(Titelbild: Rathausbrunnen Bülach, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:B%C3%BClach_Rathausbrunnen_02.JPG)
André Lambert, Marcos Buser & Walter Wildi
Der Artikel im «Zürcher Unterländer»
Am 11. Februar 2020 schrieb der «Zürcher Unterländer» unter dem Titel «Nagra sieht im Korallenriff unter Bülach zwar kein Problem, aber auch «keinen Vorteil»»[1]:
Zitat: «. . . . Letzten Herbst gab die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) bekannt, dass sie während ihrer Tiefbohrung unweit von Bülach im Zürcher Unterland auf ein versteinertes Korallenriff gestossen sei. . . . . Die drei Geologen Walter Wildi, Marcos Buser und André Lambert kritisieren die Nagra seit Jahren. In ihrem Blog «Nuclear Waste» schreiben sie auch über das Bülacher Korallenriff. Für die Nagra sei «die Sache wohl eher peinlich», behaupten sie. Das versteinerte Riff stelle als durchlässige Gesteinsschicht, mutmassen sie, einen sogenannten Grundwasserleiter dar: Dieser «könnte nukleare Schadstoffe aus dem Lager über rasche Fliesswege in die Umwelt verbreiten». Damit, schlussfolgern sie, falle die betroffene Zone als Standort für ein Tiefenlager weg.»
Und die Antwort der Nagra auf die obigen Aussagen auf www.nuclearwaste.ch (Zitat «Zürcher Unterländer»): ««Das Korallenriff ist kein Vorteil», sagt Nagra-Sprecher Patrick Studer. Ob und inwiefern es ein Nachteil sei, würden die Laboranalysen zeigen. Denn auch aus dem versteinerten Riff wurde bei der Tiefbohrung ein Bohrkern entnommen, der analysiert wird. Das Bülacher Korallenriff wird laut Studer in den Sicherheitsvergleich einbezogen, sprich: Wenn die drei verbliebenen Endlagerregionen punkto Sicherheit miteinander verglichen werden, werden auch die über die Jahrmillionen zusammengedrückten und versteinerten Korallen berücksichtigt.»
Und, gemäss Patrick Studer, Mediensprecher der Nagra, Zitat «Zürcher Unterländer»: «Wir sind trotz dieses Korallenriffs überzeugt, dass sich Nördlich Lägern für den Bau eines Tiefenlagers eignet». Denn die tonhaltigen Gesteinsschichten, welche zusammen die radioaktiven Abfälle einschliessen sollen, seien so dicht und mächtig, «dass die Schutzziele sogar dann eingehalten würden, wenn das Korallenriff komplett durchlässig wäre». Mit diesen Zielen sind jene gesetzlichen Vorgaben gemeint, um Mensch und Umwelt vor der schädlichen radioaktiven Strahlung über lange Zeit zu schützen.»
Soweit, gemäss «Zürcher Unterländer», die Antwort der Nagra. Unser Eindruck, bzw. unsere Frage hierzu: Versteht die Nagra ihre Aufgabe und die daran gebundenen Rahmenbedingungen nicht, oder mogelt sie? Und was meint dazu die Aufsichtsbehörde ENSI?
Gesetze, Regeln und ihre Perversion
Nagra-Fehler N°1: Das perfekte Wirtsgestein gibt es nicht
Wenn Patrick Studer gemäss «Zürcher Unterländer» postuliert, «dass die Schutzziele sogar dann eingehalten würden, wenn das Korallenriff komplett durchlässig wäre», dann antizipiert er ein Resultat der numerischen Modellierung der maximal tolerierten Individualdosis von 0.1 mSv (gemäss KEV § 4.3.2), welche aus der zu erwartenden Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem Tiefenlager errechnet werden muss. Um diese durch die Kernenergieverordnung geforderte rechnerische Grenze nicht zu überschreiten, bietet das Wirtsgestein Opalinuston der Nord- und Ostschweiz eine (fast) ideale natürliche Barriere: Verschliesst man ein einmal gefülltes Lager im Zentrum der 100 m mächtigen Gesteinsformation in perfekter Weise, so können einmal freigesetzte radioaktive Stoffe im mit Wasser gesättigten Tongestein nur so langsam nach aussen diffundieren, dass das Resultat der berechneten Individualdosis mit grosser Wahrscheinlichkeit den gesetzlichen Forderungen genügen sollte. Damit lässt sich ein projektiertes Tiefenlager im Opalinuston (fast!) überall dort, wo das Wirtsgestein in genügender Mächtigkeit und erforderlicher Zusammensetzung vorkommt, «gesund rechnen»!
Das wäre also die ideale (Modell-)Welt! Nur: Die Natur ist kein Modell. Hier deshalb eine kleine (unvollständige!) Liste möglicher störender Faktoren, mit welchen lokal oder regional in einem Tiefenlager im Opalinuston gerechnet werden muss:
- Das Wirtsgestein ist nicht homogen, sondern zeigt lokal grössere Durchlässigkeit als dies für reines Tongestein zutreffen würde, etwa aufgrund zahlreicher Einschlüsse von durchlässigen Kalk- oder Sandsteinschichten.
- Das Wirtsgestein ist lokal oder regional stärker geklüftet oder gefaltet, als erwartet. Es kann auch durch interne Überschiebungen und/oder durch tektonische Verwerfungen durchlässiger als üblich sein. Stärkere Klüftung kann auch in der unmittelbaren Nähe von seismischen Epizentren erwartet werden.
- Das Wirtsgestein wird lokal oder regional durch Grundwasser durchflossen, namentlich durch aufsteigendes Thermalwasser. Risiken dieser Art sind etwa in den tiefen Salzbergwerken im Werra Gebiet sehr gut belegt (Schwerter 1992, S. 34).[2]
- Das Auffahren der Stollen führt zu einer mechanischen Schädigung des umliegenden Gesteins (Excavation Damaged Zone EDZ), d.h. zu erhöhten Durchlässigkeiten. Ob und wie solche Gesteins-„Auflockerungen“ teilweise oder vollständig über die Gesamtdauer des erforderlichen Einschlusszeitraums verdichtet werden können, muss zunächst einmal experimentell aufgezeigt werden. Heute liegen keine gesicherten Erkenntnisse über solche Verschlüsse vor, insbesondere in der ersten Lagerphase hochaktiver Abfälle mit ihrem hohen thermischen Puls – auch nicht im Rahmen der im Labor Mont-Terri durchgeführten Versuche [3].
- Sollte Grundwasser über die nicht vollständig dichten Zugänge in das Endlager fliessen (Umläufigkeiten vor allem über EDZ), wird sich das wiederholen, was z.B. in der Untertagedeponie Stocamine im Elsass anerkannter Konsens bei allen involvierten Experten ist (siehe Bericht des Copil von 2011 [4]): das Wasser samt einem Teil des gelösten Lagerinhalts könnte dann wieder herausgepresst und an die Umwelt abgegeben werden. Auch dieses Szenario fehlt bisher in den Sicherheitsanalysen.
- Der Bau des Lagers stellt einen enormen geotechnischen Eingriff in das Wirtgestein dar. Werden die Stollen, wie erforderlich, zusätzlich mit Hilfe von Stabilisierungsmassnahmen (Anker, Stahlringe, armierte Betonfundamente, verstärkte Betonauskleidungen, usw.) gesichert, liegt ein über mindestens einen halben km2 sich erstreckendes filigranes und sprödes Bauwerk vor, das in einem plastisch-duktilen Gestein „schwimmt“. Die Auswirkungen einer solchen Lagerkonfiguration muss also zwingend auf die Stressumlagerungen im Gestein und die mögliche Bildung oder Reaktivierung von Störflächen (und wasserleitenden Pfaden) untersucht werden. Bisher fehlt die Analyse solcher Umverteilungen von Druck und Gebirgsverformung in den Risikobetrachtungen und Sicherheitsanalysen.
Hinzu kommen weitere, altbekannte Risiken, welche nicht direkt mit Eigenschaften des Wirtsgesteins selbst, sondern eher mit der Standortregion zusammenhängen:
- Das Wirtsgestein weist eine zu geringe Felsbedeckung auf und kann bei einer künftigen Vereisung durch Tiefenerosion vorstossender Gletscher abgetragen, das Tiefenlager mithin freigelegt werden.
- Das Wirtsgestein liegt über Vorkommen von seltenen und/oder wirtschaftlich interessanten Rohstoffen wie Salz, Erz, Kohle und/oder Kohlenwasserstoffen (Erdöl oder Erdgas).
- Der Lagerstandort steht in Kompetition mit andern Nutzungsformen (Geothermie, unterirdische Transportwege, Tiefenlagerung von CO2, . . .).
- Der Zugang oder die Überwachung des Lagers ist erschwert, riskant, oder unmöglich.
Diese und weitere Störfaktoren wurden in den Entsorgungskonzepten der Schweiz an sich früh erkannt und führten im «Sachplan geologische Tiefenlager» zur Formulierung von «Kriterien hinsichtlich Sicherheit und technischer Machbarkeit». Diese Kriterien sind allerdings sehr allgemein formuliert und lassen eine breite Interpretation zu. Aus diesen und ähnlichen Gründen publizierte das Ensi (2018 a)[5] die «Präzisierungen der sicherheitstechnischen Vorgaben für Etappe 3 des Sachplans geologische Tiefenlager». Aber reichen diese Präzisierungen aus, um Irrfahrten der Nagra zu verhindern? Ihr Umgang mit dem Korallenriff in Bülach» lässt Zweifel keimen. Wir haben deshalb im Blogbeitrag vom 30. Januar 2020 eine Anzahl operativ anwendbarer Ausschlusskriterien vorgeschlagen (https://www.nuclearwaste.info/ausschlusskriterien-im-rahmen-der-standortwahl-fuer-ein-geologisches-tiefenlager-ein-vorschlag/).
Nagra-Fehler N° 2: Die Regeln der Standortwahl sind gesetzt und gültig; Anforderungen können nicht im Verlauf des Verfahrens situativ abgeschwächt werden.
Als Teil des Konzepts der Einschlussbarrieren zum Schutz vor dem Austreten radioaktiver Substanzen in die Umwelt definierte die Nagra in ihren Bohrgesuchen einen erweiterten Schutzbereich, den «einschlusswirksamen Gebirgsbereich» (siehe NSG 17-02, Beilage 3, Prognoseprofil [6]). Dieser umfasst zusätzliche mergelige, also tonhaltige Gesteinsschichten über- und unterhalb des Wirtsgesteins, welche durch geringe Wasserzirkulation weiteren Schutz bieten und dem Projekt dadurch eine verstärkte Robustheit verleihen sollen.
Das ENSI hat als Aufsichtsbehörde das Bohrgesuch der Nagra begutachtet und den Begriff und die Ausdehnung des «einschlusswirksamen Gebirgsbereichs» abgesegnet. Es schreibt hierzu wörtlich (ENSI 2018 b, S. 4 [7]): «Der EG stellt denjenigen Teil des Untergrunds dar, welcher aufgrund seiner Barriereneigenschaften den langfristigen Rückhalt radioaktiver Stoffe sicherstellt. Er setzt sich aus dem Wirtgestein sowie den oberen und unteren Rahmengesteinen zusammen. Die Obergrenze des EG wird durch die Oberkante der Effinger Schichten gebildet und auf 695 m O.K.T.[8] erwartet. Das Wirtgestein für ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle (SMA) sowie hochaktive Abfälle (HAA) ist der ab 865m u.T. erwartete Opalinuston. Seine vertikale Mächtigkeit wird am Bohrplatz Bülach mit 105m veranschlagt. Die Untergrenze des EG wird durch die Basis der Bänkerjoch-Formation (Gipskeuper) gebildet und auf 1120m u.T. vermutet».
Das in Bülach vorgefundene Korallenriff zeigt nun, dass zumindest im Umfeld dieser Bohrung der «einschlusswirksame Gebirgsbereich» oberhalb der Wirtsgesteinsformation Opalinuston teilweise durch Riffkalke ersetzt ist, deren Eigenschaften für die Rückhaltung der radioaktiven Stoffe nicht geeignet sind. Dies gilt selbst dann, wenn Poren und Vakuolen durch Kalkausfällungen zementiert sein sollten: Korallenkalk ist ein zerbrechliches (sprödes) Gestein, d.h. anfällig auf tektonische Küftung und mithin durchlässig für Tiefenwasser. Und selbst wenn heute kein Kurzschluss zwischen dem Korallenriff und höheren Grundwasserträgern besteht, kann sich ein solcher in Zukunft ausbilden, insbesondere aufgrund des komplexen Zusammenspiels zwischen Spannungsumlagerungen und dem länger anhaltenden thermischen Puls nach der Einlagerung hochaktiver Abfälle.
Schlussfolgerungen
Entgegen den Aussagen der Nagra, stellt das Korallenriff von Bülach die Eignung dieses Standorts für die Erstellung eines geologischen Tiefenlagers akut in Frage, denn das Korallenriff belegt, dass der «einschlusswirksame Gebirgsbereich» oberhalb des Opalinustons an diesem Standort möglicherweise eben nicht besonders einschlusswirksam sein könnte. Dieser Gebirgsbereich ist aber als Barrieren-Element eines robusten Lagers für den Langzeiteinschluss unabdinglich.
In ihrem Blog
https://www.nagra-blog.ch/2020/02/21/versteinertes-korallenriff-in-buelach-gefunden/
behauptet die Nagra – präventiv schönfärbend und ohne die Ergebnisse ihrer in Aussicht gestellten Untersuchungen abzuwarten –, dass kein Anlass bestehe, an der Lanzeitsicherheit des Standorts zu zweifeln. Begründung? Fehlanzeige!
Der «Fall» des Bülacher Korallenriffs zeigt einmal mehr, dass die Nagra heute wiederum dabei ist, unliebsame Resultate aus ihren eigenen Untersuchungen zurecht zu biegen. Schliesslich will sie gemäss ihrer Planung im Jahr 2022 den Standort für die Erarbeitung des Rahmenbewilligungsgesuchs “bekanntgeben“ – was in diesem Fall mit „Standortwahl“ gleichzusetzen ist. Dies widerspricht diametral dem von der Nagra stets propagierten Mantra eines „sicherheitsgerichteten Auswahlverfahrens“. Doch dass das Projekt eines nur angeblich „sicheren“ Tiefenlagers bei einer Volksabstimmung zum Rahmenbewilligungsgesuch wenig Chancen auf Erfolg haben wird, hat uns der Wellenberg vor 20 Jahren bereits gezeigt.
Heute schweigt das ENSI zu diesen Machenschaften. Und bewegt sich damit auf immer dünnerem Eis: Denn, schweigt das ENSI heute zu zweifelhaften Aussagen der Nagra, so verspielt es seine Glaubwürdigkeit – spätestens zum Zeitpunkt der Beurteilung des Rahmenbewilligungsgesuchs.
[1] Zürcher Unterländer, 11/02/2020 : Nagra sieht im Korallenriff unter Bülach zwar kein Problem, aber auch «keinen Vorteil ».
[2] Schwerter, R., 1992, Die Bekämpfung von Salzlösungszuflüssen, Kali und Steinsalz, Band 11, Heft 1/2, S. 32-43.
[3] EB und FE – Experimente.
[4] Copil, 2011, Rapport d’expertise, Comité de pilotage Stocamine, juillet 2011. Der vom französischen Umweltministerium bestellte Rapport ist via offizielle Webseiten nicht mehr zu finden, man kann diesen aber laden via https://www.destocamine.fr/rapports-officiels/
[5] ENSI 2018 a: Präzisierungen der sicherheitstechnischen Vorgaben für Etappe 3 des Sachplans geologische Tiefenlager. ENSI 33/649.
[6] Nagra 2017: Gesuch um Erteilung einer Bewilligung für erdwissenschaftliche Untersuchungen im Standortgebiet Nördlich Lägern (NL) – Sondierbohrungen Bülach. NSG 17-02, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Sondiergesuch, Wettingen, 2017.
[7] ENSI 2018b : Gutachten zum Sondiergesuch NSG 17-02 – Sonderbohrungen Bülach. Brugg, 29 S. (Siehe auch: ENSI 2018b).
[8] OKT = Oberkante Terrain
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