Von Marcos Buser
Die Duale Strategie (Teil 2.2)
Die bisherigen Ausführungen haben die Massnahmen im Bereich der strategischen Planung und der Sicherung des bestehenden Abfallinventars erläutert. In den folgenden Ausführungen werden drei weitere konkrete Schritte zur Umsetzung der dualen Strategie erläutert.
Erarbeitung weiterer Lösungswege und Nachweis in Demonstrationsanlagen: Ein weiterer zentraler Bestandteil der dualen Strategie ist die Suche nach weiteren Lösungsmöglichkeiten sowie die in klaren Phasen unterteilte Umsetzung. Das Konzept der Tiefenlagerung muss erweitert werden. Dazu gehört die Weiterentwicklung von Lagerkonzepten im Untergrund in Tiefen von bis zu mehreren Kilometern (bis > 5 km). Es sind vor allem zwei Gründe, die zu dieser Überlegung führen. Zum einen stellen sich grundlegende Sicherheitsfragen mit der rasanten technischen Entwicklung in Zusammenhang mit der Nutzung des Untergrundes. Diese Fragen wurden bisher entweder nicht wirklich erkannt oder sie wurden weitgehend ausgeblendet. Die technischen Möglichkeiten zur Erkundung und Erschliessung des Tiefuntergrundes haben heute bereits einen Stand erreicht,[1] der eine Ausleuchtung der künftigen Prospektionstechniken und Nutzungspotentiale als unabdingbar erscheinen lässt. Zum anderen sprechen hydrogeologische Überlegungen dafür, entsprechend konditionierte Abfälle in grösseren Tiefen abzulagern, da der Austausch von hoch mineralisierten Tiefenwässern mit höher liegenden Grundwässern, die potentiell für die langfristige Trinkwassernutzung von Interesse sind, tendenziell heruntergesetzt ist. Der Schutz von möglichen, auch tiefer liegenden Trinkwasserreserven (bis über 1’000 m) hat höchste Priorität.
Minen bis in mehrere Kilometern Tiefe (bis 4 km) können heute rein technisch gesehen geplant und betrieben werden (siehe z.B. Gold-, Kupfer- und Diamantenminen in Südafrika und Kanada[2]). Natürlich sind die bergmännischen Anforderungen an die tiefliegende Struktur eines Tiefenlagers grundlegend anders, als für ein Bergwerk in 500 bis 1000 m Tiefe. Aber die diversen staatlichen Entsorgungsprogramme und die Forschung und Entwicklung sollten diese Option zumindest aufgreifen und vertieft untersuchen. Eine 40 Jahre alte Bergwerkslösung im untiefen Bereich von 500 m als einzige Alternative für ein Tiefenlager ist angesichts der rasch sich wandelnden technisch möglich gewordenen Untergrundnutzung in grösseren Tiefen definitiv zu wenig.
Ein letztes Wort zur Intrusion (das Eindringen durch den Menschen): Die Intrusionsproblematik ist ein zentrales Element für die Langzeitsicherheit: es nützt der Sicherheit wenig, wenn auch das „dichteste“ Ton- oder Salzgestein gefunden wird, aber waffenfähige Materialien mit der dannzumal (und heute bereits) vorhandenen Technik geborgen werden können. Es braucht darum inter- und transdisziplinäre Analysen, um Strategien im Umgang mit diesen Abfällen wie auch Lösungen für die Bewältigung der bestehenden Probleme zu entwickeln.
Natürlich sind die gleichen Sicherheitsanforderungen an tiefer liegende Lösungen zu stellen: das Mehrfachbarrieren-Konzept bleibt als Grundkonzeption gültig, sollte aber weiterentwickelt werden. Wesentliche Fortschritte müssten in den Lagerkonzeptionen und den Konditionierungstechniken der hochaktiven Abfälle angestrebt werden, was andere Einschlusskonzepte und –Techniken sowie die Entwicklung und den Einsatz anderer Einschluss- und Dichtungsmaterialien und Behälter voraussetzt. Die hydrogeologischen Verhältnisse in tiefen Schichten (Charakterisierung von tiefen Grundwässern, Fliesscharakteristiken bzw. Stagnation, usw.) müssen ebenfalls umfassend abgeklärt werden. In allen diesen Feldern besteht grosser strategischer und konzeptueller Nachholbedarf. Schliesslich sei auch darauf verwiesen, dass kein Untergrund-Lagerprojekt ohne Demonstrationsprojekte, welche die Machbarkeit und die Sicherheit über längere Zeitphasen nachweisen, auskommen kann. Es braucht also eine Umsetzung der Projekte via Pilotphasen. Dies setzt eine Umkehrung der Realisations-Logik voraus: zuerst Demonstration via Pilotanlagen im industriellen Massstab über die entsprechend erforderlichen Zeiträume mit Platzierungs- und Bergungsversuchen mit realen radioaktiven Abfallkanistern, und erst danach Umsetzung im Grossmassstab. Das ursprüngliche EKRA-Konzept mit dem Pilotlager wird bei der dualen Strategie also diesen Anforderungen angepasst.
Es sei darauf hingewiesen, dass genau diese Strategie durch Pilot-Demonstrationsanlagen in den 1950er Jahren und darüber hinaus von den Architekten der Atomenergie vorgeschlagen wurde. Kein geringerer als der Präsident der USA, Ike Eisenhower, sprach sich im UNO-Sicherheitsrat für eine „Pilotanlage zur Produktion von Kernenergie“ aus. Wie der Historiker Roland Koller in seiner äusserst detaillierten Analyse darlegt, warnte Eisenhower vor dem politischen Risiko eines Misserfolgs: „Wenn die Nachricht von diesem Vorhaben um die Welt ginge“, und die USA nicht in der Lage wären, es erfolgreich zu verwirklichen, würde dies „vernichtend“ wirken.[3]
Die miserablen Erfahrungen mit der vielfach versprochenen und nicht eingehaltenen Reversibiltät der Entscheide und der Rückholbarkeit bzw. der konkreten Bergung von versenkten Abfällen stellt die Glaubwürdigkeit der bisherigen Konzepte und Projekte ebenfalls auf den Prüfstand. Gelingt es nicht, schwach- und mittelaktive Abfälle aus dem Bergwerk Asse zu bergen bzw. die relativ einfach zu rückzubauenden chemo-toxischen Abfälle aus der Untertagedeponie Stocamine (Elsass) zurück zu holen, dürfte das von der Nuklearindustrie propagierte Konzept des Tiefenlager-Bergwerks auf 500 m Tiefe mit Option auf Reversibilität schweren wenn nicht sogar irreparablen Schaden erleiden. Ein havariertes Endlagerbergwerk das zum Sanierungsfall wird, kann nicht als Modell für eine Entsorgungsindustrie in der Tiefe dienen. Reversibilität, Rückholbarkeit und Bergbarkeit sind Schlüsselbegriffe für die gesellschaftliche Akzeptanz von Tiefenlagerprojekten. Können sie nicht oder nur partiell umgesetzt werden, muss die Konzeption des Tiefenlagers in 500m Tiefe als gescheitert betrachtet werden. Auch in diesem Falle gilt: ohne erfolgreich durchgeführte Demonstrationsprojekte für die Bergung von Abfällen kann keinem Tiefenlagerprojekt zugestimmt werden.
Obschon nationale Entsorgungslösungen heute aus politischen Gründen und Gründen der Akzeptanz präferentiell verfolgt werden, soll die Option auf gemeinsame Projekte erneut geprüft und wenn möglich vorangetrieben werden, immer unter der Voraussetzung, dass höchste Sicherheitsanforderungen berücksichtigt und tatsächlich umgesetzt werden. Die Grenzziehung heutiger Länder kann sich sehr schnell verändern.
Organisationsstrukturen und Prozesssteuerung: Die missliche Situation im Bereich der nuklearen Entsorgung spiegelt die Defizite der bisherigen Organisation von Entsorgungsprogrammen wieder. Die zuständigen Organisationen und Institutionen sind mit den bestehenden Programmen oft überfordert – und zwar unabhängig davon, ob sie nun als Institutionen der Atomwirtschaft oder als staatliche Administrationen organisiert sind. Das schweizerische oder schwedische Modell des Verursacherprinzips, das einer interessengetriebenen Industrie weitestgehende Befugnisse in der Programmgestaltung zuweist und schwache Kontrollbehörden installiert, hat ausgedient. Einer auf kurz- und mittelfristige Ziele ausgerichteten Wirtschaft darf in keinem Fall Verantwortung über langfristig gefährliche Stoffe gegeben werden.
Ein grundlegender struktureller Wandel mit einer tiefgreifenden Reorganisation der Strukturen ist darum zwingend erforderlich. Not tun insbesondere andere Haltungen der involvierten Administrationen, Kommissionen und Firmen bezüglich dem Umgang mit dem radioaktiven Legat sowie eigenständig denkende, und der Sache verpflichtete Experten und Expertengremien. Anders gesagt: weg von ausgetretenen Pfaden und der Wiederholung einer jahrzehntelangen Praxis der Fehlschläge hin zu weitsichtigeren, klüger handelnden und reformfähigen Strukturen. Dies erfordert auch eine grundlegend andere Prozessführung. Nicht die Menge sondern die Qualität der involvierten Institutionen und des dabei eingesetzten Personals ist dabei entscheidend. Denn es besteht bei zu viel eingebundenen Institutionen mit engem Pflichtenheft die Gefahr, dass die Probleme von Institution zu Institution und von Kommission zu Kommission zerredet werden. Dies behindert die Suche nach Lösungsansätzen und erschwert es, weitsichtige Strategien festzulegen, Fehler frühzeitig zu orten und entsprechende Korrekturen vorzunehmen.
Wesentlich für einen Erfolg sind die Qualität der Prozessführung und die Programme zur Qualitätssicherung sowie Institutionen, die diese durchsetzen, auch gegen den Willen etablierter Kreise. Starke Kontrollbehörden mit ausgedehnten Befugnissen mit einer funktionierenden Sicherheits- und Fehlerkultur, sind zwingend. Das bisherige Vorgehen durch Versuch und Irrtum („Trial and error“-Prinzip) einer Entsorgungs-Lösung näherzukommen, ist aufzugeben. Ein Schritt auf diesem Weg wäre etwa, dass die bisherigen Fehlschläge umfassend und ohne Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten aufgearbeitet und analysiert würden, und zwar im Sinne eines Lernens aus den Fehlern der Vergangenheit. Ebenso gehört dazu auch die Fähigkeit, die Strukturen langfristig zu erneuern, was umfangreiche Schulungen des Personals und den Nachzug von jungen Fachpersonen und anderen Beteiligten bedingt. Die bestehenden Strukturen haben in diesen Punkten bisher weltweit versagt.
Rolle der Zivilgesellschaft: Die bisherige Geschichte um oberirdische Atombombentest und atomare Aufrüstung, um Kraftwerke und Wiederaufarbeitungsanlagen oder um Endlagerprojekte zeichnet sich immer wieder durch eine starke Präsenz und ein grosses Engagement der Zivilgesellschaft aus. Es sind häufig nicht die offiziell mit diesen Programmen und Anlagen betrauten Institutionen, welche in der Vergangenheit Sicherheitsfragen und -probleme aufgeworfen und Korrekturen verlangt und erreicht haben, sondern die nicht institutionalisierte Zivilgesellschaft. Die sogenannten „Laien“ haben des Öfteren mehr Klarheit und Weitsicht bewiesen, als die sogenannten Experten und ihre Gremien. Diese Feststellung wirft grundsätzliche Fragen nach der Unabhängigkeit von Administrationen und Expertengremien auf und bedarf ebenfalls einer Aufarbeitung.
In der langen Geschichte von gescheiterten Entsorgungsprojekten haben die verantwortlichen Institutionen immer wieder versucht, ohne eine wirkliche Einbindung der lokalen und regionalen Bevölkerung Endlagerprojekte voran zu treiben beziehungsweise umzusetzen. Das grundlegende Misstrauen der tangierten Regionen, das sich mittlerweile überall gegenüber Standortsuchprogrammen artikuliert, ist die Folge dieser kurzsichtigen Politik. Die mittlerweile in vielen Projekten eingeleiteten Bestrebungen, betroffene Regionen via Partizipationsgremien in die Entscheidungsfindung einzubinden, ist zwar ein erster löblicher Schritt in die richtige Richtung, geht aber zu wenig weit.
Die bisher verfolgten Konzepte in den Standortregionen, bei denen die betroffene Bevölkerung nichts zur Sicherheit zu sagen haben soll, sind weder sach- noch zeitgemäss. Die Zivilgesellschaften an den Standorten werden in einer völlig anderen Art und Weise in einen langfristigen, generationenübergreifenden Prozess einbezogen werden müssen, auf Augenhöhe mit den offiziell betrauten Institutionen, ausgestattet mit Rechten, Pflichten, Entscheidungskompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten. Dies gilt auch für die sicherheitstechnischen Aspekte der Konzepte und Projekte. Nehmen die offiziellen Institutionen diese Grundbedingung nicht auf, wird jedes Entsorgungsprojekt, wie bisher und wo auch immer in der Welt, scheitern.
Tiefenlager welcher Art auch immer bedürfen einer langfristigen Überwachung und Erinnerungskultur. Der Schutz gegen menschliche Intrusion eines tiefen Lagers ist eine zentrale und langfristige Sicherheitsaufgabe. Deshalb sind die tangierten Regionen bewusst möglichst weitgehend in diesen Überwachungs- und Erinnerungsprozess einzubinden. Für diese spezifischen Aufgaben sollten die staatlichen Institutionen den Regionen gezielt Verantwortung und Entscheidungskompetenzen übertragen. Standortregionen müssen sich hinter ein Projekt stellen können, auch aus der Überlegung heraus, dass sie die „Hüte“-Aufgaben, für die sie einstehen sollten, an die nächste Generation weitergegeben werden sollen. Die Shinto-Tempel in Japan und ihre Neuerrichtung im Generationenrhythmus (z.B. Ise) sind gute Beispiele für eine funktionierende Tradierung von Wissen.
Der Aus- und Abgleich von Verantwortlichkeiten zwischen zentralen staatlichen Institutionen und regionalen Gemeinschaften bedarf möglichst stabiler Strukturen und Beziehungen in der Zukunft. Ein solches Programm ist nur durch die Einbindung der Betroffenen möglich. Und die Arbeit ist weitgefächert: Überwachung der Untergrundanlagen, Erinnerungskultur und Archive, Sicherstellung von kompetenten Strukturen, langfristig ausgerichtetes Konfliktmanagement, Vorbereiten der Übernahme der Verantwortung durch die nächste Generation, Ausbildung usw.usf. Auch die Sicherstellung von finanziellen Ressourcen gehört dazu, da die Atomindustrie das finanzielle Debakel des nuklearen Abenteuers ohnehin nicht zahlen können wird (noch wollen würde).
Dass es in den Regionen dabei auch zu Reibereien und Konflikten kommen wird, ist abzusehen. Umso mehr sind darum entsprechende Strukturen und ausgleichende Kräfte in einen solchen Prozess einzubinden, die bereit sind, Konfliktsituationen aufzufangen und lösungsorientiert zu bewältigen. Aber Konflikte sind auch dann vorprogrammiert, wenn ein Endlager ohne wirklichen Support der Regionen umgesetzt bzw. wenn dieses zum Sanierungsfall wird (siehe Parallelen zu den Sanierungen von oberflächennahmen Deponien mit radioaktiven Abfällen oder Sondermülldeponien). Aus dieser Perspektive sind ohnehin Methoden der Konfliktsteuerung und –Bewältigung für Standorte für Tiefenlager aufzunehmen und zu entwickeln.
Schlussbetrachtung
Die duale Strategie erfindet die Welt nicht neu. Was sie versucht, ist endlich Ordnung in das heutige Chaos der Entsorgungsplanung zu bringen, indem sie die Probleme und Widersprüche der bisherigen Konzeption aufzeigt und Wege skizziert, wie diese besser bewältigt werden können. Wichtig ist, dass die Vergangenheit mit all ihren Problemen und Fehlern ohne Wenn und Aber aufgearbeitet wird. Dies ist eine Grundlage, auf der eine andere Sicherheits- und Fehlerkultur im Umgang mit diesen gefährlichen Abfällen aufgebaut werden kann. In weiteren Bereichen geht es vor allem darum, die Ordnung der Arbeiten einfach umzukehren: zuerst die Sicherung der Abfälle in langzeitsicheren Anlagen, dann die weiteren Erkundungs- und Ausführungsarbeiten für die definitiven Lösungen; zuerst die Demonstration von Projekten im industriellen Massstab, dann die Umsetzung auf Gesamtprojektebene; zuerst weitere Konzeptionen im Lichte der heutigen technischen Möglichkeiten ergründen, als auf ausgetretenen Pfaden weiter zu stolpern. Die Ausweitung der Lösungsoptionen mit den entsprechenden Forschungs- und Entwicklungsprogrammen ist zwingend. Zwingend ist schliesslich die Pflege einer völlig anderen Kultur im Umgang mit der lokalen und regionalen Bevölkerung. Der duale Ansatz gibt den Standortregionen endlich den Stellenwert, den sie verdienen: nämlich ein Gesprächs- und Verhandlungspartner auf Augenhöhe. Die bisherige Kolonisierungs-Mentalität von Industrie und Behörden, sich gefährlicher Abfälle zu entledigen und deren langfristigen Risiken auf diese Weise in „die Landschaft“ abzuschieben, hat definitiv ausgedient. Verantwortungsvolles Handeln impliziert den Beizug der lokalen und regionalen Bevölkerungen und die Verhandlung über langfristige Rechte und Pflichten. Dass lokale und regionale Gemeinschaften pragmatisch entscheiden, wenn sie beigezogen werden und in die Entscheide eingebunden sind, lässt sich auch bei vielen grösseren Deponieprojekten aufzeigen, sofern diese weitsichtig und offen geführt wurden.
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