(Foto: swisstopo.ch / W. Wildi)
Von Marcos Buser und Walter Wildi
Die Kommission EKRA
Die beiden Autoren dieses Beitrags waren in den Jahren 1999 bis 2001 Mitglieder der durch Bundesrat Moritz Leuenberger ernannten «Expertengruppe nukleare Entsorgungskonzepte» (EKRA, Präsident: Walter Wildi). Diese Gruppe erarbeitete das Konzept der «kontrollierten geologischen Langzeitlagerung» für radioaktive Abfälle, welches im Jahr 2003 als «geologische Tiefenlagerung»[1] ins revidierte Kernenergiegesetz (KEG[2]) aufgenommen wurde. Das Konzept zeichnet sich namentlich durch die Formalisierung der Überwachung des geologischen Tiefenlagers, zur Erhaltung der Möglichkeit einer eventuellen Rückholung der Abfälle aus.
Auf diesem Konzept beruht auch das im Herbst 2024 eingereichte (aber noch nicht öffentlich zugängliche) Rahmenbewilligungsgesuch der Nagra, für die Erstellung eines geologischen Tiefenlagers für alle Kategorien radioaktiver Abfälle in der Region «Nördlich Lägern». An diesem Standort sollen dereinst die Abfälle aller Kategorien in einem sogenannten «Kombilager» auf rund 800 m Tiefe eingelagert werden.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Abschluss der Arbeiten der EKRA stellen wir fest, dass das heutige Konzept («unser» Konzept) der «geologischen Tiefenlagerung» zumindest teilweise und in grundlegenden Aspekten überholt ist, und die nukleare Entsorgung nach neuen Wegen sucht. Diese Entwicklung möchten wir hier am Beispiel Schweiz kurz darlegen.
Der Zeitrahmen
Seit 1969 betreiben die grossen Elektrizitätsgesellschaften der Schweiz Kernkraftwerke. Die Nagra wurde im Jahr 1972 gegründet. Ihr 1978 revidierter Auftrag lautet[3] : Erarbeitung eines Vorschlags für Endlager für hoch, mittel und schwach radioaktive Abfälle aus Kernkraftwerken, Medizin, Industrie und Forschung. In diesem Jahr 1978 startete die Nagra das «Projekt Gewähr», in dessen Rahmen die Machbarkeit der Endlagerung in der Schweiz bis zum Jahr 1985 nachgewiesen werden sollte. Die Inbetriebnahme der Abfalllager war damals für 1990 und danach für den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vorgesehen. Für schwach und mittel radioaktive Abfälle genehmigte der Bundesrat den Entsorgungsnachweis im Jahr 1988, für hoch radioaktive Abfälle wurde das Projekt Gewähr schlussendlich im Jahr 2006 durch einen Bundesratsbeschluss mit zwei Jahrzehnten Verspätung abgeschlossen.
Die Standortwahl für Abfalllager wurde nach der Inkraftsetzung des Kernenergiegesetzes im Rahmen des «Sachplans geologische Tiefenlager» im Jahr 2008 neu gestartet. Nach weiteren Verspätungen sieht er nun die Inbetriebnahme eines Lagers für schwach und mittel radioaktive Abfälle (SMA) im Zeitfenster zwischen 2050 und 2064, und für hoch radioaktive Abfälle (HAA) zwischen 2060 und 2074 vor, rund ein Jahrhundert nach der Gründung der Nagra.
Transmutation: Entwicklungen im Bereich der Behandlung von hoch radioaktiven Abfälle
Der Bericht der EKRA kam im Jahr 2000 zum Schluss, dass die langfristig sicherste Methode zur Beseitigung von hoch radioaktiven Abfällen auf deren Einschluss hinter technischen und geologischen Barrieren im geologischen Untergrund beruht, wobei das Lager zumindest in einer ersten Zeit überwacht werden soll, um eine allfällige Rückholung zu ermöglichen. Der Expertenbericht (S. 47) erwähnt unter möglichen Gründen für eine eventuelle Rückholung der Abfälle neben Pannen und Störungen auch den Wunsch, nach einer «Wiederverwendung» von Ressourcen, also nach der Weiterverwendung der abgebrannten, hoch radioaktiven Brennelemente der Kernkraftwerke.
Auch die Umwandlung der radioaktiven Stoffe wurde damals diskutiert und in Experimenten getestet. Zu diesen gehörte etwa das am Paul-Scherrer-Institut (PSI) ab Frühjahr 2011 mit Erfolg durchgeführte internationale Projekt «Megapie»[4]. Allerdings waren zu dieser Zeit der Energieaufwand und die Kosten für eine solche Umwandlung («Transmutation») im industriellen Massstab zu hoch und kamen daher für die Abfallverarbeitung nicht in Betracht.
Seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts, dem Bericht der EKRA und dem neuen Kernenergiegesetz wurde die Standortwahl für geologische Tiefenlager weitergeführt, allerdings, in weiten Bevölkerungskreisen und selbst in Fachkreisen, begleitet von einer Skepsis zur Frage, ob ein geologischer Untergrund Garantie für eine bis zu einer Million Jahre dauernden sichere Isolation der Abfälle bieten kann.
Die Situation bezüglich der Behandlung hoch radioaktiver Abfälle hat sich im Verlauf der vergangenen Jahre stark und grundlegend gewandelt, namentlich indem sich die Transmutation als Methode zur Umwandlung von aktivem Kernmaterial zunehmend in den Vordergrund rückt. Heute steht in der Schweiz namentlich der Vorschlag der Firma Transmutex (Sitz in Vernier, Kanton Genf) zur Debatte. Transmutex schlägt vor, hoch radioaktives Material in Reaktoren mit Neutronen aus einem Teilchenbeschleuniger zu beschiessen, und auf diese Weise das Material unter Freisetzung von Energie umzuwandeln. Dieser Umwandlungsprozess kann dabei jederzeit gestoppt werden; eine Leistungsexkursion (Unfall mit Freisetzung) ist nicht möglich. Bei diesem Prozess kann die freigesetzte Energie zur Wärme- und damit zur Stromproduktion verwendet werden. Dabei können als Brennstoff auch hoch radioaktive Stoffe, wie etwa abgebrannte Brennstäbe genutzt werden. Auch bei dieser Transmutation entstehen radioaktive Abfälle, welche allerdings eine sehr viel kürzere Lebenszeit (Halbwertszeit) aufweisen, als die als Brennstoff verwendeten Stoffe. Sie können mit den andern schwach und mittel radioaktiven Abfälle (SMA) entsorgt werden. Die Notwendigkeit für den Betrieb eines Langzeitlagers für hoch radioaktive Abfälle (HAA) entfällt in diesem Fall.
Die Transmutation ist heute noch nicht in industriellem Massstab umgesetzt, findet sich aber auf gutem Weg in dieser Richtung. Die Einlagerung der hoch radioaktiven Abfälle ist in der Schweiz – wie oben erwähnt – in einem halben Jahrhundert vorgesehen. Es ist somit damit zu rechnen, dass sich die Transmutation zu diesem Zeitpunkt (oder schon vorher) als ernsthafte Alternative zur geologischen Tiefenlagerung für hoch radioaktives Material anbieten wird. Das geologische Tiefenlager der Nagra dürfte in diesem Falle obsolet werden. Wenn wir den Grundsätzen einer Kreislaufwirtschaft folgen, ist diese Entwicklung durchaus zu begrüssen.
Entwicklung im Bereich der schwach-, mittel- und hochradioaktiven Abfälle
Seit Beginn der Nutzung der Kernkraftwerke fallen täglich schwach und mittel radioaktive Abfälle an. Sie werden in den Werken und im ZWILAG konditioniert, teils auch durch die Verbrennung des Anteils an organischem Material, und später in den Hallen des ZWILAG in Würenlingen gelagert. Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF) lagern im Bundeszwischenlager auf dem Gelände des Paul-Scherrer-Instituts in Würenlingen.
Die definitive Lagerung in einem geologischen Tiefenlager war ursprünglich ab Anfang dieses Jahrhunderts geplant, verzögert sich nun aber wie erwähnt in mehreren Etappen um Jahrzehnte. Und dies bleibt nicht ohne Folgen, namentlich weil die dichte Verpackung der Abfälle gar nicht für eine so lange Dauer vorgesehen war. Wären die Abfälle, wie ursprünglich vorgesehen, ab Anfang dieses Jahrhunderts in Tiefenlager verbracht worden, so wären sie nun hinter den im Lager vorhandenen technischen und natürlichen Barrieren geschützt und würden im Rahmen der Lagerüberwachung kontrolliert.
Besonders gefährdet sind Gebinde radioaktiver Abfälle mit einem grossen Anteil an organischen Stoffen, wie etwa Ionentauscherharze aus dem Betrieb der Siedewasserreaktoren. Tritt Sauerstoff in die Abfallgebinde ein, etwa durch ein Korrosionsleck, so zersetzen sich die Harze und radioaktives Gas tritt aus. Lecks wurden in einem Zwischenlager bereits entdeckt, sodass die Abfälle neu konditioniert werden mussten (HSK 2003, S.24) [5]. Langfristig ist diese Situation nicht haltbar, und Abfälle mit organischen Stoffen müssen vor einer allfälligen definitiven Lagerung thermisch behandelt werden.
Doch zurück zu den hoch radioaktiven Abfällen: sollten diese dereinst der Transmutation zugeführt werden, so verliert auch die Lagerung schwach und mittel radioaktiver Abfälle in einem geologischen Tiefenlager in 800 m Tiefe an Interesse. Der Aufwand für eine solche geologische Lagerung, unter hohem Gesteins- und Wasserdruck und bei Temperaturen über 30°C , ist in diesem Fall umso disproportionierter, als für die notwendige Isolationszeit von wenigen tausend Jahren keine reelle Gefahr für eine massive Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umwelt ausgemacht werden kann. Andere Wirtgesteine und Standorte, mit angepassten Lagerbedingungen, wären in diesem Falle geeigneter als der Opalinuston der Region Nördlich Lägern in über 800 m Tiefe.
Konsequenzen für das Entsorgungsprogramm und die Kernenergie in der Schweiz
Das laufende Rahmenbewilligungsverfahren wird durch die obigen Aussagen kaum betroffen. Sollte aber dereinst eine Rahmenbewilligung erteilt werden, so stellt sich die Frage, ob nun ein Tiefenlager mit Kosten von mindestens 20 Milliarden Franken wirklich in Angriff genommen werden soll, oder ob eine Investition in die Transmutation der hoch radioaktiven Abfälle, sowie die Planung eines angepassten Lagers für schwach und mittel radioaktive Abfälle nicht sinnvoller wäre.
Die Transmutation benötigt wie erwähnt Reaktoranlagen, verbunden mit Teilchenbeschleunigern. Sollten solche Anlagen in der Schweiz gebaut werden, so wäre eine Änderung des Kernenergiegesetzes notwendig. Bei einer Änderung des Gesetzes wäre in jedem Falle darauf zu achten, dass künftig keine Reaktoren mehr zugelassen werden, bei welchen es zu Kettenreaktionen und Kernschmelze kommen kann, und in denen hoch radioaktive Abfälle entstehen. Eine Alternative bestände im Verkauf der hoch radioaktiven Abfälle und ihrer Transmutation in Anlagen im Ausland.
Die Transmutation mit Hilfe von Teilchenbeschleunigern ist nicht die einzige Alternative, die sich zum heutigen Tiefenlagerkonzept anbietet. Und seit einigen Jahren zählt auch die Transmutation der Abfälle durch Hochleistungslaser dazu, wie sie der französische Physiker und Nobelpreisträger Gérard Mourou vorschlägt. Man sieht: es zeichnen sich verschiedene physikalische und physikalisch-chemische und kristallographische Alternativen ab, die für eine nachhaltigere Beseitigung dieser Abfälle möglicherweise in Frage kommen. Damit bieten sich auch durchaus mittelfristige Alternativen zur heute debattierten geologischen Tiefenlagerung an. Welche dieser Entsorgungsvarianten auch dereinst umgesetzten werden wird: Was schlussendlich bei einer Entscheidung für einen neuen Entsorgungsweg zählen sollte ist die definitive Beseitigung der Gefahren, welche Mensch und Umwelt aus hoch radioaktiven Abfällen erwachsen.
[3] Der ursprüngliche Auftrag bezog sich nur auf schwach- und mittelaktive Abfälle
[4] https://www.nuklearforum.ch/fr/nouvelles/transmutation-dactinides-au-psi-experience-internationale-megapie/
[5] HSK 2003 : Gutachten zum Gesuch des Paul Scherrer Instituts um die Änderung der Betriebsbewilligung für das Bundeszwischenlager. HSK 22/483.
Berichtigung
Die Anfang Februar publizierte „SPRIN-D“ Studie (https://cms.system.sprind.org/uploads/SPRIND_Studie_Beschleunigergetriebene_Neutronenquelle_d8cde0cf9d.pdf) analysiert im Detail die Transmutation der hoch radioaktiven Abfälle Deutschlands. Sie argumentiert im Detail die Machbarkeit dieser Methode zur Beseitigung der HAA. Der oben stehende Satz „Das laufende Rahmenbewilligungsverfahren wird durch die obigen Aussagen kaum betroffen“ ist damit nicht mehr haltbar.
Ist nicht die Voraussetzung zur Transmutation eine Wiederufbereitung der abgebrannten Brennelemente, wie sie in La Hague und Selladfield gemacht wurde mit allen Konsequenzen dieser sogenannten Wiederaufbereitung? Ein industrielles Konzept, das offensichtlich gescheitert ist und eigentlich zu grossen Teilen für die Herstellung von Kernwaffen diente?
Lieber Herr Walter,
Hier eine erste Antwort auf Ihre Frage:
https://www.nzz.ch/wirtschaft/millionen-aus-den-usa-fuer-schweizer-atommuell-pionier-transmutex-soll-radioaktive-abfaelle-wiederverwerten-ld.1869899
Eine interessante Studie zur Transmutation radioaktiver Abfälle in Deutschland:
https://www.handelsblatt.com/dpa/studie-umwandlung-von-atommuell-konkret-moeglich/30204612.html
Der vollständige Expertenbericht (in deutscher Sprache): https://cms.system.sprind.org/uploads/SPRIND_Studie_Beschleunigergetriebene_Neutronenquelle_d8cde0cf9d.pdf
Sowie ein (sehr optimistisches!) Interview mit Guido Houben, Verwaltungsdirektor der Firma Transmutex:
https://podcasts.apple.com/ie/podcast/73-guido-houben/id1557529524?i=1000647887421
In diesem Vortrag an der Naturforschenden Gesellschaft Winterthur wird auch das Angebot der Transmutex an die Schweiz präsentiert: https://www.youtube.com/watch?v=5gzS5VQX_sY
Lieber Herr Walter Wildi
Ist dieser Abschnitt aus
https://cms.system.sprind.org/uploads/SPRIND_Studie_Beschleunigergetriebene_Neutronenquelle_d8cde0cf9d.pdf
… „In Kapitel 2 wird von Dr. Franz Strohmer (Transmutex) und seinem Team sodann dargelegt, wie die in einem Zwischenlager des untersuchten Atomkraftwerks befindlichen abgebrannten Brenn-elemente mit dem Verfahren des Unternehmens transmutiert werden könnten. Bedingung fürdie Transmutation von Atommüll ist, dass die (auch bereits verglasten) Brennelemente aus dem Zwischenlager zuvor in ihre Bestandteile zerlegt bzw. aufgelöst und diese sortiert werden. 80 % des Volumens wird so durch Partitionierung und, wo nötig, Transmutation von hochradioaktiven in nicht-, schwach- oder mittelradioaktive Stoffe umgewandelt. Das elektrochemische Verfahren der Transmutex AG gewährleistet zwar bereits, dass dies proliferationssicher und umweltschonend geschieht. …,“ was letzteres ich zu bezweifeln wage, nämlich die Möglichkiei der Abzweigung von Material für die Porliferation.
nicht genau das, was ich mit Wiederaufbereitung mit den uns bekannte Folgen gemeint habe? Verstehe ich da etwas falsch?
Mit freundlichen Grüssen Martin Walter
Lieber Herr Walter,
Die Aufbereitung von verglastem Abfall aus dem Zwischenlager ist auf S.59 beschrieben. Vereinfachend: Das Borsilikatglas wird pulverisiert und chemisch gelöst; sodann getrennt und transmutiert. Gemäss Transmutex (in Fachgespräch mit Prof. M.B. mündlich bestätigt) bleiben im elektrochemischen Verfahren Plutonium und Uran in derselben Fraktion (S. 9 und 38 der SPIN-D Studie). Plutonium könne also nicht elektrochemisch abgetrennt werden, sodass keine Proliferationsgefahr bestehe. Transmutex habe sich dies durch IAEA attestieren lassen.
p.s. Ich selbst bin nur Geologe!
Mit besten Grüssen
Walter Wildi