Der 1. August ist ein schöner Tag. Der Allerschönste in der Schweiz. Denn an diesem Tag dürfen oder sollen die Würdenträger der Nation in der Tradition des Wilhelm Tell den Spiegel halten. An diesem 1. August, der irgendwann im 19ten Jahrhundert unter zweifelhaften Umständen zum Nationalfeiertag erkoren wurde, freuen sich Herr und Frau Schweizer über das Lob am Lande und wagen es darum auch nicht, sich der häufig zugleich geäusserten Kritik an der eigenen Nation zu verwehren.
Der Rütlischwur hat eine besondere und auch eine eigenartige Geschichte. Denn dass dieser historisch nicht verbürgt ist und im Laufe der Jahrhunderte vom 8. November 1307 auf den 1. August 1291 zurückdatiert wurde, zeigt nur, wie locker mit geschichtlichen „Wahrheiten“ umgegangen wird und wie einfach es letztendlich ist, Geschichte zu erfinden. Denn der Rütlischwur und die damit verkettete Tellsage sind heroische Geschichtsklitterungen von beispielhaftem Einfallsreichtum. Vor wenigen Monaten erschien eine neue Analyse dieser Sage, welche die wundervolle Fahrt des Stoffs auf dem fliegenden Teppich der Zeit aufschlussreich und witzig erzählt.[1] So erfahren wir, dass der berühmte, ach so heroisch-helvetische Apfelschuss des Tells zuerst vom persischen Sufi-Dichter Farid ud-Din Attar um das Jahr 1177 erzählt wurde und diese Begebenheit in der Heldenchronik der dänischen Könige Eingang fand, die ein am Hofs des Bischofs von Roskilde lebender Chroniker namens Saxo-Grammaticus gegen Ende des 12ten Jahrhundert verfasste. Das kleine Buch erzählt die Reise des Stoffs auf diesem fliegenden Teppich der Geschichte, welche über die Helvetische Chronik des Landvogts und „Landammans des Landes Glarus“ Aegidius Tschudi führt bis hin in die modernen Zeiten, welche die Phantasie der Pariser Revolutionäre gleich fulminant anregte wie jene von Opernkomponisten wie Rossini oder von Dramaturgen wie Schiller. Selbst das Zeugnis des Attentäters des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln ist, laut den Autoren des Buchs, verbürgt, und dieser beklagte sich bitter darüber, für den Tyrannenmord nicht wie ein Held wie Tell gefeiert zu werden.
Geschichtsklitterung ist eine Geschichte ohne Anfang und vor allem ohne Ende. Schon im Altertum wurden historische Stoffe schamlos zurechtgebogen oder einfach erfunden, ob es sich um mythologische Erzählungen handelte oder um die Heldengeschichten der Herrscher und Könige. Was alles auf den steinernen Inschriften der Antike geflunkert wurde, lässt sich wohl nur ermessen, und wie viel von Schriften wie Caesars „De bello gallico“ oder anderen Heldenkompositionen tatsächlich real ist, steht in den Sternen. Der im 2ten Jahrhundert unserer Zeitrechnung schreibende Satiriker Lukian von Samosata machte sich über die Geschichtenschreiber der Antike gerne lustig, indem er am Anfang seiner eigenen Lügengeschichten darauf hinwies, das einzig Wahre an seinen Geschichten sei, dass alles erstunken und erlogen sei.[2] In dieser Tradition parodierten Roland Topor[3] oder Hans Traxler[4] das Lügengeflunker in der Neuzeit zu ungeahnten Höhen. Seit der Aufklärung suchen darum Historiker, Altphilologen, Philosophen und andere den „Schleier der Erinnerung“[5] zu lüften und die Mechanik der Geschichtsfälschung zu erfassen. Was höchst aufschlussreich, interessant und auch notwendig ist.
Damit sind wir auch wieder einmal bei der Kerntechnik und der nuklearen Entsorgung angelangt, Technologien und Programme, die von allem Anfang der staatlichen Geheimhaltung und ihrer Geheimpolitik – der sogenannten „arcana imperii“ [6] – unterstellt waren und damit in hohem Ausmass der manipulativen „Wahrheitsdichtung“ oder „Nuklearpoesie“[7] unterliegen. Man schaue sich nur das verbissene Festhalten an einer Technologie an, deren Felle wirtschaftlich schon längstens davonschwimmen, wie auch das Beispiel der vergangenen Woche zeigt.[8] Dass nur noch 10 von 17 Verwaltungsräten des französischen Atomriesen EDF dem Projekt eines EPR-Reaktors im britischen Hinkley Point zustimmen und dass der Finanzchef von EDF deswegen vor einiger Zeit zurücktrat, sagt sehr viel über den „Gesundheitszustand“ der Branche aus. Aber auch in der Schweiz mehren sich die Zeichen auf das Ende. Zudem ist das leidige Thema um die Endlagerung noch längst nicht ausgestanden. Wenn heute – wie von der schweizerischen Endlagergenossenschaft Nagra öffentlich behauptet – 40 Jahre systematische Forschung und absolute Transparenz gepriesen oder die weisse Landkarte, die Ergebnisoffenheit und die Unabhängigkeit der Behörden beschworen werden, oder wenn wie kürzlich die Gründe für die Verzögerungen der Zeitpläne im Sachplanverfahren vom zuständigen Bundesamt unterschlagen und „umgedichtet“ werden[9], so ist dies nichts anders als eine Fortsetzung der Märchenkultur, die Aegidius Tschudi als Schöpfer der neueren Tellgeschichte konfektioniert hatte. Mit dem Unterschied, dass der frühe Historiker noch an die Authentizität von Dokumenten glaubte, was die neuere Geschichtsforschung schon längst nicht mehr tut.
Darum können wir an diesem 1. August nur unserer Hoffnung Ausdruck geben, dass sich die historischen Disziplinen in unserem Lande nicht nur den Tellgeschichten und anderen tausend interessanten Themen widmen sondern sich auch vermehrt und vertieft den Geschichten der Atomenergie samt ihren fliegenden Teppichen und Geschichtsklitterungen annehmen. In jedem Fall ein ausserordentlich ergiebiges Forschungsfeld, wenn man sich einmal in die muffigen historischen Kellergewölbe der Nuklearindustrie hineinwagt und der Manipulationsmechanik der offiziellen Berichterstattung nachgeht.
Markus Ramsauer
Liebe Freunde und verschworene Miteidgenossen!
Die im Zürich der 80er Jahre gross auf eine Wand gesprayte, explizite Botschaft: WERDET TELLEN, MORDET DIE HERREN! konnte jahrelang stehen bleiben.
Der fliegende Teppich der Mythen-bastler, ist ja ein gutes, geliebtes Familienerbstück, das, gelegentlich, dem braven Publikum unter den Füssen weggezogen wird.
Herzlich grüsst und dankt für diesen Blog: Markus Ramsauer