Wenn die Behörde einbricht
(Zur Illustration: eingebrochene Untertagedeponie für chemische Abfälle in Frankreich, ein schwerer Sanierungsfall)
2. November 2017 auf https://www.ensi.ch/de/2017/11/02/ensi-beurteilt-sondierbohrungen-der-nagra-als-geeignet/ schreibt das ENSI: „ENSI beurteilt Sondierbohrungen der Nagra als geeignet“.
„Die Sondierbohrungen werden die erforderlichen Informationen für die spätere Beurteilung der Sicherheit der geologischen Tiefenlager Jura Ost und Zürich Nordost für nukleare Abfälle liefern, ohne die Umwelt zu beeinträchtigen. Zu diesem Fazit kommt das ENSI in seinen sicherheitstechnischen Gutachten.“
„Das ENSI hat die jeweils acht separaten Sondiergesuche der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle Nagra für potentielle Tiefenlager in den Standortgebieten Jura Ost und Zürich Nordost geprüft. Es erachtet sämtliche Sondierbohrungen als geeignete Massnahmen, um die nötigen grundlegenden Daten für die detaillierte Standortbeurteilung und die anschliessende Standortwahl erheben zu können.
Das ENSI stellt in diesem Zusammenhang fest, dass bei sachgemässem Einsatz der vorgesehenen technischen Mittel aus Sicht des ENSI nicht mit negativen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist.“
Mit dieser Aussage begibt sich das ENSI in eine Sackgasse, denn es widerspricht damit den Erkenntnissen und Empfehlungen der Kommission für die Nukleare Sicherheit (KNS), des Ausschusses der Kantone (AdK) und der «Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone/Kantonale Expertengruppe Sicherheit (AG SiKa/KES)».
Die Schlüsselempfehlungen der KNS lauten wie folgt:
https://www.nuclearwaste.info/kns-bericht-unter-der-lupe-fortsetzung-n-2-und-schlussfolgerungen/
“Empfehlung 3: Nach Einschätzung der KNS ist im Hinblick auf die Rahmenbewilligungsgesuche für das HAA- und für das SMA-Lager offen, ob ein Vergleich der Standortgebiete gemäss dem aktuellen, bei der Standorteinengung in Etappe 2 SGT angewendeten Vorgehen zu einem belastbaren, nachvollziehbaren und eindeutigen Ergebnis in Etappe 3 SGT führen wird. Vor diesem Hintergrund und hinsichtlich einer transparenten Standortbestimmung empfiehlt die KNS, dass frühzeitig, d. h. vor Beginn von Etappe 3 SGT, die Methodik des Standortvergleichs präzisiert bzw. konkretisiert wird sowie die erforderlichen Vorgaben festgelegt werden.“
Und:
“– Im weiteren Prozess der Standortauswahl und der Lagerkonkretisierung sollten robuste Ansätze zur Lösung der Problematik der Gasentwicklung in einem geologischen Tiefenlager evaluiert werden. Dies können Massnahmen zur Reduktion der Gasbildung ebenso wie Massnahmen zum kontrollierten Abführen der im Tiefenlager gebildeten Gase sein, wobei aus Sicht der KNS die Vermeidung bzw. Reduktion der Gasbildung Priorität hat. Wichtig ist der Nachweis der Funktionalität der geplanten Massnahmen, insbesondere im Fall von technischen Massnahmen zum Abführen von Gas aus einem Tiefenlager.
– Das Prozessverständnis zur Selbstabdichtung im Opalinuston sollte anhand vertiefter Untersuchungen in Etappe 3 SGT verbessert werden. Zu betrachten sind dabei insbesondere die Zeitskalen, auf denen die relevanten Prozesse ablaufen, sowie für das HAA-Lager die Auswirkungen der Wärmefreisetzung aus den abgebrannten Brennelementen auf diese Prozesse. Die Thematik des Selbstabdichtungsvermögens ist auch für den angestrebten satten Kontakt zwischen Versiegelungsmaterial und Gebirge im Bereich der von der Nagra geplanten Zwischensiegel in den HAA-Lagerstollen von Relevanz.
– Die von der Nagra entwickelten hydrogeologischen Lokalmodelle können nach Ansicht der KNS die Herkunft und die Fliesswege der Mineral- und Thermalwässer im Bereich der geologischen Standortgebiete noch nicht in einem hinreichenden Detaillierungsgrad erklären bzw. abbilden. Im Zusammenhang mit der Nutzung und dem Schutz von Mineral- und Thermalwasservorkommen sollten daher im weiteren Verlauf des Sachplanverfahrens detailliertere hydrogeologische Modelle angestrebt werden, die bereits vorliegende und neu gewonnene Daten integrieren.
– Bezüglich der Variante eines Kombilagers ist davon auszugehen, dassdiese im weiteren Verfahrensablauf sicherheitstechnisch im Vergleich zu zwei getrennten Lagern für HAA und SMA zu beurteilen sein wird. Die hierfür erforderlichen Grundlagen hinsichtlich Lagerkonzeption bzw. -auslegung sollten unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Anforderungen der Abfalltypen im Zuge von Etappe 3 SGT erarbeitet werden.
– Aus Sicht der KNS ist der Vorrang des Schutzes eines geologischen Tiefenlagers vor Interessen der Rohstofferkundung und -nutzung langfristig sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund sollte im weiteren Verlauf des Standortauswahlverfahrens eine bessere Kenntnis der räumlichen Ausdehnung und des Aufbaus der Füllung des Nordschweizer Permokarbontrogs angestrebt werden.“
Der Ausschuss der Kantone (AdK) hält namentlich fest:
„E6: Der AdK empfiehlt, in Etappe 3 standortspezifische Lagerkonzepte (mit Alternativen, ein-schliesslich Rückholbarkeit der Abfälle) als Basis für die jeweiligen bautechnischen Referenzprojekte (mit konkreter Lagerauslegung) zu entwickeln. Dies gilt insbesondere für (HAA-) Lagertiefen von 700m und 900 m.“
. . .
„ Inhomogenitäten: Kartierung der Störungsmuster und -dichte sowie der tektonischen Schwäche- und Strukturzonen mit vertikalen Versätzen von mehr als 10 Metern sowie – womöglich – Altersangabe der Bewegungen (insbesondere den einschlusswirksamen Gebirgsbereich beeinflussende tektonische Strukturen).
Lokalisation der Permokarbontröge: möglichst genaue Kartierung.
Störungen an und in den Permokarbontrögen: Kartierung von Örtlichkeiten und Geometrie im Zusammenhang mit den drei HAA-Standorten.
Sedimente in den Permokarbontrögen: Abschätzung ihres Ressourcenpotenzials für künftige Generationen zur Vermeidung von Nutzungskonflikten, Bestimmung ihrer Zusammensetzung und anderer Schlüsseleigenschaften (z. B. Kohle, Erdgas oder Geothermie).
Neotektonik
Reaktivierung von Störungen: Abschätzung der Möglichkeit einer Reaktivierung bestehender Störungen und Schwäche- und Strukturzonen sowie von differenziellen kleinräumigen, im Massstab der HAA-Standorte befindlichen, vertikalen und horizontalen Bewegungen der oberen Erdkruste (einschliesslich nachpaläozoische Einheiten).
Erosion
Darstellung der übertieften Felsrinnen–Datierung der massgebenden Terrassensysteme, vor allem in ZNO und JO–Auslotung der Möglichkeiten einer Tieferlegung der Lager in JO und ZNO.
Hydrogeologie
Zielgerichtete Untersuchungen der hydrogeologischen Verhältnisse mit möglichst flächendeckender Kartierung der Druckverhältnisse, Aufdeckung allfälliger präferenzieller Fliesswege und der Verweilzeiten der Tiefenwässer sowie Bestätigung bekannter und Identifikation bisher unbekannter Exfiltrationszonen.
Referenzprojekte
Ausarbeitung von Referenzprojekten nach den Regeln der Baukunde für vergleichende Betrachtungen der Standortgebiete, für qualitative Bewertungen und insbesondere als Grundlage für sicherheitstechnische Untersuchungen.“
Die «Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone/Kantonale Expertengruppe Sicherheit (AG SiKa/KES)» präzisiert den Standpunkt der Kantone wie folgt:
„Da alle drei Standorte aus heutiger Sicht sicherheitstechnisch die Minimalanforderungen erfüllen, gleichzeitig aber unterschiedliche Schwächen und Stärken aufweisen, sind in Etappe 3 zwingend alle drei weiter zu untersuchen.
Denn nur so kann gewährleistet werden, schliesslich den vergleichsweise sichersten Standort zur Auswahl zu haben. Dabei sollten gezielt die heute erkannten Ungewissheiten und möglichen sicherheitstechnischen Schwächen der einzelnen Standortgebiete angegangen werden. Ein solches Vorgehen ist fokussiert und effizient. Zu diesen Schlussfolgerungen ist die AG SiKa/KES in ihrem (ersten) Fachbericht vom Januar 2016 zum «2×2-Vorschlag» der Nagra gekommen (AG SiKa/KES 2016). Daran haben weder die Nachforderung des ENSI (ENSI 2015a) noch die Zusatzdokumentation der Nagra (Nagra 2016b), das ENSI-Gutachten (ENSI 2017a), die Stellungnahmen der EGT (EGT 2017), der Kommission für Nukleare Sicherheit (KNS 2017) oder der deutschen Expertengruppe-Schweizer-Tiefenlager (ESchT 2017) grundlegend etwas geändert.
Zu einem Referenzprojekt liegen lediglich vage Überlegungen zu Themen wie Lagerarchitektur, Statik und konstruktive Ausbildung der diversen Anlageelemente, einschliesslich Verschlussbauwerke, vor. Bezüglich HAA wird empfohlen, Lagerauslegungen und bautechnische Referenzprojekte mit einer angemessenen Bearbeitungstiefe und nach dem Stand von Wissenschaft und Technik sowohl für Lagertiefen von 700 m als auch für solche von 900 m auszuarbeiten. Ebenso ist ein Referenzprojekt für SMA vorzulegen.“
Und jetzt: wie weiter ?
Die Empfehlungen von KNS, AdK und AG-Sika werden durch die geplanten Untersuchungen der Nagra längst nicht abgedeckt. Die geologischen Schwachstellen der verschiedenen Standorte sind weiterhin nicht systematisch erhoben und dargelegt. Ein glaubwürdiges und sachlich belastbares Sondierprogramm kann ohne eine solche Analyse gar nicht erfolgen. Damit ist ein Standortnachweis mit diesen Untersuchungen schlicht und einfach nicht möglich. Wenn das ENSI also schreibt: „Es“ (das ENSI) „erachtet sämtliche Sondierbohrungen als geeignete Massnahmen, um die nötigen grundlegenden Daten für die detaillierte Standortbeurteilung und die anschliessende Standortwahl erheben zu können“ , so ist dies nachweislich nach gängigen wissenschaftlichen Grundsätzen und Methoden schlicht falsch. Das ENSI öffnet mit seinen Gutachten einen riesigen Graben zwischen ENSI+ Nagra einerseits und den Experten der KNS und der Kantone (AdK + AG-Sika) andererseits. Sowie weiteren Playern im Verfahren.
Auf diese Weise ist der Konflikt zwischen den Projektanten und dem ENSI auf der einen Seite und den Experten des Bundes und der Kantone sowie den Regionen auf der andern Seite also bereits aufgegleist.
Zwei mögliche Lösungen zeichnen sich ab:
- Entweder bessern ENSI und Nagra aus eigener Einsicht nach, und zwar nach den Grundlagen, die schon seit langem gefordert werden oder
- Es kommt – wie die Liste der bisherigen Fehlschläge und Nachbesserungen zeigt (Platzierung Oberflächenanlagen über Grundwasser, Ergänzungen der 2D-Seismik, Ausführung der 3D-Seismik an allen HAA-Standorten, Wiederaufnahme des Standortgebiets „Nördlich Lägern“, Bautechnik usw.) – zur nächsten Konfrontation, die einmal mehr so ausgehen wird, wie bis anhin: es wird nachgebessert werden müssen und das sture Festhalten wird einmal mehr nur wertvolle Zeit und Ressourcen kosten.
Zur Erinnerung, welche Punkte in welcher Ordnung aufgegriffen werden sollen, verweisen wir auf folgende Liste:
- Definition von verbindlichen Ausschlusskriterien aufgrund des bestehenden Kriteriensets im Sachplankonzept (nach Muster der deutschen Entsorgungskommission)
- Schwachstellenanalyse des geologischen Untergrundes, welche die diversen und für jeden Standort verschiedenen Schwachstellen auflistet und behandelt
- Entwicklung eines Bohrprogramms, das gezielt auf die Schwachstellen ansetzt (PKT [Geometrie, Ausdehnung, Tiefe, Klärung des Kristallinsattels in Benken etc.], Klärung der Geologie durch Untersuchungen im angrenzenden Deutschland [insb. Jestetter Zipfel], Abklärungen zur Auswirkung des Fernschubs und der Abscherung und Verdickung des Opalinustons, Untersuchungen zur Neotektonik an tektonischen Schwächezonen usw.)
- Definition einer Prozedur für die Prüfung und die Validierung der Standortuntersuchungen
Wir werden im nächsten Beitrag nochmals auf diese Fragen zurückkommen, und zwar aus einer übergeordneten weltanschaulichen und analytischen Perspektive.
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