(Foto: W. Wildi; swisstopo.ch)
Von Marcos Buser und Walter Wildi
Der vorliegende Beitrag thematisiert die Entsorgung radioaktiver Abfälle aus einer übergeordneten Perspektive und in Zusammenhang mit den technischen Entwicklungen der heutigen Zeit. In Blog (a) wird die Entwicklung neuer Atomtechniken zur Stromerzeugung unter Berücksichtigung der Anforderung an die Sicherheit von Betriebs- und Entsorgungssystemen und an die Zielvorstellungen der Kreislaufwirtschaft betrachtet. Diese Perspektive stellt einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Ausrichtung und Entwicklung der Kernenergie dar.
Im Blog (b) wird die heutige Situation und die möglichen Entwicklungen und Alternativen für das Entsorgungsprogramm der Schweiz ausgeleuchtet. Er zeigt, dass die heute verfolgte Strategie des Vergrabens und Vergessens der radioaktiven Abfälle keine akzeptable Option darstellt, und dass sich namentlich für hoch radioaktive Abfälle ein Weg für die Umwandlung in weniger gefährlich Abfälle mit kürzeren Halbwertszeiten abzeichnet. Geologische Tiefenlagerung würde damit obsolet.
Eine bedenkliche Erbschaft
Seit Jahrzehnten sorgen radioaktive Abfälle für gesellschaftliche Kontroversen. In der Tat ist der bisherige Umgang mit den radioaktiven Stoffen aus der Atomenergienutzung rund um die Welt eine Schreckensgeschichte.
Zu Beginn der Entwicklung der Kernenergie wurden radioaktive Abfälle namentlich in aufgelassenen Bergwerken wild deponiert, in Flüsse eingeleitet, oder im Meer versenkt und verdünnt. Gesellschaftlicher Protest und wissenschaftliche Bedenken führten schliesslich dazu, dass sich die Verursacher der Abfälle auf die Suche nach besseren Lösungen machten. Sie fanden sie im Konzept der Endlagerbergwerke im geologischen Untergrund. Seit mehr als 50 Jahren sind nun Forschungsarbeiten und Projekte auf diesem Gebiet auf der ganzen Welt im Gang. All die länderspezifischen Projekte zielen darauf ab, das radioaktive Inventar durch mehrere künstliche und natürliche Barrieren zu schützen und die Freisetzung, den Transport und die Abgabe von Radioisotopen an die Umwelt über Zeitspannen von bis zu 1 Million Jahre zu verzögern.
Während Projektträger und Behörden diesem Entsorgungsmodell den Vorzug geben, mehren sich zunehmend grundsätzliche Zweifel, ob diese Strategie des Vergrabens und Vergessens den Prinzipien eines nachhaltigen Umgangs mit Roh- und Abfallstoffen genügen kann.
Bis zur Realisierung und dem Verschluss geologischer Endlager in 100 Jahren und mehr, ruht das sich angesammelte radioaktive Inventar zu einem grossen Teil in Zwischenlagern, in ungenügend geschützten Bauten an der Oberfläche. Nicht vergessen dürfen wir auch die über alle fünf Kontinente verstreuten, unkontrolliert abgelagerten Minenabfälle der Uranbergwerke, die ihre jeweilige Umgebung vergiften. Dies sind schlichtweg unhaltbare und nicht tolerierbare Zustände.
Parallel zu dieser Entwicklung setzt sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung um den weltweit alternden AKW-Park und um die zunehmen riskanteren Betriebsbedingungen solcher Anlagen fort. Die voraussichtliche baldige Stilllegung der alten Reaktoren führt zur Frage nach dem möglichen Ersatz dieser Produktionsanlagen. Zwei Fragestellungen stehen darum heute gesellschaftlich wieder im Vordergrund: Kann der heute für die Zukunft veranschlagte Energiebedarf der Länder allein mit erneuerbaren Produktionstechniken gedeckt werden? Oder müssen weitere Technologien entwickelt werden – darunter auch neue Kernkraftwerke – um den wachsenden Bedarf an Strom zu decken? Die sich seit Jahren in den demokratischen Industrienationen der Welt abspielende Konfrontation zwischen diesen zwei Optionen spitzt sich heute erneut zu.
Wie immer auch diese Debatte um ein Ja oder Nein, bzw. ein Jein zur Atomenergie ausgehen wird, was schlussendlich bei einer Entscheidung für einen neuen Weg zählen soll, ist die definitive Vermeidung von Gefahren, welche Mensch und Umwelt aus dem Betrieb nuklearer Anlagen und aus der Entstehung radioaktiver Abfälle über den gesamten Lebenszyklus der radioaktiven Stoffe erwachsen können.
Alternativen gesucht
Es ist mittlerweile eine Binsenwahrheit, dass die Menschheit massiv über ihre Verhältnisse und auf Kosten der künftigen Generationen und einer gesunden Umwelt lebt. Eine der bedenklichsten, wie auch langfristigsten Entwicklungen, der bisherigen Industrialisierung betrifft das Abfallwesen in seiner ganzen Breite und Tiefe. Der massive Ausstoss von Plastik-, Pestizid-, Sonder- und Atommüllabfällen ist nur eine dieser Fehlentwicklungen und ein Aspekt der grundsätzlichen Problematik. Produkte und industrielle Prozesse wurden und werden noch immer viel zu wenig aus dem Blickwinkel der Herstellung betrachtet, für die Folgeprobleme wie Abfall achselzuckend in Kauf genommen werden. «Irgendwo muss das Zeug ja hin» ist eine gängige Antwort auf den Sachzwang der Beseitigung von hochtoxischen Abfällen: auf diese Weise äusserte sich auch der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, im Jahr 2011 in Zusammenhang mit dem Beginn des deutschen Verfahrens zur Standortsuche für hochradioaktive Abfälle in Deutschland.[1] Selbst von höchster Seite werden keine Alternativen zu dieser unhaltbaren Ent-Sorgungs-Strategie angedacht und geprüft, geschweige denn entwickelt. Man nimmt hin, was einmal war, und lebt in den vererbten Sachzwängen weiter. Welch ein bequemes, ideenloses und hilfloses Wirken!
Dabei gibt es durchaus Alternativen zum bedenkenlosen Wegkippen von hochtoxischen Abfällen in altgedienten oder neu aufgefahrenen Bergwerken im geologischen Untergrund. Eine zentrale Frage lautet nämlich, ob gefährliche Stoffe und Stoffgruppen aus technischen Prozessen und Produkten nicht vorsorglich vermieden werden können, bevor sie im grossen Stil eingesetzt werden und als Problemabfälle in der Umwelt landen. FCKWs, POPs, darunter die «dirty twelve» wie DDT, PCBs usw., PFAS, HAAs und SMAs und wie all die Kürzel noch heissen, zeigen das Ausmass einer Technik auf, die sich aus der Verantwortung um ihre langfristigen Hinterlassenschaften stiehlt.
Genau diese Grundsatzfrage gilt auch für die in Entwicklung und im Gespräch stehenden neuen Reaktortechnologien. Beim Sammelsurium des Reaktorzoos[2], das seit einem Jahrzehnt um neue Atomreaktoren zur Debatte steht, geht es nämlich genau um diese Grundsatzfrage. Kann und will unsere Gesellschaft den benötigten Strom aus Reaktoren beziehen, die unfallsicher betrieben werden können und keine langfristigen Abfälle hinterlassen? Ist sie endlich auch dazu bereit, eine umfassende Planung und sichere Umsetzungen bei der Entsorgung der radioaktiven Abfälle zu garantieren? Dies sind Kernfragen, vor der die heutigen Gesellschaften weltweit stehen und welche eine zentrale Trennlinie zwischen technischer Immobilität und kurzfristigem Renditedenken auf der einen Seite und Nachhaltigkeit auf der anderen definiert. Der Weg in eine Kreislaufwirtschaft führt auch zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel, welcher Technik und Gesellschaft tiefgreifend umgestalten dürfte und der auf dem gesellschaftspolitischen Prüfstand steht. Dies gilt auch für die Nukleartechnik und ihre bisherigen Hinterlassenschaften.
Wie weiter mit der nuklearen Abfallentsorgung?
Wie alle ihre Schwesterorganisationen in der Welt verfolgt auch die Nagra in der Schweiz eine Entsorgungsstrategie, die sich vor mehr als einem halben Jahrhundert durchzusetzen begann. Die Genossenschaft erhielt anlässlich der Volksabstimmung zum Bundesbeschluss 1978 zum Atomgesetz einen Auftrag zur «Endlagerung» der radioaktiven Abfälle, der sie nun im Jahr 2024 zur Einreichung eines Rahmenbewilligungsgesuchs geführt hat (siehe Teil 2). Aber unterdessen, nach 50jähriger Arbeit, ist der ursprüngliche Auftrag eigentlich obsolet geworden:
- Auch im Abfallsektor spricht man längst über Kreislaufwirtschaft, die Verschleuderung von Ressourcen ist definitiv ein Auslaufmodell;
- Für hochradioaktive Abfälle (HAA) zeichnen sich zunehmend technische Möglichkeiten zur Immobilisierung und Behandlung bzw. zur Abfallumwandlung ab. Vergraben und vergessen ist unter diesen Umständen keine Option mehr;
- Für schwach- und mittelaktive Abfälle (SMA) ist eine neue Debatte zu Fragen der Abfallbehandlung und Langzeit-Zwischenlagerung gefragt. Die ursprünglich vorgesehene kurze Zwischenlagerung wurde längst durch die Verzögerung der Entsorgungsprogramme überholt.
Wären die Programme erfolgreich so weiter geführt worden wie ursprünglich angesagt, so wären wir jetzt nach dem schweizerischen EKRA-Konzept vermutlich in der Einlagerungsphase. Stattdessen liegen die Abfälle oft in lamentablem Zustand in sogenannten Zwischenlagern.
Natürlich wecken die neuen atomaren Technologien Ängste, dass die technische Umwandlung der HAA eine weitere Runde von Kernkraftwerken einläuten könnte. Aber wovor fürchten wir uns denn bei den laufenden Reaktoren? In erster Linie
a) vor Reaktorschmelzen;
b) vor hoch toxischen Abfällen mit langer Lebenszeit;
c) vor dem allgemeinen Umweltimpakt und dem sozialen Schaden, welcher durch KKW’s entsteht.
Neu in Entwicklung begriffene Technologien schlagen nun aber vor, die bestehenden hochaktiven (v.a. abgebrannte Brennelemente) in weniger toxische, kurzlebige Abfälle umzuwandeln und damit die geologischen Tiefenlager mit Laufzeiten von bis zu einer Million Jahre überflüssig zu machen. Hierzu sollen z.B. Beschleuniger zur Anwendung kommen, die langlebige Isotope mit Neutronen beschiessen. Dabei entsteht auch noch Energie. Schwere Unfälle sind de facto unmöglich: Treten Schwierigkeiten auf, so wird der Stromschalter gekippt und der Prozess hält an. Damit besteht nun eine Antwort auf die oben genannten Sorgen.
Will man nun einen solchen Weg bekämpfen? Oder sollte man sich nicht besser darauf konzentrieren, die Rahmenbedingungen für die Bewältigung der anstehenden Probleme, die wir der Zukunft überlassen wollen, neu zu setzen. Zu nennen wären in erster Linie ein offener gesellschaftspolitischer Diskurs, der diesen Namen verdient. Die Einführung einer angepassten, den Prinzipien der Nachhaltigkeit verpflichteten atomaren Technologie muss den Beweis liefern, dass sie die Visionen und Versprechen, die heute vertreten werden, tatsächlich auch entwickeln und einhalten kann. Dafür braucht es nicht nur eine grundlegende Veränderung in strategischen und planerischen Belangen einer neuen sicherheitsgerichteten Technik, sondern auch tiefgreifende Anpassungen beim Back-End des Entsorgungssystems: Konkret der Zwischenlagerphilosophie und -technik, der Aufbereitung und Rezyklierung von Abfallstoffen, dem sicheren Transport bzw. der Behandlung und längerfristigen Lagerung von grundsätzlich weiter verwendbaren radioaktiven Abfällen. Ebenso wichtig ist es, die zuständigen Strukturen und die unabhängige Führung von Aufsichts- und Kontrollprozessen sicher zu stellen. Des Weiteren gehört auch die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung dazu, welche die entsprechende Willensbildung und nachvollziehbare demokratische Entscheide ermöglichen soll. Es wird sich zeigen, ob dieser Weg in den westlichen Gesellschaften (wie auch in der Schweiz) überhaupt gangbar ist oder sich die Gesellschaft – wie in der Vergangenheit – in Befürworter und Gegner aufspaltet und der atompolitische Kampfmodus zum Schaden der Zukunft weitergeführt wird.
[1] Siehe diverse Medienbeiträge zur entsprechenden Aussage Winfried Kretschmanns im Zeitraum 2011 bis 2014.
[2] Prasser, Horst-Michael, 2021. Kurze Führung durch den Zoo der Reaktortypen. Denkströme 21. https://www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/391147/denkstroeme-heft21_99-116_prasser.pdf?sequence=2&isAllowed=y
Kommentar verfassen