Ein Gastbeitrag von Harald Jenny
In einem Rundschreiben an die Mitglieder des «Unabhängigen Begleitgremiums Schweizer Tiefenlager USBT» weist Harald Jenny auf eine grosse Lücke im laufenden Tiefenlagerprojekt hin: Es fehlt ein Plan B. Sollte das Projekt «Nördlich Lägern» nicht klappen, dann gibt es nur einen Ausweg: «Dann bringt man es irgendwie zum Klappen.»
Zum Beitrag:
Der grösste Schwachpunkt im Schweizer Tiefenlagerprojekt: Kein Plan B
Am OPALINUS EXCHANGE vom 7. Mai 2024 haben sich die Teilnehmer mit der Frage beschäftigt, was am 19. November 2024 auf die Öffentlichkeit zukommt, wenn die Nagra das Rahmenbewilligungsgesuch einreicht. Die ernüchternde Antwort ist: Nicht viel. Denn die Nagra wird die an diesem Datum eingereichte umfangreiche Dokumentation erst einige Monate später veröffentlichen, nach bestandener Vollständigkeitsprüfung durch die Bundesbehörden. Damit ja nichts schiefgeht. Im Gespräch wurde klar: Für die Nagra gibt es keinen Plan B. Der 19.11.2024 ist ein weiterer Wegpunkt in einer Einbahnstrasse, wo es keine Abzweigungen und keine Möglichkeiten zur Umkehr mehr gibt. Was, wenn etwas nicht klappt? Dann bringt man es irgendwie zum Klappen. Plan B? Fehlanzeige.
In der Nagra-Broschüre 500m+, Ausgabe 2/2023, wird die Stimmungslage in der Region Nördlich Lägern wie folgt beschrieben:
„Die Aufregung (darüber, dass das Tiefenlager nach NL kommt) ist inzwischen Pragmatismus gewichen. Schnell haben die meisten Anwohner:innen den Blick auf die Zukunft gerichtet. Auf das, was auf die Region zukommt.“
„Die Gemeindepräsidenten der drei am stärksten betroffenen Gemeinden … haben das Heft in die Hand genommen, Infoanlässe auf die Beine gestellt und Pläne geschmiedet. Und nach Antworten auf die grosse Frage gesucht: Wie macht die Region das Beste aus dieser Situation?“
Beide Statements implizieren unausgesprochen, dass der Entscheid für die Region Nördlich Lägern bereits gefallen ist. Als ob das ENSI das Projekt schon genehmigt, der Bundesrat seinen Beschluss bereits gefasst, das Parlament diesen validiert hat und das Referendum entweder nicht zustande kam oder abgelehnt wurde.
Man weiss aus der Psychologie, was solche einseitig suggestiven Berichterstattungen bewirken: Sie vernebeln den Blick für die Alternativen. Sie gaukeln vor, dass es nur eine Lösung gibt, in diesem Fall die der Atomlobby, und dass eine Diskussion über andere Optionen sinnlos ist.
Eine solche Art von Vereinnahmung kann das USBT nicht gutheissen. In jedem wichtigen Projekt wird mit Optionen und Alternativen gearbeitet. Und zwar nicht nur, ob die Fassaden grün oder blau gestrichen werden, ob allenfalls doch eine Rampe und kein Schacht gebaut werden soll, sondern grundsätzlich: Ob es richtig ist, das Tiefenlager in der dichtbesiedelten Region Zürich zu bauen, mit einer Oberflächenanlage direkt in der Anflugschneise zum Flughafen. Ob es Sinn macht, intensiv genutztes, bestes Landwirtschaftsland zu opfern. Ob es verantwortbar ist, so nahe am Rhein und im Einzugsbereich von Thermalquellen zu bauen, wo warmes Wasser das Tiefenlager umfliesst.
Die Nagra ist für solche Fragen taub. Mental ist sie seit längerem in einer Einbahnstrasse ohne Seitenabzweigungen, und die Strasse ist so eng, dass man nicht mehr umdrehen kann. Ihr Mindset ist: Wir haben schon so viel Zeit, Geld und Energie in dieses Projekt investiert; lasst es uns jetzt zu Ende führen.
Wer sich diesem Mindset nicht anschliesst, hat im Tiefenlagerprojekt eine undankbare, aber wichtige Aufgabe. Die Standard-Antwort der Nagra ist: «Wir prüfen alles, und auf diese Frage gibt es eine Antwort.» Wenn die Antwort noch nicht vorliegt, wird sie bestimmt noch kommen, und zwar derart, dass das Tiefenlagerprojekt selbstverständlich in seiner Einbahnstrasse weiter vorankommt. Mit der Möglichkeit, dass in dieser Einbahnstrasse Hindernisse auftauchen, die eine Umkehr erzwingen, rechnet heute bei der Nagra niemand mehr wirklich. Man ist sich seiner Sache so sicher und derart auf die gewählte Lösung fixiert, dass man kein Auge und kein Ohr mehr für Alternativen hat. Dass man ein allfälliges Referendum nicht als willkommene Diskussionsplattform, sondern als Projektrisiko einstuft. Spätestens jetzt sollten die Alarmglocken läuten.
Der grösste Schwachpunkt im Schweizer Tiefenlagerprojekt ist das völlige Fehlen eines Plans B. Der CEO der Nagra hat dieses Fehlen öffentlich eingestanden. Aber kein Projekt dieser Grössenordnung kommt ohne eine saubere Risikoanalyse aus, und keine Risikoanalyse ist ohne alternative Optionen vollständig. Entweder die Nagra hat ihre Risikoanalyse diesbezüglich nicht zu Ende geführt, dann wäre das unverantwortlich. Oder sie hat die alternativen Optionen zwar erarbeitet, kommuniziert sie aber nicht, weil sie ja Plan A gefährden könnten. Es ist unvorstellbar, dass Bundesrat und Parlament in wenigen Jahren ein Projekt mit einer Laufzeit von 1 Mio Jahren durchwinken, ohne Klarheit über Alternativen zu haben. Und solche gibt es.
Erstens sieht bereits das Kernenergiegesetz Alternativen zum Erfüllen der Entsorgung vor. In Artikel 31 steht:
«Die Entsorgungspflicht ist erfüllt, wenn
a. die Abfälle die Abfälle in ein geologisches Tiefenlager verbracht worden sind und die finanziellen Mittel für die Beobachtungsphase und den allfälligen Verschluss sichergestellt sind;
b. die Abfälle in eine ausländische Entsorgungsanlage verbracht worden sind.»
Das KEG denkt also bereits in Varianten. Selbstverständlich liebt die Nagra Absatz b. nicht und kontert sofort, grundsätzlich habe die Entsorgung im Inland zu erfolgen. Aber was heisst Inland in einem Projekt mit einer Laufzeit von 1 Mio Jahren? Wenn man sich nur schon die Verschiebung der Landesgrenzen in den vergangenen 3000 Jahren vor Augen führt (also 3 ‰ der Laufzeit), wird offensichtlich, dass die strikte Eingrenzung auf das heutige Territorium der Schweiz keinen Sinn macht, falls es ausserhalb unserer heutigen Grenzen bessere Lösungen gibt.[1]
Zweitens fehlt beim heutigen Nagra-Enstorgungsvorschlag jegliche Berücksichtigung der technischen Entwicklung. Die qualitativ hochwertigen, hochreinen Uranstäbe werden derart massiv im Untergrund verlocht und eingebuddelt, dass es bei Serienreife neuer Technologien nur schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen völlig unsinnig wäre, an ein Rückholen zu denken.
Die theoretische Möglichkeit der vielgepriesenen Rückholung ist ein Feigenblatt und keine Alternative im hier geforderten Sinn.
Drittens schliesst die Nagra viele, intelligente Zwischenlösungen aus. Not invented here, scheint man zu hören. Es ist unbestrittenermassen keine gute Idee, die Abfälle dort zu belassen, wo sie sich heute befinden – oberirdisch, nur durch Kastorbehälter geschützt und rund um die Uhr bewacht. Alternativen zu denken bedeutet aber, offen zu sein für neue Ideen und diese gleichbedeutend mit Plan A profund zu evaluieren. Warum kein Tiefen-Zwischenlager? Einfacher, weniger teuer, aber eine valable Übergangslösung, bis man weiss, was man mit den Abfällen machen kann? Oder eine Kavernenzwischenlagerung in einem der stillgelegten Militärflugplätze in den Alpen? Und so weiter.
Wer solche Vorschläge macht, erntet bei der Nagra und dem zuständigen Bundesamt nur Kopfschütteln. Das ist nachvollziehbar. Denn die Entsorgungspflichtigen wollen das Material so schnell wie möglich definitiv vergraben, damit sie die finanziellen Verpflichtungen los sind und das Problem dem Bund abtreten können. Offiziell argumentieren sie damit, es sei unethisch, kommenden Generationen den eigenen Dreck zu hinterlassen. Aber ist es ethischer, kommenden Generationen eine Altlast, fest verlocht in 800 m Tiefe zu übergeben, wo eine Bergung und Weiternutzung des Rohstoffs Uran unerschwinglich ist? Wo nach 10’000 Jahren radioaktive und chemisch-toxische Partikel langsam an die Oberfläche und ins Tiefengrundwasser zu diffundieren beginnen?
In einem Projekt, das Verpflichtungen für 40’000 Generationen mit sich bringt, ist es unverantwortlich, im Zusammenhang mit dem Rahmenbewilligungsgesuch keine Pläne B, C und D zu evaluieren. Nur weil man bereits so viel Zeit, Geld und Energie in Lösung A gesteckt hat, wird uns in ein paar Jahrhunderten niemand verzeihen, dass wir uns mit Scheuklappen auf die Umsetzung der einen fixen Idee konzentriert haben, ohne die klar existierenden Alternativen mit derselben Gründlichkeit zu prüfen.
Der OPALINUS-EXCHANGE[2] vom 7. Mai 2024 hat klargemacht, dass es im Zusammenhang mit dem Rahmenbewilligungsgesuch unverzichtbar ist, auch Alternativen mit derselben Detailtreue zu erarbeiten. Die Nagra macht es sich zu leicht, wenn sie diese Aufgabe an die Politik delegieren will. Als Beauftragte der Entsorgungspflichtigen ist es ihre ureigenste Mission, Varianten auszuarbeiten und zu präsentieren. Tut sie dies nicht, kommt der Bumerang irgendwann zurück, und sei es von künftigen Generationen. Dies zu verhindern, müsste eigentlich im ureigensten Interesse der Nagra sein.
Neuhausen, 17.5.2024/HJ
[1] Siehe z.B.
https://www.youtube.com/watch?v=b0zTN1n_VA&pp=ygUgTGFuZGVzZ3JlbnplbiBFdXJvcGEgMjAwMCBKYWhyZW4%3D
[2] Der « OPALINUS-EXCHANGE » ist ein interner Informations- und Diskussionsanlass des «Unabhängigen Begleitgremiums Schweizer Tiefenlager USBT», welcher durch Harald Jenny koordiniert wird (www.sicoa.ch/USBT).
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