petra Sonja (2003): Strahlenschutz und Strahlenschäden beim Umgang mit Röntgenstrahlen in der Veterinärröntgenologie, Eine Untersuchung der deutsch- und englischsprachigen Literatur unter Berücksichtigung der aktuellen Röntgenverordnung, Inaugural-Dissertation, Freien Universität Berlin, Journal Nr. 2704, S. 17
[7] Weinberg, op. cit., S. 281: „That nuclear has fallen on bad days is a disappointment. At each stage of these 50 years, decisions were taken that were generally reasonable. To be sure, with hindsight we might have done better – particularly with waste disposal and with reactor safety. But to berate ourselves for not having 20-20 foresight is fatuous. Our achievement, 17% of the world’s electricity from nuclear fission, can never be taken away.“
[8] https://www.kernenergie.ch/de/strom-aus-kernenergie/kernenergie-weltweit.html (16.01.2016)
[9] https://www.worldnuclearreport.org (16.01.2016)
[10] Weinberg, Alvin (1972): Social institutions and nuclear energy, Science, Vol. 177, 7. July 1972
[11] Weinberg, op. cit. S. 41: „Es ist nicht sicher, dass die Öffentlichkeit eine Energietechnik akzeptieren wird, die so viel Radioaktivität produziert und die dem Abzweigen von Material für Bomben ausgesetzt ist“. („It is not clear …. that the public will accept an energy source that produces this much radioactivity and that can be subject to diversion of materials for bombs.“)
[12] Shrader-Frechette, Karen (1993): Burying Uncertainty, Risk and the Case against Geological Disposal of Nuclear Waste, University of California Press, S. 213
[13] Ford, Daniel (1982): The Cult of the Atom, The Secret Papers of the Atomic Energy Commission, Simon & Schuster New York
[14] Schweizerische Energie-Stiftung (1979): Atomgesetzrevision durchleuchtet – Ein Hearing, SES Report 7, S. 88
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