Standorteinengung und Aktennotiz AN 11-711
Präambel
Der Sachplan geologische Tiefenlager ist das Produkt eines gescheiterten Suchprozesses: er zeichnete sich nach der für die Atomwirtschaft verlorenen Abstimmung zum Wellenberg im September 2002 ab und wurde in der Folge an die Erarbeitung der neuen KernenergieGesetzgebung ab dem Jahr 2005 in Gang gesetzt. Alle beteiligten Akteure wurden in den letzten knapp 2 Jahrzehnten nicht müde, diesen Sachplan als absolut transparenten, ergebnisoffenen Prozess zu bezeichnen. Dennoch wurden im Laufe des Verfahrens von diversen Seiten immer wieder Zweifel an der Führung des Sachplans laut und die transparente wie auch ergebnisoffene Umsetzung des Suchprozesses bezweifelt. Einen besonderen Stellenwert dabei hatte auch die im Oktober 2012 in der «Sonntagszeitung» publizierte Aktennotiz AN 11-711 der Nagra, welche die Frage nach einer vorweg genommenen Standortwahl aufwarf.
Nun hat die Nagra den aus den letzten drei verbliebenen Teilregionen übrig gebliebenen Standort bekanntgeben und den «Schwarzen Peter» dem Gebiet «Nördlich Lägern» zugeschoben. Natürlich stellt sich die Frage, weshalb dieses Gebiet nach jahrzehntelangem Dasein als Reservestandort nun plötzlich so gute geologische Noten kriegt. Aber diese Frage ist eigentlich zweitrangig. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, ob und wie transparent und ergebnisoffen dieser Prozess tatsächlich geführt wurde, der zu diesem für viele überraschenden Ergebnis geführt hat. Es mehren sich dabei die Hinweise, dass dieser Suchprozess alles andere als offen und transparent geführt wurde und man eher von einem schwer kontaminierten Suchprozess ausgehen muss.
1 Eine höchst intransparente Vorgeschichte
Beim Standortauswahlprozess des Sachplans geologische Tiefenlager stellt sich genau diese Frage, nämlich dass dieser Prozess – trotz gegenteiliger Beteuerungen zu Transparenz und Ergebnisoffenheit – in essentiellen Phasen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und dessen Hintergründe und Ergebnisse nie hinterfragend geprüft bzw. überprüft wurden. Dass bei der Konzeption des Sachplankonzepts eine direkte Einflussnahme vom wirtschaftlichen Interessensvertretern erfolgte, ohne diese kenntlich zu machen und damit eine mehr als zweifelhafte Vorgehensweise von den leitenden Bundesgremien gewählt worden war. Dass kein Prozessinstrument wie etwa eine Fehlerkultur mit klar definierten « Tools » existierte, welches solche Unterlassungen und verdeckte Aktionen hätte aufdecken können. Und schliesslich, dass Antworten auf Ungereimtheiten und Paradoxe im Verfahren weder eingefordert noch gegeben wurden. Blicken wir zurück.
Das Sachplankonzept geologische Tiefenlager, das den neuen Schweizer Standortwahlprozess für radioaktive Abfälle einläutet, trägt das Datum des 2. April 2008. Ab diesem Zeitpunkt ist der Standortwahlprozess mit seinen drei Etappen, den Auswahlkriterien und den Pflichtenheften der wichtigen Handlungsträger, in Kraft und wird nun unter der Führung des Bundesamts für Energie umgesetzt (Kurzbeschrieb Anhang 1). Alle wichtigen Parteien haben dem Konzept in der vorangehenden Vernehmlassung soweit zugestimmt, dass der vorverhandelte Suchprozess nun eingeleitet werden kann: die Administrationen aus der Bundesverwaltung und die Kantone und ihre Regierungen, die verschiedenen im Entsorgungsbereich operierenden Organisationen, Aufsichts- und Expertengremien, um nur die allerwichtigsten Player im Prozess zu nennen. Dieses für das schweizerische politische System typische Vorverfahren bezweckt ja, im Vorfeld eines politischen oder gesetzgeberischen Prozesses die Vollzugstauglichkeit und Akzeptanz eines Vorhabens zu testen und zu bestimmen. Wird dieses von einer breiten Mehrheit der Beteiligten gestützt, steht diesem Ansinnen de facto nichts Wesentliches zu seiner Realisierung im Weg. Das schweizerische Vernehmlassungsverfahren hat seine politische Tauglichkeit unter Beweis gestellt. Aber taugt dieses auch für Risiko- und Hochrisikobereiche eines für unser Land wirtschaftlich zentralen Wirtschaftspfeilers, der immer wieder vor grossen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen steht? Eines Hochrisikobereichs, der darum einer völlig anderen wissenschaftlichen Begleitung bedarf?
2 Die verschleierte Konzeption des Sachplans
Die Entstehung des Konzepts für den Sachplan geologische Tiefenlager wurde bisher weder von der Atomwirtschaft noch von Seiten der Bundesbehörden offengelegt. Das verfahrensführende Bundesamt für Energie (BFE) schreibt dazu etwa, es sei unter breitem Einbezug erfolgt,[1] was insofern sicher stimmt, weil diverse Administrationen und Kommissionen eingebunden waren und wie bereits erwähnt eine breite Vernehmlassung stattfand. Man erfährt auch auf der Webseite des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI, dass das Konzept zum Sachplan geologische Tiefenlager « vom Bundesamt für Energie mit weiteren Behörden und Organisationen entwickelt und 2008 vom Bundesrat genehmigt » wurde.[2] Aber es gibt – soweit die Recherchen reichen – keinen einzigen Bericht über die Entstehungsgeschichte des Sachplans. Wer waren die Administrationen und Organisationen, die an diesem Projekt beteiligt waren? Wie wurde die Arbeitsteilung vorgenommen, wer war für welche Teile zuständig und wer fügte diese zu einem Gesamtdokument zusammen? Was waren die Interessen der Atomindustrie an einer raschen Umsetzung des Sachplans in Zusammenhang mit den im Jahr 2008 eingereichten Rahmenbewilligungsgesuchen für drei neue Ersatzkernkraftwerke? Und warum wurde das Rahmenbewilligungsverfahren, das im Kernenergiegesetz geregelt ist, mit dem Sachplanverfahren amalgamiert, das ein raumplanerisches Instrument darstellt? Eine Vielzahl Fragen, die viel über die Strategien aussagen könnten, die in den politisch-wirtschaftlichen Hintergrundkulissen ausgeheckt wurden.
Etwa auch die, wer die inhaltlichen Abwicklungen des Sachplans tatsächlich geschrieben hat. Auf der Titelseite des Konzeptes vom 2. April 2008 erscheinen unter der Rubrik « An der Erarbeitung beteiligte Stellen » das Bundesamt für Energie BFE, das Bundesamt für Raumentwicklung ARE, die Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen HSK als Vorläufer des ENSI, die Kommission Nukleare Entsorgung KNE sowie die Eidg. Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen KSA. Ebenso Erwähnung finden ein erster Beirat sowie ein Steuerungsausschuss. Nicht erwähnt ist dagegen die Nagra.
Weitere nicht in offiziellen Dokumenten auftauchende Beteiligte sind etwa das in Bern domizilierte Raumplanungs- und Umweltbüro « Gresch+Partner », das auf seiner Webseite einen kleinen Einblick in seine Arbeiten im Nuklearbereich gibt. Es nennt unter seinen diversen Kunden auch die « Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle und führt unter Spezialstudien die « Verfahrenskoordination nukleare Endlager » auf .[3] Was die Nagra für Aufträge erteilte, ist nicht ersichtlich. Es lässt sich aber annehmen, dass sich die Verfahrenskoordination auf den Sachplan geologische Tiefenlager bezieht. Von wem «Gresch+Partner» den Auftrag erhielt und wie die Aufgabenbeschreibung lautete, ist nicht bekannt. Tatsache ist aber, dass die Nagra in massgebendem Umfang an der Erarbeitung des Sachplans beteiligt war, wie auch zwei der Autoren unabhängig voneinander bezeugen können. Die technisch-wissenschaftliche Autorenschaft ist eindeutig geklärt.[4]
Man kann sich natürlich darüber streiten, wie sinnvoll es ist, wenn die zu kontrollierende Institution das inhaltliche Konzept schreibt, nach dem sie überwacht wird. Was aber jedenfalls nicht geht, ist, dass dieses Faktum von den zuständigen Behörden und der Nagra verschleiert wird. Dennoch wird die Entstehungsgeschichte von offizieller Seite nirgends dokumentiert und weder von der Autorenschaft noch den zuständigen Behörden bestätigt noch abgestritten. Eine Mauer des Schweigens umgibt diesen zentralen Konzeptionsschritt wie auch das Netz, in dem dieses entstand.
3 Die Folgen dieser falschen Konzeption
Doch die grundlegenden Probleme eines solchen, Interessen geleiteten Vorgehens zeigten sich schon bald: zunächst an den völlig unrealistischen Umsetzungs-Zeitplänen, die während Jahren immer wieder korrigiert und die Zukunft hinausgeschoben werden mussten. Vor allem aber auch an der Konzeption selber: die Nagra-Planer hatten ein äusserst umstrittenes Vorgehen gewählt, das in der Folge immer wieder Gegenstand der Kritik von Experten und von Regionen war. Die Planung setzte in erster Linie auf Sicherheitsanalysen und danach auf die Lösung der Probleme an der Oberfläche (Oberflächenanlagen, Zugangsbauwerke zum Lager), statt die Probleme geordnet von unten anzupacken: nämlich zuerst die Geologie umfassend abklären, dann die Lagerkonzepte ausarbeiten, danach die Sicherheitsanalysen durchführen bzw. verifizieren und schliesslich die benötigten Infrastrukturen definieren. So aber rechnete die Nagra zuerst die Standorte strahlungsmässig als unbedenklich vor (Sicherheitsanalysen in Etappe 1), studierte sodann vor allem die Zugänge zum Lager (Schachtanlage, heisse Zelle usw. Etappe 2, teils auch Lagerkonzepte) um am Schluss die Geologie bohrmässig zu erschliessen (Bohrungen und Geologie, teils 3D-Seismik, Anpassungen Lagerkonzept, Etappe 3).
Vor allem das Hinausschieben der Erkundungsarbeiten ans Ende des Suchprozesses führte zur Mehrung ernsthafter Probleme. Denn für einen der Standorte – dem Zürcher Weinland – hatte sich die Genossenschaft bereits seit langem als Standort für ein Lager für hochaktive Abfälle entschieden. Über drei Jahrzehnte favorisierte die Nagra eindeutig diese Region. Sie hatte im Jahr 2002 eine vorgezogene Auswahl ausgeführt und dieselbe als Standort für ein Endlager für hochaktive Abfälle beantragt (Antrag 2).[5] In diesem über Jahrzehnte laufenden Verfahren wurden die beiden anderen Gebiete – Nördlich Lägern und Bözberg – eins ums andere Mal deutlich schlechter bewertet und darum in die Rolle von Reservestandorten relegiert. Auch im weiteren Prozess, insbesondere in dem von Bundesrat Moritz Leuenberger verlangten Zusatzbericht – dem sogenannten Optionenbericht – schwang das Zürcher Weinland klar obenaus.[6] Diese durchgehende Priorisierung des Weinlands blieb auch im weiteren Ablauf des Sachplanprozesses bestehen. Eine Zusammenfassung des Verlaufs dieser Priorisierung kann im Buch «Wohin mit dem Atommüll» nachgelesen werden. [7]
So erstaunte es auch nicht wirklich, als im Herbst 2012 die Aktennotiz AN 11-711 mit der Explorationsstrategie der Nagra und der als vertraulich gekennzeichneten Folie 13 durch Indiskretion an die Öffentlichkeit kam und die weitherum altbekannten Standort-Favoriten der Genossenschaft als Zielstandorte genannt wurden: das Weinland als Standort für die hochaktiven Abfälle und der Bözberg für die schwach- und mittelaktiven Abfälle (Abbildung 1).[8] Nördlich Lägern lag einmal mehr deutlich abgeschlagen auf den hinteren Rängen und wurde nach der geplanten Ausführung von nur zwei Bohrungen bereits aussortiert (Doppel-Stop-Zeichen nach Bohrung 2 schräg in Abbildung 1).
Der Foliensatz zeigt im Detail die Ablaufplanung bis zum Zwischenergebnis mit dem Einengungsentscheid (mindestens 2 Standorte pro Kategorie [2×2]) am Ende der zweiten Etappe des Sachplans auf, inklusiv den geplanten internen Berichten und weiterer Aktennotizen (Folie 15).
Abbildung 1: Aktennotiz AN 11-711, Folie 13. Die vorgezogene Priorisierung der Standorte.
ES = Explorationsstrategie; ZNO = Zürich Nord-Ost (Weinland); NL = Nördlich Lägern; JO = Jura Ost (= Bözberg); SR = Südlich Randen; WG = Wirtgesteine; RG = Rahmengesteine.
Nach der Publikation der Aktennotiz beeilte sich die Nagra, den Foliensatz als «modellhaften Ablauf mit hypothetischen Resultaten» ohne jeglichen Bezug zur Realität darzustellen,[9] der für die Kostenstudie verwendet worden sei, den die Nagra alle 5 Jahre beim Bund einreichen müsse. Das Bundesamt für Energie (BFE) folgte dieser Darstellung und liess sich «überzeugen» [10], ohne auch nur eine externe Prüfung des Dokuments durch unabhängige Fachleute vornehmen zu lassen. Die Genossenschaft wiederholte in öffentlichen Erklärungen, das Papier sei «kein Plan für unser weiteres Vorgehen»[11] Thomas Ernst, damaliger Geschäftsführer der Nagra, erklärte sogar, «als Ergebnis der Etappe 2 werden sicher mehr als zwei Standorte weiterverfolgt werden. Es werden sicher zwischen drei und fünf sein, und sicher nicht zwei». In der Nagra wisse noch niemand, welches diese Standorte sein würden.[12]
Am 30. Januar 2015 gab die Nagra den – einmal mehr um Jahre verzögerten – Einengungsentscheid an einer grossen Medienkonferenz in Bern bekannt. [13] Dieser 2×2-Entscheid fokussierte nicht nur auf 2 Standorte, statt der von Thomas Ernst prognostizierten 3 bis 5, sondern nannte auch die gleichen beiden, die schon in der Aktennotiz favorisiert worden waren: das Zürcher Weinland und den Bözberg. Man war also wieder auf Kurs mit der Aktennotiz AN 11-711. Und diesmal gab es keine Rechtfertigung mit einer Kostenstudie. Die Nagra hatte tatsächlich die gleichen Standorte vorgeschlagen, die in der als vertraulich gekennzeichneten Folie der Aktennotiz festgelegt worden waren.
Die Fokussierung auf die beiden von der Nagra gesetzten Standorte löste bei den Behörden grosses Unverständnis aus. Das ENSI kündigte eine Überprüfung der Entscheide an, ebenso die beiden «überraschten» Kantone Zürich und Aargau.[14] In der am gleichen Tag veröffentlichten Medienmitteilung des Regierungsrats des Kantons Zürich hiess es etwa, die Kantone hätten die Nagra immer aufgefordert, einen ähnlichen Tiefgang der Untersuchungen in allen zur Auswahl stehenden Regionen zu gewährleisten. Eine Forderung, die der Verein KLAR Schweiz aus dem Weinland ähnlich beurteilte.[15] Allerdings äusserte KLAR SCHWEIZ auch seine Zweifel, dass das Suchverfahren «nicht ergebnisoffen geplant wird». Zudem beeilten sich ENSI und die betroffenen Kantone zu betonen, dass Überprüfungen durch ihre Fachleute vorgesehen seien.
Die Deckungsgleichheit der berücksichtigten Standortvorschläge zwischen Aktennotiz und 2×2-Entscheid wurde jedoch nicht untersucht. Zumindest nicht in offiziellen Schriften. Wie die Spatzen von den Dächern pfeifen wurde das Thema aber bei den Kantonen intern intensiv diskutiert. Bundesbehörden, Aufsichtsbehörden, Kommissionen, und schliesslich auch Kantone und ihre Administrationen nahmen den Ball jedoch bewusst nicht auf und forderten keine Untersuchung. Man schwieg in altbekannter helvetischer Tradition. Dass sich keine dieser Institutionen öffentlich mit der Aktennotiz und den 2×2-Entscheid auseinandersetzte, und eine Untersuchung anordnete, ist insofern erstaunlich, weil die AN 11-711 äusserst zielführende Spuren freigibt, die es ermöglichen würden, die Fakten zu überprüfen. In den Folien 15 und 16 der Aktennotiz wird die weitere Ablaufplanung für Etappe 2 und für die Vorbereitung auf Etappe 3 nämlich dargelegt (Abbildung 2).
Abbildung 2: Aktennotiz AN 11-711, Folie 16. Ablaufplanung Etappe E2 und Vorbereitung Etappe E3.
Die unterschiedlichen Aufgaben werden durch interne Berichte und Planungen unterlegt. Ende Dezember 2011 sollte ein Nagra interner Bericht (NIB) zur Explorationsstrategie vorliegen. Ende Februar 2012 dann eine weitere Aktennotiz zu den Explorationszielen. Im April 2012 sollten die Beiträge zu dieser weiteren Aktennotiz folgen, mit einer Ziel-Mittel-Matrix. Anfangs Juni dann noch eine weitere Aktennotiz zum Explorationskonzept der Etappe 3 inkl. Bohrstandorte. Und schliesslich Ende Juni 2012 eine Vorstellung dieses Vorgehens beim ENSI und die Verfassung eines weiteren Nagra internen Berichts (NIB) zum Explorationskonzept Etappe 3. Die formalen Sondiergesuche sollten im Juni 2012 vorliegen Und hinter den meisten dieser Arbeiten waren die Initialen der hierfür vorgesehenen Mitarbeiter fein säuberlich notiert: Mhh, Fbe, Web, Mlhe! Alles bestens bekannte Kollegen der genannten Behörden.
Es war und ist somit auch heute im Grunde einfach, den Suchprozess zwischen Aktennotiz AN 11-711 bis zum 2×2-Entscheid anhand interner Dokumente der Nagra zu verifizieren und die Frage anzugehen, wie das Suchverfahren tatsächlich geführt wurde. Diese Transparenz und die Frage nach der tatsächlichen Ergebnisoffenheit des Prozesses müsste sicher auch ganz im Sinne der neuen Nagra-Führung im Verwaltungsrat und an der Spitze der Genossenschaft selber sein, um sich von den unschönen Praktiken ihrer Vorgänger klar zu distanzieren.
4 Prozessvorgang und Bruchlinien
Wie also muss die Auswahl des Standort Nördlich Lägern beurteilt werden? Die Kantone und allen voran der Kanton Zürich und seine Behörden haben nach dem 2×2-Entscheid der Nagra alles getan, um das Suchverfahren auf den Standort Nördlich Lägern auszurichten. Deren Anleitung dazu ist der Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra und die diesem Fachbericht beigelegten Fachgutachten.[16] Die Arbeitsgruppe Sicherheit der Kantone (AGSiKa) und ihre Expertengruppe Sicherheit (KES) fokussierten dabei auf 4 Problempunkte: die seismischen Untersuchungen und die Tektonik, die Tiefenerosion, die geomechanischen Modellvorstellungen und die Auswirkungen auf die bautechnische Machbarkeit eines Tiefenlagers sowie die Gleichwertigkeit der Standorte aufgrund von Dosisberechnungen. In allen vier Bereichen wurde harsche Kritik laut: Wieder einmal hatte die Nagra den Zeitpunkt für 3D-reflexionsseismische Untersuchungen verpasst. Bei der bautechnischen Machbarkeit wurde bemängelt, dass falsche Prämissen und mangelhafte Schlüsse in der Argumentation zu einer verfehlten Interpretation geführt hätten, was die Machbarkeit eines Tiefenlagers in grösseren Tiefen angehe. Die Erosionsszenarien seien unvollständig und die bisherige Gewichtung an den Standorten nicht haltbar. Und schliesslich seien die Gleichwertigkeit der Standorte bezüglich der berechneten freigesetzten Dosen nicht belastbar. Allen anderen Entscheiden gab die AGSika gute Noten: keine Einwände zur Zurückstellung von anderen Wirtgesteinen und den Standortgebieten Wellenberg, Jura-Südfuss und Randen. Diese Argumentationslinie blieb im Wesentlichen bis zum Abschluss der Untersuchungen der 3. Etappe und dem Entscheid zugunsten des Standortgebiets Nördlich Lägern bestehen.
Die harte Kritik der AGSiKa und ihre Wirkung auf die Entscheide des Ausschusses der Kantone bzw. der Bundesbehörden, was den Ausschluss des Standortgebiet Nördlich Lägern angeht, stellen eine offensichtliche Bruchlinie im Suchprozess dar. Diese zeigt sich genau im Moment, als die Nagra ihre Einengung gemäss den Vorstellungen der Aktennotiz AN 11-711 umsetzt. Die Reaktion der Kantone ist gemessen an schweizerischen Verhältnissen und Tonalitäten harsch. Es kommt zu einem Machtkampf zwischen den kantonalen Institutionen und der Nagra, das mit einem klaren Verdikt zugunsten der Kantone und ihrer Fachleute endet. Aus dieser Perspektive könnte man von einem guten Ende des Prozesses sprechen. Dass dies so nicht ist und Zweifel an der Korrektheit des Prozesses bestehen, hängt mit einer Anzahl von und fragwürdigen Entscheiden und Fehlern zusammen.
Von den inhaltlichen Argumenten überzeugt das Vorgehen der Kantone nicht vollständig. Sie schlossen etwa die Kriterien 2.4, Nutzungskonflikte[17], wie auch 3.2 und 3.3, Explorierbarkeit der räumlichen Verhältnisse und Prognostizierbarkeit der Langzeitveränderungen, einfach aus. Als Grund dafür gab die AGSiKa die Komplexität der Materie und knappe eigene Mittel an.[18] Aber dadurch schlossen sie eine Diskussion über den Permo-Karbon-Trog (PKT), das Vorhandensein von Rohstoffen und die Zweckmässigkeit einer Errichtung eines Endlagers über einem solchen Trog einfach aus. Dieses Vorgehen erinnert an den historischen Ausschluss der Diskussion um die Eignung des tiefliegenden Kristallins, der zu Beginn der achtziger Jahre von der Nagra ebenfalls boïkottiert wurde. Mit bösen Folgen wie jedermann weiss: das Programm musste anderthalb Jahrzehnte später aufgegeben werden, mangels Eignung des geologischen Untergrundes. Die Diskussion um die Nutzungskonflikte mit Ressourcen im Permo-Karbon-Trog wird sich weder mit Gutachten des ENSI[19] noch mit der fehlenden Offenlegung der Bohrungsdaten der Nagra verhindern lassen: was es braucht sind – wie bei jeder Erkundung von Standorten – weiterführende Felduntersuchungen, zu denen zwingend auch Tiefbohrungen gehören müssen.[20] Gegenwärtig haben Abklärungen zu möglichen Gasvorkommen in Speichergesteinen des Permo-Karbon-Trogs dabei Priorität.
Dramatischer sind jedoch die Defizite in der Führung des Prozesses. Weder Kantone noch Bundesbehörden, allen voran das Bundesamt für Energie, haben die Folgen des 2×2-Entscheides der Nagra und die Deckungsgleichheit der Einengungsentscheids mit der Aktennotiz AN 11-711 öffentlich hinterfragt und dafür gesorgt, dass dieser Prozess lückenlos aufgeklärt wird. Die Wirkung der fehlgeleiteten Prozesse auf die Bevölkerung der Standortregion Nördlich Lägern wurde dabei vollkommen ausgeblendet: Ausschluss der Region durch die Nagra im Januar 2015, Wiedereinführung der Region durch den Eingriff der Kantone (und danach des ENSI und des BFE), schliesslich Wahl des immer als Reservestandorts bezeichneten Gebiets als bestes und geeignetes Gebiet. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Prozessführung ist beschädigt. Das Vorgehen unprofessionell. Und die Wirkung desaströs: Man kommt nämlich nicht darum herum, von einem kontaminierten Prozess zu sprechen, bei dem essentielle Vorgehensweisen einfach falsch angepackt wurden. Die Autoren dieses Blogs weisen seit Jahrzehnten auf die Notwendigkeit von strukturellen Verbesserungen und der Einführung einer Fehler- und Sicherheitskultur hin, die einen solchen Namen verdient. Ohne die notwendigen Reformen in diese Richtung wird sich die Glaubwürdigkeit dieses Suchprozesses nicht wiederherstellen lassen.
Schliesslich ist auch das Vorgehen der Nagra unhaltbar, den Standortentscheid vorzunehmen, ohne die dazugehörenden Unterlagen zu publizieren. Die wesentlichen Expertisen und Gutachten liegen der Öffentlichkeit nicht vor, weder die Berichte zur Seismik und zu den Bohrkampagnen noch jene zu den Analysen und den definitiven Sicherheitsgutachten. Ein Manko, das der Wissenschaftlichkeit des Prozesses schadet und vom heutigen Nagra-Präsidenten und ehemaligen ETH-Präsidenten Lino Guzzella nicht hätte hingenommen werden dürfen. Die Auswahl der Standortregion ist bei deren Veröffentlichung nicht überprüfbar. Ein schlichtweg unakzeptables Vorgehen für ein wissenschaftliches Programm.
Einmal mehr wiederholen sich im Sachplan die Defizite, die seit jeher der Standortsuche in diesem Land anhaften. Strukturelle Probleme in der Aufstellung und den Abhängigkeitsbeziehungen der Entsorger, eine in technisch-wissenschaftlichen Fragestellungen fachlich überforderte Führungsstruktur im BFE; schwache Kontrollstrukturen, die keine Verfügungsgewalt im Planungsprozess haben, und schliesslich eine Verwischungskultur bei der Prozessführung, die Fehler zudeckt, statt diese offen zu legen und zu korrigieren.
5 Scherbenhaufen
Wie dem auch sei: was sich nun wieder abzeichnet ist der nächste Scherbenhaufen im jahrzehntelangen Suchverfahren nach Endlagern und geologischen Tiefenlagern für radioaktive Abfälle. Die Liste der Projektleichen ist lang. Anhydritgesteine des Jura und der Alpen, das tiefe kristalline Grundgebirge der Nordostschweiz mit seinem Projekt «Gewähr», diverse Wirtgesteine in allen alpinen Gegenden für schwach- und mittelaktive Abfälle (Ollon, Piz Pian Gran, Oberbauenstock), schliesslich ein durch die Hintertür eingeführter Wellenberg, der sowohl politisch wie geologisch scheiterte. Und nun ein Standortentscheid, dem der Ruch der Kontamination und Manipulation anhaftet und alles andere als offen und ergebnisoffen geführt wurde. Und dessen Qualität noch weit davon entfernt ist, gesichert zu sein. Auch für das Gebiet Nördlich Lägern gilt: Die geologischen Unsicherheiten sind trotz seismischen Untersuchungen derart beträchtlich, das jede grössere Abweichung vom geologisch Erwarteten das Ende dieses Projekts bedeuten kann, wie die zahlreichen vorherigen Beispiele zeigen. Wenn man Abweichungen dannzumal überhaupt noch zulassen kann.
Zeit also das zu tun, was schon längstens hätte gemacht gehört: das gesamte Programm einmal von Grund auf zu überprüfen und die mehr als fällige Strukturreform der nuklearen Entsorgung an die Hand zu nehmen. Die Deckungsgleichheit der AN 11-711 und der 2×2-Entscheid der Nagra und der Weg zum finalen Entscheid für Nördlich Lägern gehört zwingend untersucht und beurteilt. Konsequenzen aus Fehlverhalten sind zu ziehen. In struktureller Hinsicht gehört die Nagra von der Atomwirtschaft abgespalten und in einen unabhängigen Status überführt. In einer derart unbeständigen Welt und zu einem Zeitpunkt, da nun schon die zweite grosse Kernkraftgesellschaft den Bund um Finanzhilfe bitten muss, wäre es an der Zeit, die gesamte Entsorgungskette – Zwischenlager des Bundes wie der Elektrizitätswirtschaft sowie die Entsorger – neu unter der Schirmherrschaft des Bundes zu stellen. Aber nicht nur: glaubwürdige Strukturen sind eine Seite der Medaille, genauso wichtig ist eine kompetente Führung eines solch komplexen Programms. Auch in diesem Feld gibt es noch sehr viel Luft nach ob
[1] Sachplan geologische Tiefenlager, https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/kernenergie/radioaktive-abfaelle/sachplan-geologische-tiefenlager.html (2.6.2022)
[2] ENSI, Sachplan geologische Tiefenlager, https://www.ensi.ch/de/themen/sachplan-geologische-tiefenlager/
[3] Gresch Partner 2022, https://www.greschpartner.com/kundenliste.php (2.6.2022) und https://www.greschpartner.com/bereich_raumplanung.php (2.6.2022)
[4] Buser, M. 2019. Wohin mit dem Atommüll? Rotpunkt-Verlag. S. 127 und Anmerkung 377: Persönliche Mitteilung Piet Zuidema, Nagra, 2011.
[5] Nagra,, 2002. Projekt Opalinuston. Konzept für die Anlage und den Betrieb eines geologischen Tiefenlagers – Entsorgungsnachweis für abgebrannte Brennelemente, verglaste hochaktive sowie langlebige mittelaktive Abfälle, Nagra Technischer Bericht 02-02.
[6] Nagra, 2005. Geologische Tiefenlagerung der abgebrannten Brennelemente, der hochaktiven und langlebigen mittelaktiven Abfälle. Darstellung und Beurteilung der aus sicherheitstechnisch-geologischer Sicht möglichen Wirtgesteine und Gebiete, Nagra Technischer Bericht 05-02.
[7] Buser, M. 2019. Wohin mit dem Atommüll? Rotpunkt-Verlag. S. 169.ff.
[8] Nagra, 2011. Abstimmungsbesprechung Explorationsplanung. Explorationsstrategie, Planung 2012. Aktennotiz AN 11-711. 18. November 2011.
[9] Sonntags-Zeitung 2012. Nagra-Strategie: Lagerorte bestimmt?, 7. Oktober 2012; Buser, M. 2019. Wohin mit dem Atommüll? Rotpunkt-Verlag. S. 173
[10] Buser, M. 2019. Wohin mit dem Atommüll? Rotpunkt-Verlag. S. 176-177
[11] az Baden, 2012. Rote Fahnen wehen vor der Nagra, 11. Oktober 2012
[12] Schaffhauser Nachrichten, 2012: Nagra-Papier verunsichert, 8. Oktober 2012; Schaffhauser Nachrichten, 2012. Interview: Thomas Ernst, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Nagra, 9. Oktober 2012
[13] Tagesschau SRF, 30.01.2015. https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-30-01-2015-1930?urn=urn:srf:video:f0fc5bd1-29f7-4b9e-a358-99d53e2c655a
[14] Medientmitteilung Regierungsrat Kanton Zürich, 30. Januar 2015. Sachplan geologische Tiefenlager: kein Standortgebiet darf zu früh ausgeschlossen werden.
[15] KLAR Schweiz, 30.01.2015. Medienmitteilung zum 2×2-Vorschlag der Nagra.
[16] AGSiKa/KES 2016. Sachplan geologische Tiefenlager. Etappe 2. Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra, Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AGSiKa), Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), https://www.ag.ch/media/kanton-aargau/bvu/raumentwicklung/projekte/sachplan-geologisches-tiefenlager/fachbericht-vom-11-januar-2016.pdf
[17] «Beurteilt werden die nutzungswürdigen Rohstoffe und die sich daraus allfällig ergebenden Nutzungskonflikte. Insbesondere wird beurteilt, ob im oder unterhalb des Wirtgesteins bzw. des einschlusswirksamen Gebirgsbereiches aus heutiger Sicht wirtschaftlich nutzungswürdige Rohstoffe (z.B. Salz-, Kohlenwasserstoffe, Geothermie, Mineralquellen und Thermen) im besonderen Masse vorkommen. Beurteilt wird ferner, ob die Erschliessung und Nutzung der Rohstoffe die Barrierenwirkung des Wirtgesteins beeinträchtigen (Schichtverletzung) oder das Lager direkt treffen könnte.»
[18] AGSiKa/KES 2016. Sachplan geologische Tiefenlager. Etappe 2. Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra, Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AGSiKa), Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), S. 6
[19] Frage 125: Kriterien zur Anwesenheit von Kohlenwasserstoffen im Untergrund eines Lagerstandortes SMA oder HAA, https://www.ensi.ch/de/technisches-forum/kriterien-zur-anwesenheit-von-kohlenwasserstoffen-im-untergrund-eines-lagerstandortes-sma-oder-haa/
[20] Beiträge Nuclearwaste.info: • https://www.nuclearwaste.info/wp-content/uploads/2015/03/MemoStandortwahl.pdf ;
• https://www.nuclearwaste.info/standortkriterium-rohstoffe-und-nutzungskonflikte/
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