Titelbild: „Illusion und Realität“ (unser Titel!) von Harald Naegeli (ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv)
„Die Laufbahn, die dem Kommunismus noch vorbehalten ist, hängt von dem Tempo ab, mit dem er seine Utopie-Vorräte verausgaben wird[1].“ Diese Aussage findet sich im 1960 herausgegebenen Essay „Mechanismus der Utopie“ des rumänisch-französischen Kulturkritikers und Philosophen Emile Cioran. Was diesen Satz so bemerkenswert macht, ist weniger seine „prophetische“ Richtigkeit –Cioran sah das Ende der Sowjetunion 30 Jahre vor dem tatsächlichen Sturz kommen -, als vielmehr die Schärfe des analytischen Befundes. In der Tat: dieser Satz seziert Utopien bis in ihr tiefstes Mark. Er erklärt den „Mechanismus der Utopie“ und entlarvt die Funktionsweisen von Heilslehren jeglicher Art. Und tatsächlich ähneln sich alle Heilslehren in wesentlichen Punkten, wie dies auch andere Kulturhistoriker, die sich dieses Themas angenommen haben, festgestellt haben. Auch Norman Cohn wies in seinen vielbeachteten historischen Analysen auf die Nähe messianischer und chiliastischer[2] Bewegungen des Mittelalters zu kommunistischen und nazistischen Ideologen mit ihren militanten und revolutionären Ausdrucksformen hin. [3] Der französische Historiker Georges Minois[4] ging in seiner Geschichte der Zukunft noch einen Schritt weiter, indem er auch die Wissenschaft als Teil des Zukunftsschauens einbezog und die Gefahren utopischen Abgleitens wissenschaftsbasierter Prognosen aufzeigte. Der Bezug zum Chiliasmus des Nuklearzeitalters als Gegenspiegel der Utopie wird in jüngerer Zeit auch in der psychologischen Analyse hergestellt.[5]
Wer auf die Geschichte der Atomenergie zurückblickt, wird utopische wie apokalyptische Elemente solcher Heilslehren[6] entdecken. Wir werden uns hier thematisch auf die utopischen Vorstellungen fokussieren. Das nahe liegende irdische Paradies[7] wird in der weitverbreiteten Vision zu Beginn des Atomzeitalters bis weit in die 1960er Jahre vorweggenommen: „Die Wüsten werden blühen und das Eis der Pole wird schmelzen“ [sic!]. Die „atomare Revolution“ wird erfolgreich und universal sein. Sie bedient dabei alle gängigen Clichés, vom „neuen Prometheus“ bis hin zum „König des Universums“ und dem „master of the universe“.[8] Die Segnungen des atomaren Zeitalters übertreffen sich: Atomkraftwerke, Atommeerwasserentsalzungsanlagen, Atomboote, Atomlokomotiven, Atomautos, Atomflugzeuge, Atomraketen, nebst all den industriellen, technischen und medizinischen Anwendungen sowie der revolutionierten Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie. Atom, Atom, Atom … es konnte im neuen Paradies nicht genug davon geben. Selbst der Millenarismus hält sprachlich wieder Einzug, und dies bei keinem Geringeren als bei Alvin Weinberg, dem führenden Atomwissenschaftler und langjährigen Direktor der grossen amerikanischen Atomschmiede Oak Ridge National Laboratory ORNL’.[9] Das Atomzeitalter ist omnipräsent. Die Illusion allgegenwärtig. Der Optimismus obligatorisch. Der Erfolg vorprogrammiert. Und das goldene Zeitalter liegt vor der Türschwelle.[10]
Dies war die herrschende Sichtweise am Anfang des atomaren Abenteuers, vor allem zu Beginn der Aufbauphase der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Die ideologische Vorratskammer war bis zum Bersten voll solcher Visionen. Wer diese Visionen anzweifelte, wurde geschnitten, zum Feind gestempelt, verleumdet. [11] Und dann begann die atomare Reise und die Zeit ging über die Visionen und liess diese verblassen. Die Schwierigkeiten mehrten sich. Die Risiken waren unterschätzt worden. Die Gefahr von schweren Unfällen bei Atomanlagen beunruhigte zunehmend auch Wissenschaftler. Die Diskussionen liefen bereits in den 1960er Jahren heiss, im Zusammenhang mit der beabsichtigten (und durchgesetzten) massiven Steigerung der Grösse der Reaktoren (unter dem Motto: economies of scale). [12] Desgleichen zeigte sich, dass die Schwierigkeiten des Rückbaus, vor allem aber die Entsorgung radioaktiver Abfälle, sträflich unterschätzt worden waren. Einer der wenigen Atombefürworter, der in seinen Einschätzungen zur Entwicklung der Atomenergie noch selbstkritisch blieb, war Alvin Weinberg. In seinem Lebensrückblick gestand er ein, dass genau diese beiden Probleme unterschätzt worden waren.[13] Natürlich machten diese unterschätzten oder ungelösten Fragen die Technik als Ganzes bald uninteressant. Die Einsicht führender Atomwissenschaftler wie Weinberg setzte sich in der Schweiz allerdings erst zwei Jahrzehnte später zögernd durch. Die Widerstände, das atomare Weltbild aufzugeben, waren bei den wirtschaftlichen und politischen Eliten tief verankert (siehe Blog-Beitrag der letzten Woche). Bis heute wehren sich diese Kreise gegen eine Entwicklung, die sich vor mindestens 10 Jahren abzuzeichnen begann und die auch hierzulande leichtfertig verschlafen wurde. Dabei gäbe es gar keinen Grund mehr, sich gegen diese Entwicklung zu stemmen. Denn –alea jacta est –die Würfel sind gefallen. [14]
In der Tat: die Utopie-Vorräte des Atoms sind weitgehend aufgebraucht. Die Schwierigkeiten wachsen ins Unermessliche; mehrfache Kernschmelzen von verschiedenen bisher entwickelten Reaktortypen; man arbeitet und arbeitet am Abfallproblem und kommt doch nicht weiter – konkret funktioniert 70 Jahre nach Beginn des Nuklearzeitalters kein einziges Tiefenlager; grosse Schwierigkeiten beim Rückbau; die Kosten explodieren; unrentable Kernkraft … Definitiv: die Atom-Technologie – „the first nuclear era“ in den Worten von Alvin Weinberg – hat ihren Reiz verspielt. Dies zeigt auch die massiv sinkende Akzeptanz der Atomenergie bei den traditionellen Befürworter-Kreisen wie etwa den bürgerlichen Wählern. Dieser Erosionsprozess hält an.
Aber Irrationales hält sich lange. Besonders im System selber. Es geht dabei um eine sehr menschliche Eigenschaft. Niemand will für das Debakel geradestehen. Und niemand ist auch wirklich dafür verantwortlich zu machen. Denn nicht der Einzelne ist dafür verantwortlich, ist er doch in ein komplexes, weitgefächertes systemisches wie zeitliches Netz eingebunden und ist darum nur in sehr begrenztem Umfang in der Pflicht. Jedes Individuum kann sich hier also de facto aus der Verantwortung ziehen. Denn verantwortlich ist der Überbau, die gesamte Struktur, für die ohnehin keine Verantwortlichkeiten gefunden werden können. Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem: Das sogenannte Böse“ im Kontext der Aufarbeitung des Holocausts genau diesen Aspekt so messerscharf herausgearbeitet.[15] Jeder tut seine Pflicht, verantwortlich ist letztendlich … niemand.
Darum sind grundlegende Korrekturen in den Strukturen und deren personellen Besetzungen im Bereich von Hochrisikotechnologien zwingend erforderlich. Strukturen sind so anzulegen, dass sie kontrollierbar sind und Widerspruch und Kritik zulassen. Anders gesagt: Es darf in den Entscheidungsketten von Hochrisikobereichen keine Struktur geben, die definitiv und allein, also unkontrolliert, so viel Macht in die Hand bekommt, dass sie nicht mehr oder zu spät korrigierbare Entscheide fällen kann. Es braucht eine Aufsicht über die Aufsicht. Ebenso muss die Aufsichts-Aufsicht von übergeordneten Gremien so besetzt werden, dass sie ihre Aufgabe wahrnehmen kann. Auch die Personalpolitik ist den Anforderungen entsprechend anzupassen. Leitungsfunktionen in einem Hochrisikobereich erfordern ein spezielles Profil.
Aber wie können heute dringend notwendige Korrekturen an einem technischen System umgesetzt werden, das in Auflösung begriffen ist? Es sind vor allem zwei ganz wesentliche Voraussetzungen, die heute für ein Weiterkommen benötigt werden. Zum einen braucht es den politischen Willen, in der heikelsten Phase des Betriebs von Kernkraftwerken, nämlich in der Alterungsphase, die notwendigen Mittel für einen befristeten Weiterbetrieb sicherzustellen: Know-how und Kompetenz bei den „human resources“, strukturelle Ordnung, hinreichende Finanzen und anderes mehr. Alle Beteiligten sollten sich bewusst sein, wie riskant die heute laufende Endphase der Kernkraft ist. Daraus leitet sich die zweite Voraussetzung ab: es ist höchste Zeit, ideologische Positionen aufzugeben. Es geht weder um pro- oder contra-atom, noch um politische Rechts- und Links-Schemen, sondern um Sicherheit und Verantwortung. Es ist an der Zeit, Vernunft anzunehmen, Brücken zwischen den politischen Blöcken zu bauen und das Zeitalter der Utopie abzuschliessen. Es gibt handfeste Risikoprobleme, die es anzupacken gilt und konkreten Lösungen (oder deren Zwischenetappen) zuzuführen sind. In den folgenden Blog-Beiträgen werden daher konkrete Lösungsvorschläge in der heute schwierigen Ausstiegsphase vorgestellt.
Martin Walter
Lieber Marcos
Sehr geehrter Herr Professor Wildi
Eure Blogbeiträge sind für mich Highlights. Der letzte, obige, ist der bemerkenswerteste! Er lässt Hoffnung aufkeimen, dass wir den Abstieg ins eiserne Zeitalter (Ovids Metamorphosen – Aurea prima sata est…) noch verhindern können.
Euch zu lesen, darauf freue ich mich schon fast kindlich.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Walter