TITELBILD Die Antiquität: alt und veraltet, mit Rostflecken und -löchern, aber schön und „heimelig“ (der Opel Jahrgang Beznau 1 wurde am „Nuclear Phaseout Congress“ der SES am 21. März 2016 ausgestellt; für Beznau 1 war leider kein Platz im Kongressgebäude).
Am 1. Februar 2017 veröffentlichte die NNZ unter dem Titel „Weg von atomaren Luftschlössern“[1] eine nüchterne und klare Analyse von Helmut Stalder über den Zustand der Atomindustrie – in der Schweiz und auch anderweitig. Das Fazit: Das Verbot neuer Atomkraftwerke hierzulande sei falsch, aber irrelevant. Denn: „AKW gängiger Bauart sind in der Schweiz ökonomisch und politisch chancenlos. Und solche neuer Bauart sind noch für Jahrzehnte illusorisch.“ Darum sei „die Aufregung der Atombefürworter über den Passus“ zu einem Verbot von neuen AKW in der Energie-Strategie 2050 „übertrieben“, sei es doch nichts weiter als der Nachvollzug dessen, was heute sowieso schon ökonomische, technische und politische Realität ist. In der Tat hätten die AKW-Betreiber erkannt, dass die heutigen AKW „nicht oder kaum mehr rentabel“ seien und konsequenterweise „ihre 2008 eingereichten Gesuche für AKW-Ersatzbauten letztes Jahr zurückgezogen“. Investoren für zwei rund 20 Milliarden Franken teure Neubauten „ohne staatliche Garantien und Stützungen“ seien nicht auszumachen. Die Gründe: tendenziell steigende, immer teurere Sicherheitsanforderungen, lange Durststrecken von gut 15 Jahren bis zur Inbetriebnahme, unklare Kostensituation für Rückbau der alten Anlagen und für die Entsorgung. Nur dank kräftigen Subventionen über 35 Jahre Betriebszeit durch die britische Regierung könnten die beiden AKW-Neubau-Projekte in Hinkley Point finanziert werden. Aber dieser Weg sei in der Schweiz ökonomisch, technisch und politisch verbaut. Als Ersatz für die Schweizer AKW infrage kämen erst Reaktoren „der IV. Generation“, sei der in Bern inzwischen herrschende Konsens.
Die Analyse deckt sich mit den Erkenntnissen, die wir seit Jahren publizieren, unter anderem auf dem vorliegenden Blog. Sie zeigen den Wandel, der jetzt eingesetzt hat, auch bei den alten Kämpen der Nuklearindustrie. Offenbar haben die ökonomisch und politisch Verantwortlichen in diesem Land die Zeichen der Zeit endlich erkannt. Wer die Web-Seiten von Axpo, BKW und Alpiq besucht, stellt auch hier den grundlegenden Wandel in der Energiepolitik fest, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Die Atomenergieförderung kommt aufgrund der Realitäten immer stärker aus der Mode.
Es wäre darum ein Akt von grosser politischer und persönlicher Reife, wenn die bisher Verantwortlichen der Energiepolitik und der Nuklearindustrie auch dazu stehen würden, dass sie die Zukunft falsch eingeschätzt haben. Eine freundliche Gratulation und ein Dank an die Anti-AKW-Bewegung und die Entwickler der erneuerbaren Energien wäre darum auch ein wertvolles Zeichen, um Brücken für ein gemeinsames Handeln zum Wohle aller Bewohner dieses Landes zu bauen. Und schliesslich wäre es auch ein Akt der politischen und wirtschaftlichen Vernunft, endlich eine Aufsicht über die Atomindustrie zu installieren, die bereit ist, wirklich zu kontrollieren und auch das Rückgrat hat, einzuschreiten, wenn dies erforderlich ist. Die Kernkraftwerke der Schweiz sind in einem schitteren Zustand, wie dies auch die „Rundschau“am 1. Februar 2017 festgestellt hat (https://www.srf.ch/sendungen/rundschau). Unbestrittenermassen braucht es eine starke Aufsicht. Denn das heutige ENSI ist seiner Aufsichtsfunktion nicht gewachsen (siehe unseren Blog-Beitrag vergangener Woche)! Und Copinage und Eigeninteressen haben in der heutigen (Un)-Sicherheitssituation nichts mehr zu suchen!
Was bisher von den verantwortlichen Kreisen – Direktoren und Verwaltungsräte der grossen Stromfirmen, hohe Beamte der Bundesadministration, die Sicherheitsadministration oder AKW-befürwortende Parlamentarier – nicht gesagt oder worüber öffentlich geschwiegen wird, ist, wie es mit der maroden AKW-Wirtschaft weitergehen soll. Denn das dringend Handlungsbedarf angesagt ist, lässt sich nicht übersehen. Wir werden uns in der nächsten Zeit mit diesen Fragen vertieft auseinandersetzen. Nachfolgend kommentieren wir eine Liste wichtiger Frage- und Problemstellungen:
- Wie soll es mit den Werken weitergehen? Will man die Risiken eines Wiedereinschaltens des Werks Beznau I in Kauf nehmen, angesichts der technisch unübersehbaren Schwachstellen des Werks und den potentiellen Konsequenzen auf Umwelt und Anlage sowie den politischen und ökonomischen Folgen eines schwereren Störfalls? Haben sich die Verantwortlichen ein solches Szenario einmal ernsthaft überlegt, auch bezüglich den unmittelbaren persönlichen Konsequenzen solcher Szenarien? Diese Überlegungen gelten für alle Szenarien, selbst für das von Christoph Blocher vorgeschlagene Subventions-Szenario. Beznau und Abstimmungsergebnisse 2016 hin oder her: es ist zwingend einen geordneten Ausstieg aus den Atomenergie zu finden und raschere Ausstiegspläne für die Werke vorzusehen. Wie soll es weitergehen, wenn die Werke rascher altern als erwartet und rascher vom Netz genommen werden müssen? Oder wenn Konkurse anstehen?
- Wie geht es mit dem Park der Nuklearanlagen weiter? Welche Überlegungen zur Stilllegung und zum etwaigen Rückbau der diversen AKW müssen angestellt werden? Wie sollen die Anlagen gesichert werden? Wie soll die Zwischenlagerung organisiert werden, namentlich die Langzeitzwischenlagerung über Programme, die weit über 100 Jahre dauern könnten? Und insbesondere für die hochaktiven Abfälle? Reicht das Abwarten und die Verfolgung einer „Tag-für-Tag“-Strategie angesichts der diversen technischen, politischen und wirtschaftlichen Risiken, welche insbesondere von hochaktiven Abfällen ausgehen?
- Wie sollen die fehlenden Beiträge in Stilllegungs- und Entsorgungsfonds beschafft werden, die – wir wissen es – klar unterkapitalisiert sind, allen offiziellen Beteuerungen zum Trotz. Das Finanzloch, das langsam sichtbar wird, könnte dramatische Dimensionen annehmen. Der Umgang mit dem Fonds sollte neu überdenkt werden, insbesondere was die Planung der Stilllegung und der Entsorgung angeht. Zwilag oder Nagra könnten bei einer unvorhergesehenen relativ plötzlich die Mittel fehlen. Aber auch dem ENSI, das sich grossmehrheitlich via AKW-Betreiber finanziert.
- Wie sollen die Verantwortlichkeiten für die Werke bei einer de-facto-Pleite festgelegt werden. Wer soll übernehmen? Der Bund? Die Kantone? Mit welchem Personal? Ist die Personalproblematik überhaupt erkannt worden, insbesondere in Krisensituationen?
- Wie steht es mit den dringend erforderlichen Strukturreformen? Auf der Ebene der Werke und der Verwaltungen der Werke oder Stromgesellschaften? Bei der Aufsicht? Wie sollen Zwischenlager und Nagra weiter funktionieren, wenn die Werke sukzessive abbröckeln respektive stillgelegt werden oder Konkurs gehen? Die Autoren dieses Blogs waren in ihrer beruflichen Karriere mit eben diesen Problemen konfrontiert und wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, vorausschauend Auffang-Szenarien zur Hand zu haben. Wie kann ein Kulturwandel bei den Entsorgungsorganisationen und der Aufsicht eingeleitet werden? Wie ist der Qualitätssicherungsprozess sicherzustellen? Wie weiter mit der Kommission nukleare Sicherheit? Wie weiter im Falle einer Krise, bei der ein Krisenmanagement fehlt?
- Und schliesslich: wie soll es mit dem Sachplan geologische Tiefenlager weitergehen? Braucht es den heutigen Prozessführer – die Sektion geologische Tiefenlager beim Bundesamt für Energie – für eine solche Aufgabe überhaupt angesichts der eklatanten und allseitig bekannten Führungsdefizite dieser Sektion? Wie könnte die Führung eines solchen Prozesses anders organisiert werden, so dass die Aufgaben kompetent und ohne dauernden Rückgriff auf die Nuklearindustrie geplant und umgesetzt werden können?
Viele dieser Fragen sind nicht einmal im Ansatz angedacht worden. Die Herausforderungen an das Nuklearsystem sind gewaltig, unter anderem auch deshalb, weil die bestehenden Institutionen Szenarien dieser Art bisher gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen haben. Es zeigt sich jedenfalls, wie dringend es ist, diese Fragen aufzuwerfen und vertieft abzuhandeln und zu diskutieren. Dies werden wir in Beiträgen der kommenden Wochen tun.
Wäli Kammermann
Gut dass Sie das thematisieren. Allerdings kommt der NNZ Artikel viel zu spät. Diese Erkenntnis habe ich als Essey schon am 19. November 2016 in meinem Blog veröffentlicht (https://www.wellenberg.org/pdf/Atomtechnologiequovadis.pdf). Was heisst: Diese Infos sind eigentlich längst bekannt, aber offenbar hat das bisher schlicht (fast) niemand wahrgenommen.