Betrachtet man die letzten viereinhalb Jahrzehnte des schweizerischen Entsorgungsprogramms, so stellt man interessante Veränderungen in der Diskussionskultur fest, sowohl was den Austausch in der wissenschaftlichen „Gemeinschaft“ wie auch in der Gesellschaft im Allgemeinen betrifft. Auf eine Phase der offenen Konflikte in den 1970er und 1980er Jahren, als es um Durchsetzung und Umsetzung des schweizerischen Atomkraftwerkprogramms und insbesondere den Bau der Werke Gösgen, Leibstadt und Kaiseraugst ging, folgte eine Phase in den 1990er Jahren, die mehr Raum liess für eine offen geführte wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte und Diskussion. Die Auseinandersetzung um das Atom konzentrierte sich auf den Endlagerstandort Wellenberg. Anderorts, auch im Zürcher Weinland, verlief die Diskussion zwischen den verschiedenen Meinungsträgern und Gesellschaftsgruppen weitgehend stilvoll, auch wenn Grundsatzdifferenzen in der Beurteilung der Entsorgungskonzepte bestehen blieben.
Das Scheitern des Wellenbergprojektes erschütterte das Selbstverständnis der Schweizer Entsorger und der zuständigen Behörden. Im Anschluss an dieses Debakel unternahm das Bundesamt für Energie zum ersten Mal in der Geschichte der nuklearen Entsorgung in der Schweiz den Versuch, sich dem Prozess vorzuschalten und so die Standortwahl zu leiten und für gesellschaftliche Akzeptanz für und in diesem Auswahlverfahren zu sorgen. Zum ersten Mal wurde so etwas wie ein echter partizipatorischer Prozess in die Wege geleitet, der die Regionen einband und den betroffenen Kantonen Raum und Mitsprache sicherte.
Im Hintergrund schmiedete die Atombranche derweil ihre Pläne für drei neue Werke, und die offene Diskussionskultur, wie sie auch formal von internationalen Organisationen vorgesehen ist, wurde wieder von der Realität eingeholt. Das Sachplanverfahren, in den Hinterzimmern der Nagra geschrieben, wurde von den zuständigen Behörden mehr oder weniger im Masstab 1 zu 1 übernommen und wird nun stur Etappe um Etappe umgesetzt.
Die Diskussion um die Entsorgung der radioaktiven Abfälle ist wieder da angekommen, wo sie historisch bereits war: die Atomwirtschaft und die zuständigen Behörden überhören Einwände und Befürchtungen und wischen Kritik beiseite. Es braucht enorme Kräfte, um dieses System zu bewegen. Die offene Diskussionskultur, die längere Zeit mit Respekt und Achtung geführt wurde, beginnt darunter zu leiden. Die Gräben zwischen den unterschiedlichen Diskussionsteilnehmern wachsen. Die Debatte wird härter und unversöhnlicher. Bei den zuständigen Behörden wie dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat und dem Bundesamt für Energie zeigen sich Abschottungseffekte. Man igelt sich ein und beginnt wieder vermehrt, den alten autoritären Stil zu pflegen. In der Kurzform: man hört Bedenken an, hört aber nicht wirklich zu, sondern entscheidet nach längst festgelegten Beschlüssen. Eine ganz schlechte und beunruhigende Entwicklung. Vor allem aber: dieses erneute Verludern der Gesprächs- und Diskussionskultur führt nicht zur Bewältigung der vielen offenen Fragen und Probleme der nuklearen Entsorgung, die heute offen auf dem Tisch liegen. „Safety first“ heisst auch offener Umgang mit Kritik und Bedenken, auch wenn diese den Gang des heutigen Sachplankonzeptes fundamental betrifft. Es gilt darum, die offene Kultur der Meinungsfreiheit und den Umgang mit fundamentalen Werten der Wissenschaft – Selbsthinterfragung und Kritik – einmal mehr herzustellen, um zu verhindern, dass die Entsorgungsprojekte wieder dort landen, wo sie in der Vergangenheit gelandet sind: nämlich in der Wand. Dies setzt hohe Ansprüche, vor allem an die leitenden und führenden Gremien dieses Verfahrens. Und man darf mit Fug und Recht erwarten, dass diese titanische Aufgabe, welche das Wohl der künftigen Generationen derart einschneidend betrifft, tatsächlich auch in einer selbstkritischen und offenen Art und Weise angepackt wird, so wie es zahlreiche Berichte der Nuclear Energy Agency oder der Internationalen Atomenergieagentur auch einfordern
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