
Siehe auch: www.infosperber.ch/Artikel/Umwelt/Atomkraftwerke
Im Laufe der letzten beiden Jahre sind wir des Öfteren auf das Problem der nuklearen Aufsicht gestossen, welche zu passiv wirkt und ihre proaktive Funktion als Kontrollbehörde nicht in der erforderlichen Unabhängigkeit wahrnimmt. Wir haben in unserem Beitrag letzte Woche (23.01.2017) darauf hingewiesen, dass die Defizite systemisch sind. Im vorliegenden Beitrag stellen wir nun weitere Fragen zu diesen systemischen Schwächen und zu den Problemen dieser Aufsichtsphilosophie: weshalb wird ein derart offensichtliches Defizit, das von vielen Seiten wahrgenommen und ausgedrückt wird, nicht korrigiert? Genau dieser Frage ging auch die parlamentarische Untersuchungskommission in Japan auf den Grund, welche die Reaktorkatastrophe von Fukushima im Nachgang der Ereignisse analysierte[1] und feststellte, dass der Kompetenz und der Unabhängigkeit von Aufsichtsbehörden höchste Priorität beigemessen werden müssten. In ihrem 2012 verabschiedeten Bericht hält sie dabei unter anderem fest:
„Die Untersuchung der Kommission zur Frage, wie Sicherheitsvorschriften reflektiert und abgeändert werden, zeigt die vertrauliche Beziehung zwischen Betreibern, Regulierern und Wissenschaftlern auf, die nur als völlig unsachgemäss bezeichnet werden kann. Im Wesentlichen geben Regulatoren und Betreiber den Interessen ihrer Organisation den Vorrang gegenüber der Sicherheit der Öffentlichkeit und entschieden, dass der Betrieb der japanischen Nuklearanlagen ‚nicht gestoppt’ werden müsste.“
Die Kommission brachte die Kritik an der laschen Aufsicht auf den Punkt: „Weil Regulatoren und Betreiber immer wieder lauthals verfochten, dass ‚die Sicherheit von Atomkraft gewährleistet ist’, hatten sie ein gegenseitiges Interesse das Risiko bestehender Reaktoren kleinzureden, um zu verhindern, dass diese wegen Sicherheitsbedenken oder infolge von Klagen durch die nukleare Gegnerschaft abgeschaltet würden. Sie vermieden, verhinderten oder vertagten es wiederholt irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen, Massnahmen zu ergreifen oder Vorschriften anzuwenden welche den Weiterbetrieb von Reaktoren in Frage gestellt hätten. Die FEPC“ (Federation of Electric Power Companies, der Verband der japanischen Stromwirtschaft, das Pendant zu swissnuclear in der Schweiz, Anmerkung MB/WW) „war die wichtigste Organisation welche diese unversöhnliche Haltung bei den Sicherheitsbehörden und der akademischen Welt vertrat.“
Und die Kommission führte weiter aus: “Unsere Untersuchung fokussierte auf die signifikante Lobby-Rolle, welche von der FEPC im Interesse der Betreiber wahrgenommen wurde und hinterfragte die Beziehungen zwischen Betreibern und Regulatoren. Die Kommission kam zum Schluss, dass es in der bestehenden institutionellen Beziehung an Unabhängigkeit und Transparenz fehlte und dass diese bei weitem nicht den Anforderungen entsprach, die eine Sicherheitskultur erfüllen müsste. In Wirklichkeit kam ein typisches Beispiel von ‚regulatory capture’ “(Anmerkung MB/WW: Kaperung des Regulators, d.h. das Abhängig-Machen desselben) „zum Vorschein, bei der die Überwachung der Industrie durch die Aufsicht tatsächlich aufhörte. Wir fanden Beispiele dafür in der Unterbindung von Revisionen, in mangelnden Richtlinien für erbbebensichere Massnahmenplanung, wie auch in unsachgemässen Diskussionen in Zusammenhang mit der Regulierung von schweren Unfällen.“
Die Analyse erinnert in bedenklicher Art und Weise an die Aufsicht, wie sie hierzulande praktiziert wird und die wir – einmal mehr – in unseren letzten Beiträgen gespiegelt haben. Das Versagen einer einzig und allein dem Sachverstand verpflichteten Aufsicht in einem derartigen Hochrisikobereich führt auch zur Frage, warum die politischen Behörden, namentlich Regierung und Parlament in einem solchen Fall nicht eingreifen und eine griffige Überwachungsbehörde installieren. Anders gesagt, stellt sich die Frage, wer die Aufsicht kontrolliert und wer dafür sorgen müsste, dass sich Zustände und Abhängigkeiten, wie wir sie auch aus anderen Ländern kennen, korrigiert und behoben werden. Die Fragen lauten also: Wer beaufsichtigt eigentlich das ENSI? Und welche Eingriffsmöglichkeiten bestehen in diesem Kontext?
Diese Frage lässt sich einerseits durch einen kurzen Rückblick auf die Geschichte der Atomtechnik beantworten. Viele der bisherigen historischen Analysen der Entwicklung der Atomtechnik in der Schweiz[2] kommen unabhängig voneinander zu ähnlichen Schlüssen, was den politischen und wirtschaftlichen Kontext, den Aufbau und die Förderung der Atomtechnik, aber auch die Defizite der Aufsicht anbelangt. Kurz zusammengefasst zeigt diese historische Betrachtung zu Beginn eine allzu enge und konstant aufrechterhaltene Interessen-Bindung zwischen den militärischen Behörden der Schweiz und der Wissenschaft in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die dann in den sechziger Jahren durch eine ebenso starke Bindung zwischen Elektrizitätswirtschaft, Bundesbehörden und anderen Interessensgruppen abgelöst wurde. Diese staatlich-industrielle-wissenschaftliche Interessensallianz war der Förderung der Atomenergie und teilweise der Entwicklung eines eigenen Atombombenprogramms verpflichtet, förderte die Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen, erleichterte später auch der Atomindustrie ihre Entwicklung wo immer dies möglich erschien. Wie soll sich unter diesen Rahmenbedingungen eine Aufsicht entwickeln und durchsetzen, die in Konflikt zu einem solchen Förderungsprogramm geraten könnte, ja, geraten muss? Die staatlichen Aufsichtsorgane wurden immer so besetzt, dass sie nie gegen die Interessen der Industrie wirkten oder wirken konnten.
Andererseits gab es einen zweiten wichtigen Grund, weshalb die ohnehin kernenergiefreundliche Aufsicht weiterhin den Interessen der Industrie verpflichtet blieb. Die Aufsichtsbehörde wurde selber nie durch eine externe und Interessen unabhängige staatliche Stelle kontrolliert. Ab den frühen 1960er Jahren war die Aufsicht in den Händen der Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen, die v.a. mit Leuten aus der inzwischen an den Bund übergegangenen Reaktor AG – dem heutigen Paul Scherrer Institut – bestückt war. Die KSA bekam in den sechziger Jahren ein Sekretariat zur Seite gestellt, das in verschiedenen Etappen in die Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen (HSK) überführt wurde, aber immer als Teil der Bundesadministration (Bundesamt für Energie) fungierte und damit unter Kontrolle der Regierung stand. Erst mit dem Kernenergiegesetz von 2003 gewann die Aufsicht einen „unabhängigen“ Status, indem die HSK aus der engeren Bundesadministration herausgelöst und als Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) in den dritten Kreis der Bundesverwaltung entlassen wurde. Bei dieser Auslagerung stand auch eine essentielle Frage im Parlament zur Diskussion: wer kontrolliert das ENSI? Weder Parlament noch UVEK sind aufgrund der fachlichen Komplexität der Anlagen und Entscheide in der Lage, eine Aufsicht über die Aufsicht wahrzunehmen. Die einzige Institution in der Schweiz, die dazu in der Lage gewesen wäre, eine solche Aufgabe zu übernehmen, war die Eidgenössische Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen (KSA). Aber welch ein Zufall: Auf Ende 2007 wurde die KSA aufgelöst, nachdem sie unter dem Präsidium eines der beiden Blog-Autoren zu viel Unabhängigkeit beansprucht hatte. Die Gesuchsunterlagen zu den drei bevorstehenden Ersatzkernkraftwerken, welche zu dieser Zeit kurz davor standen, eingereicht zu werden, sollten – so die Rechnung der Allianz – nicht durch die aufsässige KSA geprüft und allenfalls verzögert oder verkompliziert werden können.
Zunächst sollte die KSA ersatzlos gestrichen werden. Aber im Parlament regte sich Widerstand. So ersetzten die eidgenössischen Räte schliesslich die KSA durch eine sehr viel kleinere und im Pflichtenheft eingeschränkte Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit (KNS). Bestrebungen, diese Kommission ebenfalls als wissenschaftlich unabhängiges, nur der Sache verpflichtetes Gremium zu installieren, wurden im Laufe der Jahre ebenfalls sabotiert. Mit dem unter Protest erfolgten Rücktritt des zweiten Blog-Autors wegen „Kaperung der Aufsicht“ (regulatory capture) verlor die KNS endgültig den Biss und hat sich inzwischen in eine brave Anonymität verabschiedet.
Grossen Anteil an dieser Entwicklung hatte dabei die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA), eine internationale Vereinigung der Atomenergiebefürworter mit Sitz in Wien, welche durch eine Vereinbarung mit den Vereinigten Nationen (UNO) verbunden ist. Laut ihrer Satzung verpflichtet sich die IAEA „den Beitrag der Kernenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand weltweit“ zu „beschleunigen und“ zu „vergrössern.“[3] Zu diesem Zweck hat die IAEA auch mit Kernenergie nutzenden Ländern Vereinbarungen abgeschlossen und bietet diesen auch sogenannte Überprüfungsmissionen ihres „Integrated Regulatory Review Service IRRS“ – einem sogenannten Integrierten Überprüfungs-Dienst der Aufsicht – an. Eine solche IRRS-Mission stand auch im Herbst 2011 in der Schweiz an.
Die Missionen der IAEA setzen im Wesentlichen auf das Personal von Aufsichtsbehörden anderer Länder, welche die Aufsichtstätigkeit ihrer Kollegen im zu überprüfenden Land kontrollieren. Eine solche Überprüfung folgt also im Grunde genommen den Vorgaben, welche die Kernenergie fördernde IAEA festlegt und verfolgt. Zudem ist die Aufsichtsphilosophie der verschiedenen Länder in der Ausrichtung und Tiefe sehr ähnlich, wenn nicht sogar praktisch identisch. Die meisten Länder sind also bestrebt, internationale Vorgaben einer atomfreundlichen Organisation zu erfüllen, die von parastaatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen geleitet sind. Dies ist im Atombereich – spezifisch auch bezüglich der IAEA – der Fall.
Die IAEA unterscheidet bei den Organisationsstrukturen im Wesentlichen nur zwischen zwei Handlungsträgern: den Betreibern und den Aufsichtsbehörden. Eine Aufsicht der Aufsicht ist trotz den dramatischen Ereignissen in Japan und den Struktur-Defiziten und den klaren Untersuchungsergebnissen des japanischen Parlaments zur Katastrophe von Fukushima nicht vorgesehen. Viele Länder halten sich zwar Zweitmeinungskommissionen – sogenannte „Government Advisory Boards ABG“[4] – aber diese Kommissionen erhalten den Auftrag, die Regierungen im Bereich der Kernenergie zu beraten, nicht aber den Auftrag, die Aufsichtsbehörden zu überprüfen. In der Schweiz erkannte das Parlament bei den Beratungen zum Kernenergiegesetz allerdings diese Gefahr und wünschte sich darum eine Aufsicht über die Aufsicht: die Kommission für die nukleare Sicherheit.
Diese Aufsicht über die Aufsicht passte der kernenergiefreundlichen Schweiz nach den Erfahrungen mit der KSA und besonders in Zusammenhang mit den Stellungnahmen der KNS zum Sachplangeologische Tiefenlager nicht ins Konzept. Die IRRS-Mission im Spätherbst 2011 und die danach folgende Überprüfungsmission aus dem Jahr 2015 beseitigten daher die Beurteilungsfreiheit der KNS. Im Hinblick darauf, „konsistente“ Urteile zu erhalten, empfahl die IRRS-Mission der IAEA der Schweizer Regierung, dass das ENSI die letzte Beurteilungsinstanz in Sachen Sicherheit sei. Die fünfte Empfehlung der IRRS-Mission hielt dabei fest: „Die Regierung soll sicherstellen, dass die relevanten Behörden, Kommissionen und Kommittees, z.B. die KNS, welche in nukleare Angelegenheiten involviert sind, ihre Empfehlungen und ihre Ratschläge direkt dem ENSI unterbreiten bevor dieses schlussendlich entscheidet. Dies soll in offener und transparenter Art und Weise geschehen, im Hinblick darauf es dem ENSI zu ermöglichen, begründete Entscheide zu fällen.“[5] Im Klartext: Regierungen sollen also weltweit Empfehlungen einer Förderungsorganisation der Kernenergie aufnehmen und umsetzen.
Die KNS muss seither ihre Empfehlungen dem ENSI unterbreiten. Dieses fällt die Schlussentscheide. Und damit stehen wir wieder vor demselben Grundproblem. Es gibt keine Aufsicht über das ENSI. Natürlich werden die offiziellen Institutionen einwenden, dass der Verwaltungsrat des ENSI – der sogenannte ENSI-Rat – dazu in der Lage ist. Aber Aufsicht kann nicht wirklich aus der internen Ecke kommen. Es braucht Distanz. Diese besteht auch beim heutigen ENSI-Rat nicht. Leider. Ob KNS oder ein anderen Sachgremium: es braucht zwingend eine externe Kontrolle der Aufsicht. Dies ist die wichtigste Essenz der bisherigen Betrachtungen.
Denn: Wer die Schweizerische Geschichte der Kernenergie betrachtet und untersucht, kommt um ein vernichtendes Urteil nicht herum: die Aufsicht hat in vielen grundlegenden Fällen schlicht und einfach versagt. Dies gilt nicht allein für den Bereich der nuklearen Entsorgung, der seit 45 Jahren in einem endlosen Prozess der Standortwahl von End- und Tieflagern verstrickt ist und bestenfalls nur zähflüssig vorankommt. Es gilt auch für den Bereich der Sicherheit von Kernkraftwerken, angefangen beim Reaktorunfall von Lucens bis hin zu den in unseren letzten Beiträgen beschriebenen Aufsichtsdefiziten um die KKW Beznau und Leibstadt. Und die Schweiz steht beileibe nicht alleine da, wie ein siebzigjähriger internationaler Missstand bei der Suche nach Lösungen für die produzierten radioaktiven Abfälle zeigt. Eine Schlussfolgerung lässt sich aus dieser internationalen Misere jedenfalls ziehen, IAEA hin oder her: eine von den Interessen der Atomindustrie unabhängige Aufsicht über die heute bestehenden Aufsichtsstrukturen muss zwingend hergestellt werden. Ansonsten wird die Wahrscheinlichkeit von neuen schweren Atomunfällen stark ansteigen, weil sich die Aufsichtsbehörden nicht getrauen, marode Anlagen stillzulegen.
Mit diesem Beitrag möchten wir daher das grundlegende Problem eines systemischen Defizits von Aufsicht hinweisen. Es sei explizit darauf hingewiesen, dass es aus Sicherheitsgründen nicht angeht, dass eine Partei – nämlich eine Organisation für Kernenergieförderung – Regierungen de facto dazu verpflichtet, Empfehlungen zur Aufsichts- und Sicherheitskultur umzusetzen. Dass eine solche Institution die Politik von Regierungen massgebend mitbestimmt, muss als unannehmbar bezeichnet werden. Vermutlich sind sich die wenigsten Beobachter im Klaren, was für eine Wirtschaftsorganisation aus dem Hintergrund agiert. Dies gilt es zu thematisieren und zu ändern.
Die Autoren unterschlagen (nicht wirklich), dass die Unsicherheitskultur um die Schweizer AKW auch einen kleinen Vorteil hat: Fliegt ein Schweizer AKW in die Luft, braucht es keine gründliche Abklärung der Ursachen. Es genügt dann, den zitierten Bericht aus Japan zu nehmen und die Namen auszutauschen. Praktisch!