
Die Fakten
Von November 2008 bis August 2016 wurde das Kernkraftwerk Leibstadt unter Störfallbedingungen gemäss der „International Nuclear Event Scale“ (INES) betrieben. Für das ENSI bedeutet dies (www.ensi.ch): “Ein Störfall ist ein Ereignis, bei dem eine Anlage vom bestimmungsgemässen Betrieb abweicht und ihre Sicherheit beeinträchtigt wird.“
Das erste der INES-klassierten Ereignisse wurde im November 2008 ausgelöst und am 24. Juni 2014 entdeckt (unser Blog vom 2. Oktober 2015). Unter dem Kosenamen „KKL: Beschädigung am Primärcontainment vom 24. Juni 2014“ wird auf dem ENSI-Website beschrieben, wie im Kernkraftwerk Leibstadt eine Halterung für Feuerlöscher an der Aussenseite des Reaktorcontainments befestigt und hierbei die Schutzwand durchbohrt worden war. Die Fehlmontage wurde bei einer Begehung am 14. Juni 2014 festgestellt[1]. Man muss also davon ausgehen, dass weder der Betreiber noch das ENSI die korrekte Ausführung der Arbeit kontrolliert hatten. Ein Aufsichts- und Kontrolldefizit über 6 Jahre! Während sechs langen Jahren also hatte die Aufsichtsbehörde diesen Mangel an einer zentralen Sicherheitseinrichtung nicht bemerkt und auf die Selbstkontrolle des Betreibers vertraut.
Das zweite INES-klassierte Ereignis betrifft „Filmsieden“ und „Dryout“, also mangelhafte Kühlung der Reaktor-Brennstäbe bei Leistungsbetrieb. Gemäss ENSI[2] funktionierte das KKL von 2010-2011 bis August 2016 unter diesem Zustand, welcher gemäss INES ebenfalls als Störfall qualifiziert ist.
Insgesamt lief das Kernkraftwerk also während annähernd 8 Jahren nach international anerkannten Massstäben unter Bedingungen beeinträchtigter Sicherheit.
Die Verantwortung für diesen Zustand tragen:
- Der Betreiber KKL
- Das ENSI als Aufsichtsbehörde und
- Im Sinne einer Mitverantwortung für die Stützung eines nicht funktionierenden Aufsichtssystems auch die Internationale Atomenergie-Agentur IAEA, welche im Rahmen ihrer IRRS-Missionen 2011 und 2015 dem Bundesrat de facto empfahl, das Vieraugen-Kontrollprinzip aufzugeben, entgegen den Beschlüssen des Parlaments.
Beide Ereignisse zeigen die Kontroll- und Aufsichtsdefizite von Betreiber und Aufsichtsbehörde deutlich auf:
- Die Durchbohrungen liegen an einem vielbegangenen Ort. Der Fehler bei den durch externe Arbeiter durchgeführten Arbeiten, hätte sowohl durch das Personal des KKL, als auch durch ENSI-Inspektoren schon im Jahr 2008 entdeckt werden müssen.
- Der Siedezustand eines Reaktors wird über die sogenannte „Critical Power Ratio“ (CPR), permanent überwacht. Offensichtlich geschah hier ein Rechenfehler oder Modellfehler, der sich offensichtlich erst durch die materiellen Oxidationsschäden im Jahr 2016 selbst verriet.
Das Selbstbild der Überwachungsbehörde
“Das Ziel der nuklearen Sicherheit ist es, den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung zu schützen” (ENSI 2014).[3]
Nun, auf welche Weise der ENSI-Direktor seine Aufsicht gemäss Artikel 72 des KEG wahrnehmen will, erklärte Direktor Hans Wanner auf dem Web-Site des ENSI im Sommer 2012 wie folgt[4].
Zitat: „Die Frage ist, welche Arbeitshypothese wir unserer Aufsichtsfunktion zugrunde legen. Zwei Varianten stehen zur Wahl: Entweder „Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher“ oder „die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich unsicher.“ Wir gehen, wie ich schon verschiedentlich dargelegt habe, von der ersten Arbeitshypothese aus, die wir in einem laufenden internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten untermauern.“
Dass dies wohl nicht reicht, hat das ENSI in Leibstadt selbst bewiesen! Die Vorkommnisse in Leibstadt zeigen aber auch auf, dass das von der Internationalen Atomenergie-Agentur vertretene Betreiber-Aufsichts-Modell elementaren Sicherheitsanforderungen nicht genügt. Schon die Katastrophe um Fukushima hatte das verfilzte Systeme im Nuklearbereich vor Augen geführt, und zwar in einem offiziellen Bericht des japanischen Parlaments.[5] Eine kompetent besetzte und unabhängige Aufsicht der Aufsicht ist erforderlich, um dem „Copinage“ oder der „Amigo-Kultur“ Riegel zu schieben. Warum wohl wurden Finanzkontrollen bei staatlichen Institutionen installiert? Oder eine Bundesanwaltschaft? Genau aus dem Grund, die Behörden oder Administrationen in spezifischen Bereichen extern zu kontrollieren. Und ausgerechnet in einem Hochrisikobereich wie der Kernenergie wird die Aufsicht der Überwachungsbehörde torpediert beziehungsweise abgeschafft.
Energiewende 2050: Das Parlament spielt „Blinde Kuh“
Die Schweiz hat Glück gehabt! In den Jahren 2008 bis 2016 ereignete sich im KKL kein grösserer Unfall. Der Reaktorkern von Leibstadt erlitt keinen Geometrieschaden, und das Werk konnte jederzeit herunter gefahren werden. Ob übrigens heute keine weiteren Fehler bestehen, ist unter den bestehenden Voraussetzungen fraglich. Denn es gibt keine Hinweise dafür, dass Kontrolle und Aufsicht in den vergangenen Monaten grundlegend verbessert wurden.

Im helvetischen Parlament sind solche Entwicklungen offenbar nicht oder zumindest nicht bei allen angekommen. Stefan Müller-Altermatt, Präsident der wichtigen Kommission Umwelt, Raumplanung, Energie (UREK) verteilte in der Rundschau vom 1. Februar 2017 dem ENSI die Höchstnote 10 für die Aufsichtstätigkeit. Orginalton: „10 – wenn dies nicht 10 wäre, würde ich nicht hier stehen, sondern wäre in Brugg vor dem ENSI am Demonstrieren, damit das ENSI auf 10 kommt. Wir müssen Vertrauen haben, es ist unsere Atomaufsicht, wir haben nur diese Atomaufsicht, die auch wieder beaufsichtigt ist, aber wenn wir das Vertrauen in diese Behörde nicht hätten, dann müssen wir schnellstens reagieren“.[6] Auch das KKL erhielt die Note 10 vom Herrn Müller-Altermatt, weil das ENSI es ja dahin gebracht hätte.
Spielen solche Politiker, und gerade Stefan Müller-Altermatt, als Mitarchitekt der Energie-Strategie 2050, „Blinde Kuh“? Die Deklarationen sind gerade deshalb umso peinlicher, als sie nachweislich mehrfach falsch sind – sowohl was das Funktionieren der Aufsicht anbelangt, wie auch was die Existenz einer Aufsicht über die Aufsichtsbehörde betrifft. Wir empfehlen daher Stefan Müller-Altermatt, sich zu informieren und dann den Worten Taten folgen zu lassen, nachdem er diese an einem so prominenten Ort wie in der „Rundschau“ in die Welt geworfen hat. Die „Mahnwache“ vor dem ENSI in Brugg dürfte sich über so prominente Verstärkung bestimmt freuen.
Das ENSI muss zwingend Drittmeinungen einholen bevor es schwerwiegende Entscheide fällt! Noch immer sind die Gründe des Dryouts nicht bekannt. Das ENSI hat die internationale Expertengruppe für Reaktorsicherheit nicht konsultiert bevor es die Wiederinbetriebnahme des KKL beschlossen hat, obwohl ein Experte dieser Gruppe sich über den Störfall sehr besorgt zeigt. Das Wiederanfahren von Leibstadt führte auch zu Interventionen der Regierungen von Baden-Würtemberg und Voralberg. Für das ENSI hat die Sicherheit der Bevölkerung offenbar nicht oberste Priorität.
„Wir empfehlen daher Stefan Müller-Altermatt, sich zu informieren und dann den Worten Taten folgen zu lassen, nachdem er diese an einem so prominenten Ort wie in der „Rundschau“ in die Welt geworfen hat. Die „Mahnwache“ vor dem ENSI in Brugg dürfte sich über so prominente Verstärkung bestimmt freuen.“ (Siehe Text oben im Blog)
Aber Herr NR Müller-Altermatt informiert sich doch bei „Swisselectric“! Gegen ein erschreckend hohes Honorar, wie er es selber formuliert. (Sonntagszeitung vom 14.5.2017). Erklärt das etwa die guten Noten für das ENSI und das KKL. Honi soit, qui mal y pense! (König Edward III. von England (1312–1377))