In unseren Beiträgen vom 13., 21. und 28. Dezember 2015 haben wir dargelegt, wie die „Expertengruppe Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle“ (EKRA) entstand, wie sie arbeitete und schliesslich gemäss ihrem Auftrag ein Konzept für die geologische Tiefenlagerung der radioaktiven Abfälle vorschlug. Wir haben auch gezeigt, welche der Empfehlungen der Expertengruppe schlussendlich im Kernenergiegesetz übernommen wurden und welche auf der Strecke blieben. In vielen Bereichen ist die EKRA-Geschichte eine „Erfolg-Story“; in anderen ist sie es aber nicht, und dies aus ganz unterschiedlichen Gründen. Auch Misserfolge und Fehler in Prozessen gehören in gleicher Weise aufgearbeitet zu werden, um Verbesserungen bei der Projektsteuerung und –ausführung zu erzielen und die Glaubwürdigkeit dieser Prozesse und der darin involvierten Akteure zu stärken. Hier möchten wir ein Beispiel aufgreifen, das die EKRA schlecht bewältigt hat, und das zur Ausschaltung des sogenannten „kantonalen Vetos“ gegen Lagerstandorte führte.
Partizipation: der Fall des kantonalen Vetos
Unter dem Atomgesetz (1959) und dem Bundesbeschluss zum Atomgesetz (1978) hatten die Kantone die Möglichkeit, geologische Endlagerprojekte mit dem kantonalen Bergrecht auszuhebeln. Dies geschah etwa beim Projekt Wellenberg, welches am 22. September 2002 zum zweiten Mal in einer Volksabstimmung im Kanton Nidwalden zurückgewiesen wurde. Am 18. Mai 2003 wies dann das Nidwaldner Volk in einer nationalen Abstimmung auch die Volksinitiative „MoratoriumPlus“, für eine Verlängerung des im Jahr 1990 für eine Dauer von zehn Jahren dekretierten Moratoriums für neue Kernkraftwerke, sowie die Volksinitiative „Strom ohne Atom“ zurück.
Die Abstimmungsdebatte zu den beiden Volksinitiativen wurde etwa zur gleichen Zeit geführt, wie die Parlamentsdebatte zum neuen Kernenergiegesetz. Dieses wurde am 21. März 2003 verabschiedet, mit einer Referendumsfrist bis 4. September 2003 (KEG 2003). Das Resultat aus den Volksabstimmungen liess damals vermuten, dass Kantone aus teilweise egoistischen Gründen sehr wohl mit den Kernkraftwerken in den Nachbarkantonen leben wollten, aber nicht bereit waren, Abfälle in ihrem Untergrund zu entsorgen.
Die EKRA hatte diese Entwicklung aufmerksam verfolgt und unter dem Begriff „NIMBY – Syndrom“ (englisch: „Not in my backyard“ = „nicht in meinem Hinterhof“) diskutiert. Sie kam zum Schluss, dass eine lokale Ablehnung von Endlagern für radioaktive Abfälle zu einer Situation führen könnte, in welcher auf dem nationalen Territorium der Schweiz kein einziger Standort die Zustimmung des betroffenen Kantons (bzw. der betroffenen Region) finden könnte. Dies hätte also die geologische Endlagerung in der Schweiz definitiv verhindern können. Um diesem Risiko zu entgehen empfahl die Expertengruppe in ihrem zweiten Bericht im Jahr 2002:
„Die Rolle des Bundes im Kernenergiegesetz wird nochmals überprüft. Die Kompetenzen für die geologische Tiefenlagerung werden ausschliesslich auf Bundesebene verankert. Regionalen Mitspracherechten ist jedoch ein hoher Stellenwert einzuräumen, auch über Kantons- und Landesgrenzen hinaus.“
Sowie, unter dem Titel „Partizipation und Dialog“:„Dialog und Mitbestimmung finden bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle gegenwärtig nur begrenzt statt. Zur Förderung von Dialog und Partizipation schlägt die EKRA daher die Schaffung eines beratenden „Entsorgungsrats“ vor. Der Entsorgungsrat ist sowohl an der Gestaltung als auch an der Umsetzung des Entsorgungsprogramms beteiligt. Neben Bund, Kantonen, Abfallproduzenten und Entsorgungsorganisationen müssten in diesem Gremium NGOs sowie weitere betroffene Verbände, Einrichtungen und Organisationen vertreten sein. Der Entsorgungsrat sollte sich mit allgemeinen Fragen der nuklearen Entsorgung auseinander setzen und das Entsorgungsprogramm begleiten. Damit wird der Dialog zwischen den Beteiligten gefördert und die Umsetzung der Entsorgung unterstützt.“ . . . „Für die Einsetzung eines Entsorgungsrats werden Grundlagen ausgearbeitet, wobei Erfahrungen aus dem In- und Ausland einzubeziehen sind.“
Dabei blieb es aber nicht: Während der Parlamentsdebatte richtete die Expertengruppe eine Petition an die Parlamentarier, um dem Anliegen der Verankerung der ausschliesslichen Bundeskompetenz in Fragen der nuklearen Entsorgung nochmals Nachdruck zu verschaffen.
Operation gelungen? Wohl kaum!
Das nunmehr gültige Kernenergiegesetz (KEG 2003) unterstellt die nukleare Entsorgung ausschliesslich eidgenössischem Recht. Der „Sachplan geologische Tiefenlager“ regelt die Zusammenarbeit mit den Regionen im Rahmen der „Regionalkonferenzen“, welche sich zu Fragen der Positionierung und Gestaltung der zu den Tiefenlagern gehörigen Oberflächenanlagen äussern können.
Operation gelungen? Mission erfüllt? Leider nicht! EKRA hat zu kurz geschossen!
Beispiel Oberflächenanlagen der Tiefenlager
Folgendes Beispiel illustriert dies:
Am 2. April 2008 verabschiedete der Bundesrat den Konzeptteil des „Sachplan geologische Tiefenlager.
Im Oktober 2008, ein halbes Jahr nach der Inkraftsetzung des Sachplans, deponierte die Nagra die Dokumentation zu den Standortgebieten für die Tiefenlager und deren Oberflächenanlagen. Sechs Standortregionen wurden für ein Lager für schwach und mittel radioaktive Abfälle (SMA) vorgeschlagen: Südranden, Zürich Nordost (Weinland), Nördlich Lägern, Jura Ost (Bözberg), Jura Südfuss, Wellenberg. Das Weinland, Nördlich Lägern und Bözberg wurden auch für ein hochaktives Lager geeignet erklärt.
Nach der Absegnung dieser Vorauswahl durch die Bundesbehörden, folgten im Jahr 2011 die Vorschläge der Nagra für die Lokalisierung der zu den Tiefenlagern gehörigen Oberflächenanlagen. Resultat: Sämtliche Oberflächenanlagen, auch solche mit sogenannten „heissen Zellen“ zur Abfallbearbeitung, standen über Grundwasservorkommen Figur 1). Nun muss man daran erinnern, dass es sich beim Grundwasser um eine lebenswichtige langfristig zu erhaltende Ressource handelt, welche es (namentlich auch via der Kriterienliste des Sachplans) zu schützen gilt. Es handelt sich also klar um eine Sicherheitsfrage.
Welches waren nun die Reaktionen auf die Nagra-Vorschläge?
An sich wäre es an den Bundesbehörden, namentlich dem ENSI und dem Bundesamt für Umwelt, gelegen gewesen, von der Nagra Standorte ausserhalb der Grundwasserströme zu fordern. Dem war aber nicht so: die Vorschläge wurden durchgewunken.
So entstand Opposition auf einer anderen Ebene: Regionalkonferenzen und die Kantone, unterstützt durch externe Experten und durch die unterdessen durch die Kantone gebildete Arbeitsgruppe und Kommission „Sicherheit der Kantone“ (AG SiKa/KES) lehnten die Standorte ab und zwangen die Nagra dazu, die Übung der Standortsuche für Oberflächenanlagen nochmals zu wiederholen. Zurück zum Start!
Die Schwäche der Bundesinstitutionen
Logischer Weise hätte der Bund durch die gesetzliche Festlegung des Monopols für die Zuständigkeit für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle auch die notwendigen Vorkehrungen für die Übernahme der Verantwortung über die Lagersicherheit übernehmen müssen. Das Gegenteil geschah.
Dass der Bund dereinst ausserstande sein würde, seine Verantwortung für die Einhaltung grundlegender Kriterien zur Garantie der Sicherheit wahrzunehmen, hatte die EKRA in den Jahren 2000 – 2002 nicht geahnt. In diesen Jahren verfügte die Sicherheitsbehörde HSK (Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen) über kompetente Fachleute, welche auch lokale geologische und hydrogeologische Gegebenheiten beurteilen konnten. Die KNE (Kommission nukleare Entsorgung), ein Gremium von aussenstehenden Geowissenschaftlern, erarbeitete unabhängige Stellungnahmen, publizierte diese und stellte sie auch der HSK zur Verfügung. Daneben agierte und kommunizierte auch die Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen (KSA) in unabhängiger Weise.
All dies funktioniert heute nicht mehr oder zumindest nicht mehr richtig. So wurde namentlich die KNE unter dem Namen EGT (Expertengruppe Geologische Tiefenlagerung) weitgehend durch das ENSI als Nachfolgeorganisation der HSK absorbiert. Die KSA wurde Ende 2007 aufgelöst und durch eine ängstlich agierende und kaum wahrnehmbare KNS (Kommission für nukleare Sicherheit) ersetzt. Und offensichtlich ist diesen Gremien die Grundwassersicherheit nicht dasselbe Anliegen, wie den Regionen, Gemeinden und Kantonen. So übernehmen denn namentlich die Kantone heute (glücklicherweise) wieder Aufsichts- und Überwachungsfunktionen, die ihnen das Kernenergiegesetz eigentlich aberkannt hat. Gleiches geschieht nicht nur bei den Oberflächenanlagen, sondern, wie wir derzeit erleben, auch bei der Auswahl der Standorte für Tiefenlager.
Die Kurzsicht der EKRA
Hat sich die EKRA also getäuscht? Sicher hat sie zu kurz geschossen: Dass nukleare Entsorgung nicht unter Berücksichtigung von Sonderrechten, namentlich mit „Vetos“ gelöst werden kann, scheint einleuchtend. Die Verantwortung für die Lösung der Entsorgungsfrage einfach dem Bund zu überlassen, ohne Garantien zur Einhaltung der Aufsichts- und Sorgfaltspflicht war aber „blauäugig“ und naiv. Sicher hätte die Frage der Art der Zusammenarbeit auf nationaler Ebene, zwischen Bund, Kantonen und Regionen damals eine vertiefte Überlegung, Diskussion und Regelung verdient. Das geschah aber nicht. Auch dass beispielsweise selektive Vetos, also Rückkommensanträge, als Auffangsinstrumente für falsch laufende Projekte eingesetzt und für die weitere Abklärung von Sachfragen eingelegt werden könnten, kam der EKRA damals nicht in den Sinn.
Und so verteidigen halt heute die Kantone und Regionen wieder die Einhaltung der Sicherheit im Rahmen des Entsorgungsprogramms. Sie beaufsichtigen und überwachen „de facto“ die Nagra und kontrollieren damit indirekt auch so weit möglich die Bundes-Aufsichtsbehörde und den Sachplanprozess. Es stellt sich also die Frage: Müsste nicht die heutige Sicherheitsstruktur umfassend überprüft und neu geordnet werden, auch unter Einbezug der direkt betroffenen Regionen? Denn ohne wirklich funktionierende Aufsicht ist das Risiko des Scheiterns von Projekten enorm, wie die immer länger werdende Liste von fehlgeschlagenen Endlagerprojekten für radio- und chemo-toxische Abfälle im Tiefuntergrund weltweit zeigt.
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