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Die Situation ist surreal: es geht um Fragen der grundsätzlichen Sicherheit des Kernkraftwerks Leibstadt, aber die dafür verantwortlichen Handlungsträger sind blockiert. Die verantwortlichen Handlungsträger sind: erstens das Kernkraftwerk Leibstadt AG mit seiner Werksleitung; zweitens die Aktionäre des Kernkraftwerk Leibstadt AG; drittens der Verwaltungsrat des Kernkraftwerks Leibstadt AG; viertens das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat und fünftens das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Statt ihre Maschine – das Kernkraftwerk – nach allen Regeln der Technik auf die kritischen Siedezustände und die dadurch verursachten Brennelementschäden[1] zu untersuchen, bis die Ursache für die Fehler bekannt und behoben sind, lassen sie sich auf eine riskante Unternehmung ein: das Werk soll trotz nicht geklärten Ursachen für die Trockenlegungs-Zustände von Brennelementen wieder angefahren werden. Unsere Erklärung: Die dafür verantwortlichen Handlungsträger sind in derartigen Sachzwängen verstrickt, dass sie es nicht wagen, vom bisher verfolgten Kurs abzuweichen. Trotz den Risiken, die eine solche Unternehmung mit sich bringt.
Wo liegen die Probleme? Es gibt drei Problemebenen: eine wirtschaftliche, eine strukturelle und eine technische Ebene. Sie hängen zusammen. Beginnen wir mit der wirtschaftlichen Ebene: In der Figur 1 und in den Tabellen 1 bis 3 sind Strukturmerkmale und Kenndaten der Axpo zusammengestellt.

Daraus lässt sich folgendes herauslesen. Die Axpo-Gruppe (Axpo-Holding AG) besteht aus verschiedenen Aktionären, die teilweise wieder an den verschiedenen KKWs beteiligt sind: Axpo Power AG, die das KKW Beznau (I und II) betreibt, Axpo Trading AG (ehemals Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg EGL) und Centralschweizerische Kraftwerke AG (CKW), welche die innerschweizerischen Strominteressen zusammenfasst (siehe Tabelle 1). An der CKW ist neben Axpo Holding AG (81%) auch der Kanton Luzern (9.9%) beteiligt. 9% der Aktien befinden sich im Streubesitz.
Der schweizerische Kernkraftwerkpark ist gemäss Tabelle 2 aufgeteilt. Das KKW Beznau befindet sich zu 100% im Besitz der Axpo Power, das KKW Leibstadt zu über 50% und das KKW Gösgen zu einem guten Drittel. Tabelle 3 schlüsselt die Anteile aller Aktionäre des KKW Leibstadt auf. Mit den Anteilen der AEW Energie AG, das als selbstständiges Unternehmen des Kantons Aargau und als „Aktionärin und Geschäftspartnerin der Axpo“[3] wirkt, vereinen die Axpo-Interessen gegen 60%.
Was heisst dies konkret? Im Klartext bedeutet dies nur, dass Axpo das Schweizer Stromunternehmen ist, welches am stärkten auf Kernenergie gesetzt hat. Rund 70% der Produktion wird im Vollbetriebsmodus von den Axpo-eigenen KKW geliefert. Dies macht Axpo ausserordentlich abhängig vom Funktionieren seiner Kernkraftwerke. Und nicht nur von der Kernkraftwerk-Technik als solcher, sondern auch von den ganz wenigen Anlagen. Drei Anlagen mit vier Reaktoren. Die Anlagen in Beznau und Leibstadt sind wirtschaftlich für die Axpo vital. Brechen die Einnahmen aus diesen Anlagen weg, gerät das Unternehmen in Schieflage. Das Abschalten des KKW Leibstadt im Jahr 2016 führte beim Werk zu Produktions-Einbussen von 30%.[4] Damit erklärt sich auch bereits, dass Axpo ein vitales Interesse daran hat, dass seine Werke so viel und solange als möglich produzieren können. So ist auch die Leistungserhöhung zu verstehen, die vor allem im KKW Leibstadt mit dem Projekt „Leistungserhöhung“ umgesetzt wurde. In den Jahren 1998 bis 2003 und wurde die Nettoleistung des Werkes von 960 auf 1’165 MW erhöht.
Damit kommen wir zum zweiten Punkt: den Strukturen. Ein Stromunternehmen, das derart abhängig von einer Energieerzeugungsform ist, wird natürlich auch seine Lobbyaktivität in diesem Bereich entsprechend ausrichten. Es gehört zum Wesen des Schweizerischen Organisationsmodells, dass der Staat tendenziell zurückhaltend auftritt und die Verantwortlichkeiten der Industrie überlässt. Dieses Modell wurde historisch auch in der Schweiz praktiziert, wie dies verschiedene Publikationen belegen.[5] Die Industrie führt, der Staat überwacht. Nur, dass in der Schweiz auf diese Weise nie eine unabhängige Aufsicht über die Werke entstehen konnte. Vor der Auslagerung der Werke in privatrechtliche Unternehmungen waren Werke wie die Nordostschweizerischen Kraftwerke Staatsbetriebe, und wie sollte bei Staatsbetrieben überhaupt eine starke Aufsicht entstehen, gehörten doch die Staatsbetriebe dem Staat? Es ist z.B. ein offenes Geheimnis, dass die Nordostschweizerischen Kraftwerke NOK, welche später zur Axpo umgewandelt wurden, als Staatsbetrieb auch die Stellungnahmen der kantonalen Regierungen selber schrieb. Wer anders hätte es denn machen sollen? Zudem sassen die kantonalen Regierungen in den Verwaltungsräten der Unternehmungen. Dies übrigens bis zum heutigen Tag. Mit dieser Struktur war zwar eine politisch-ökonomische Kontrolle der Unternehmung gewährleistet, nicht aber eine unabhängige technisch-wissenschaftliche Aufsicht. Denn die Unabhängigkeit der Aufsicht war systemisch immer schwach unterlegt und hing in erster Linie von der inneren Haltung der in der Aufsicht tätigen Personen ab. Als eigenständige, vom Bundesamt für Energie losgelöste Instanz wirkt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat erst seit 2009. Und genau in dieser Zeit wurde auch das Vier-Augenprinzip der Aufsicht auf Empfehlung der internationalen Kernenergieförderungsorganisation IAEA de facto aufgelöst: die Empfehlungen und Befunde der Kommission für die nukleare Sicherheit haben keinen bindenden Charakter mehr für das ENSI. Damit hatte die Industrie die Situation wieder unter der politischen und ökonomischen Kontrolle.
Und damit sind wir auch endlich bei der Technik angelangt. In einem Hochrisikobereich wie jenem der Kernenergie müsste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Ursachen von Schäden an einem Kraftwerk[6] vollständig geklärt werden, bevor es wieder ans Netz gehen darf. Eigentlich müsste die Prozedur in einem solchen Fall auch von der Sicherheitsbehörde gleich bekannt gegeben werden. Im Falle des KKW Leibstadt – mit seinen weltweit einzigartigen Dryout-Problemen – hätte sich von allem Anfang an der Beizug von unabhängigen Experten geradezu aufgedrängt. Etwa Experten der Kommission für nukleare Sicherheit sowie Experten aus der internationalen Fachkommission des ENSI. Bisher hat sich das ENSI zur Notwendigkeit unabhängiger Expertise nicht vernehmen lassen. Was dazu geführt hat, dass sich – nach einem Bericht der Aargauer Zeitung[7] wie auch Berichten des deutschweizerischen Fernsehens – der baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller sowie die Vorarlberger Landesregierung eingeschaltet und das ENSI davor gewarnt haben, Leibstadt wieder in Betrieb zu nehmen, bevor die Probleme mit der Kühlung des KKW nicht restlos geklärt sind.
Dieser Mechanismus ist bedenklich. Denn er ist ein Hinweis darauf, dass die Aufsichtsbehörde ihre Funktion nicht mehr voll und unabhängig wahrnimmt. Sie steht unter dem Druck der Wirtschaftlichkeit beziehungsweise der in den Nordostschweizer Kantonen beheimateten staatlichen Eigentümer. Die Nachbarländer Baden-Württemberg und Vorarlberg üben wiederum politischen Druck auf das ENSI aus – und indirekt auf die KKW-Eigentümer, damit die zwingend erforderlichen Expertisen in aller Unabhängigkeit erfolgen können. Das heisst nichts anderes, als dass die Sicherheit von politischen Behörden und über Wirtschaftlichkeitsfragen verhandelt wird. Die Eingriffe der benachbarten Landesregierungen in allen Ehren; sie waren wohl notwendig um die Interessen der Bevölkerung zu wahren. Gefordert werden muss endlich und vor allem eine Aufsicht, die selbständig aufgrund ihres eigenen oder beigezogenen technischen Know-Hows entscheiden kann, und zwar in absoluter Freiheit. Wie schrieb doch das Bundesamt für Energie in Zusammenhang mit den geologischen Tiefenlagern: Sicherheit ist nicht verhandelbar.[8] Dies gilt auch für Kernkraftwerke, wenn massive wirtschaftliche Konsequenzen beim zeitweiligen oder definitiven Abschalten eines Werks drohen. Die Willfährigkeit von politischen oder ökonomischen Entscheiden in technische oder betriebliche Systeme ist nicht zulässig (siehe Kästchen). Es braucht zwingend systemische überzeugende Organisationsformen für unabhängige Aufsicht: erstens eine Behörde die kompetent, ressourcenmässig gut ausgestattet und mit ihren Experten frei entscheiden kann, und zweitens eine unabhängige Zweitmeinung, welche die Aufsichtsbehörde zurückpfeifen kann, wenn diese ihre Aufgabe nicht erfüllt oder wichtige Fakten übersieht. Dies ist das Aufsichtssystem, das es für die Beurteilung der Brennelementschäden im KKW Leibstadt braucht. Dass dazu eine proaktive und offene Information der Öffentlichkeit gehört, bei der die Probleme und die Lösungen auf den Tisch der Öffentlichkeit gelegt werden, sollte heute eine Selbstverständlichkeit sein.
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