Ausgangslage
Am 12. September 2022 präsentierte die Nagra die Region «Nördlich Lägern» (NL) als angeblich „besten“ Standort für ihr Projekt eines geologischen Tiefenlagers. Das Vorhaben sieht ein «Kombi-Lager» für schwach- und mittelradioaktive (SMA) und hochaktive Abfälle (HAA) im Bereich Haberstal (Stadel, ZH) vor. Im letzten Blogbeitrag (https://www.nuclearwaste.info/zum-vorschlag-haberstal-stadel-zh-als-standort-fuer-das-tiefenlager-die-nagra-unterschaetzt-die-tektonische-beanspruchung/ ) stellten wir dar, dass dieser Standort aufgrund seiner Nähe zu einer tektonischen Störungszone (der Weiach – Glattfelden – Eglisau-Störung)für einen derartigen Anschluss an das Lager nicht geeignet ist. Die Nagra wird damit wohl einen neuen Standort für die Oberflächenanlage und das Tiefenlager suchen müssen, welcher alle im Kernenergiegesetz und im Sachplan geologische Tiefenlager festgelegten Anforderungen bzgl. Langzeitsicherheit erfüllt.
Im vorliegenden Beitrag möchten wir einer weiteren Frage nachgehen, nämlich jener der ausreichenden räumlichen Verfügbarkeit einer geeigneten Gesteinsformation für die Aufnahme eines Kombi-Tiefenlagers in der Region Nördlich Lägern. Auf die zahlreichen zusätzlichen Fragen zu den Oberflächenanlagen gehen wir in diesem Beitrag hingegen nicht ein.
Platzbedarf für ein geologisches Tiefenlager
Zur Bestimmung des Platzbedarfes der Untertageanlagen sind folgende Elemente zu berücksichtigen:
Anlagenteile:
- Lagerzugänge und Belüftungsanlagen
- Empfangs- und Betriebsanlagen unter Tag
- Zugangs-und Lagerstollen
Die Nagra schlug bei ihrer Ankündigung vom 12. September 2022 für die Untertageanlagen des Kombilagers eine Anordnung der verschiedenen Anlageteile in einer einzigen subhorizontalen Lagerebene vor (Abb. 1)[1]. In dieser Anordnung erfolgen Bau und Betrieb des Lagers über Vertikalschächte, welche seitlich zum Lager keinen weiteren Platz benötigen. Die oben genannten Anlageteile nehmen gemäss diesem Projekt eine Oberfläche von 1 km x 2.5 km = 2.5 km2 in Anspruch (siehe Figur 1).
Schutzbereich:
Schutzbereich für alle Anlagenteile, sowohl seitlich als auch unterhalb und oberhalb des Tiefenlagers.
Figur 1: Schematische Darstellung des geologischen Tiefenlagers und seiner Oberflächenanlagen (siehe Referenz 1).
Das Kernenergiegesetz[2] definiert diesen Bereich wie folgt (KEG 2003, Art. 40 Schutz des geologischen Tiefenlagers):
«1 Der Schutzbereich ist der Raum im Untergrund, in dem Eingriffe die Sicherheit des Lagers beeinträchtigen könnten. Der Bundesrat legt die Kriterien für den Schutzbereich fest.
2 Wer Tiefbohrungen, Stollenbauten, Sprengungen und andere Vorhaben, durch die ein Schutzbereich berührt wird, durchführen will, braucht eine Bewilligung der vom Bundesrat bezeichneten Behörde.»
Die Kernenergieverordnung (KEV)[3] präzisiert in Art. 70 Schutzbereich weiter: «Art. 70 Schutzbereich
1 Der Schutzbereich eines geologischen Tiefenlagers ist auf der Grundlage des zur Bewilligung des Projekts vorgelegten Berichts zur Langzeitsicherheit festzulegen. Er muss umfassen:
a. alle Teile des Tiefenlagers, inklusive der Zugänge;
b. die Gesteinsbereiche, die den hydraulischen Einschluss des Tiefenlagers bewirken;
c. die Gesteinsbereiche, die einen wesentlichen Beitrag zur Rückhaltung der Radionuklide liefern, die im Laufe der Zeit aus dem Lager freigesetzt werden könnten.»
Die Ausdehnung des Schutzbereiches eines geologischen Tiefenlagers ist zurzeit weder gesetzlich noch durch Richtlinien festgelegt. «Die genaue Definition des Schutzbereichs und die damit verbundenen Einschränkungen werden durch die Behörden im Rahmen der Bewilligungen (Rahmenbewilligung, etc.) festgelegt.»[4] Indirekte Hinweise zur Abmessung des Schutzbereichs finden sich im Konzeptteil des Sachplans Geologische Tiefenlager[5] und in einer allgemeinen Beschreibung der geologischen Tiefenlager durch das ENSI[6].
Die Frage der Dimensionierung des Schutzbereiches ist von jener der Platzbeanspruchung eines Tiefenlagers nicht zu trennen. Da sie jedoch erst bei der Erteilung der Rahmenbewilligung durch die Behörden (lies: durch das ENSI) entschieden wird, können wir (und kann die Nagra) vorderhand bloss darüber spekulieren. Wir werden die komplexe Frage jedoch in einem späteren Blogbeitrag vertieft behandeln.
Die Nagra äusserte sich bereits vor Jahren zum Platzbedarf für geologische Tiefenlager. Vor den Arbeitsgruppen Sicherheit Kantone (AG SiKa) und Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES) nannte sie im Jahr 2017 die in Tabelle 1 aufgeführten Flächen[7]. Für Nördlich Lägern (NL) ergäbe sich demnach eine totale Fläche für beide Lagertypen von 12 bis 17 km2.
Tabelle 1: Von der Nagra postulierter Platzbedarf in den Standortgebieten ZNO (Zürich Nordost), NL (Nördlich Lägern) und JO (Jura Ost)
Zum (im Vergleich zu Zürich Nordost und Jura Ost) grossen Platzbedarf am Standort Nördlich Lägern schrieb die Nagra damals: «Der deutlich grössere Platzbedarf bei NL wird durch eine hypothetische erhöhte Frequenz anordnungsbestimmender geologischer Elemente bzw. Störungszonen begründet, die eine grössere Anzahl Lagerfelder erfordert. Die hohe Frequenz der Störungszonen ergibt sich hauptsächlich aus der Anwendung einer ungeeigneten Methode zur Ermittlung der Bruchverteilung. Sie basiert nicht auf einer Interpretation der seismischen Daten.» Um welche ungeeignete Methode zur Ermittlung der Bruchverteilung es sich dabei handelte, legte die Nagra damals nicht dar. Dies sollte sie nachreichen. Inzwischen liegen heute die seismischen Daten vor.[8]
Wir gehen bei unserer Abschätzung des Platzbedarfs vom Kombilager aus[9], welches durch die Nagra am 12. September 2022 vorgestellt wurde (Figur 1) [10]. Die Grundfläche dieses Lagers misst, wie oben erwähnt, rund 1 km x 2.5 km = 2.5km2. Fügen wir dieser Fläche für die weiteren Überlegungen allseitig einen 500 m breiten Schutzbereich hinzu (was in der Grössenordnung in etwa den Abmessungen für ein SMA Lager entsprechen könnte, für ein HAA-Lager aber vermutlich zu wenig sein dürfte), so ergibt sich ein Platzbedarf im geologisch ungestörten Untergrund von minimal 7 km2 .
Figur 2: Oberflächenkarte Opalinuston gemäss der 3D-Seismik (Fig. 6-13 aus NAB 18-035, Screenshot). Rote Linien: Tektonische Störungen, Blaue Linien: Diverse Lineamente. BIH: Baden – Irchel – Herdern-Störung; Eg: Eglisauer Verwerfung; Sb: Strassberg-Verwerfung; SIA: Siglistorfer Antiklinale; WGE: Weiach – Glattfelden – Eglisau-Störung. Violett: Position des Tiefenlagers gemäss Nagra (2022), potentielle Lagerperimeter NL West und NL Ost (siehe Text).
Potentielle Lagerperimeter in der Standortregion Nördlich Lägern
Die Figur 2 zeigt die Oberflächenkarte Opalinuston gemäss der 3D-Seismik (Fig. 6-13 aus NAB 18-035). In violetter Farbe ist der durch die Nagra vorgeschlagene Standort Haberstal (ohne Schutzzone) eingezeichnet, wie er aus der Präsentation vom 12. September in etwa abgeleitet werden kann. Der Standort liegt an und teils über der Störungszone Weiach – Glattfelden – Eglisau (WEG) und ist daher nicht für ein Tiefenlager geeignet. Die Nagra muss folglich in ein anderes, nicht gestörtes Gebiet ausweichen.
Die heute vorliegende 3D-Seismik gibt hierzu wertvolle Hinweise. Im Zentrum der Karte (Figur 2) liegt ein Bereich mit ruhiger gelagertem Opalinuston, durch das Lineament D3 (blaue Linie) und die Strassberg-Verwerfung (Sb) unterteilt in einen östlichen (NL Ost) und einen westlichen (NL West) Bereich. Diese beiden Bereiche sind, aufgrund ihrer seismischen Signatur, Kandidaten für weitere Standortuntersuchungen. Beide Bereiche weisen eine Oberfläche von je 7 km2 auf[11].
Wäre damit die Frage des Ersatzes für den Standort Haberstal gelöst? Folgende Argumente sprechen nicht unbedingt dafür:
- Die beiden Perimeter NL Ost und NL West sind verwinkelt, und die verfügbaren Flächen wohl kaum voll nutzbar.
- Für das HAA-Lager könnte der Schutzbereich deutlich grösser als die allseitigen 500 m ausfallen.
- Beide potentiellen Lagerperimeter NL West und NL Ost liegen über stark besiedeltem Gebiet, mit den Dörfern Glattfelden, Windlach, Schüpfheim, Stadel bei Niederglatt und Bachs. Würde hier ein geologisches Tiefenlager gebaut, so wäre dies weltweit (Projekte in Finnland, Schweden, Frankreich, USA) das Lager über dem am dichtesten besiedelten Gebiet.
- Würden die beiden Tiefenlager in einem einzigen der beiden Gebiete platziert, so wären keine Platzreserven mehr vorhanden, um auf allfällige tektonische und andere geologische Überraschungen ausweichen zu können.
- Der geologisch-tektonische Nachweis der Eignung dieser beiden Teilgebiete steht zudem heute noch aus.
Figur 3: Topographische Lage der potentiellen Lagerperimeter NL West und NL Ost. Beide liegen unter dicht besiedeltem Gebiet, mit den Dörfern Glattfelden, Windlach, Schüpfheim, Stadel bei Niederglatt und Bachs (Karte: swisstopo).
Provisorische Schlussfolgerung
Nach einem halben Jahrhundert wiederholt gescheiterter Bemühungen (die Nagra wurde im Jahr 1972 gegründet) präsentiert die Genossenschaft einen Standort für ein geologisches Tiefenlager, welcher aufgrund tektonischer Störungszonen in keiner Weise den Standortwahlkriterien des Kernenergiegesetzes und des Sachplans geologische Tiefenlager genügt. Um diesen Störungen auszuweichen, macht man in der Dokumentation der Nagra zwei Gebiete von je 7 km2 aus, in welchen man die Untersuchungen für ein Tiefenlager weiterführen könnte. Beide Gebiete sind aufgrund ihrer verwinkelten Geometrie jedoch kaum voll nutzbar und liegen teils unter dicht besiedelten Wohngebieten. Unsere Annahmen bzgl. der Dimensionierung der Schutzgebiete sind zudem eher zu bescheiden, sodass ein grösseres Gebiet zur Platzierung der geologischen Tiefenlager notwendig sein dürfte.
Die Situation ist somit in der Standortregion Nördlich Lägern prekär: Die Chancen hier ein geologisches Tiefenlager (insbesondere für hoch radioaktive Abfälle) errichten und betreiben zu können, sind gering, insbesondere wenn man bedenkt, dass keine reellen Ausweichmöglichkeiten bestehen. Hinzu kommt, dass der Ansatz der Nagra, ein Tiefenlager in Lagerfelder aufzuteilen, die durch tektonische Brüche bestimmt sind, in dieser Ausprägung einzigartig in der internationalen Planung von Tiefenlagern ist und methodisch mehr als diskutabel ist.
Man sollte sich deshalb schon frühzeitig Gedanken machen, wie eine weitere Prospektion des Untergrundes aussehen müsste, um die tektonische Situation in diesen beiden Teilgebieten zu klären.
Daher ist der Nagra auch nahezulegen, sich bereits in nächster Zeit konzeptuell mit der Phase der Standortcharakterisierung zu beschäftigen, also den „Erdwissenschaftlichen Untersuchungen Untertag“ (EUU im Nagra-Vokabular). Denn gemäss Entsorgungsprogramm 21 beabsichtigt die Nagra, unmittelbar nach rechtsgültig erteilter RB die entsprechenden Baugesuche einzureichen. Und dazu gehört ein ausgereiftes (aus unserer Sicht vom Ensi zwingend freizugebendes) Untersuchungsprogramm. Dieses beginnt spätestens bei den geotechnischen Vor-Bohrungen am Ort der abzuteufenden Zugangsschächte, findet seine Fortsetzung in der geotechnischen Aufnahme dieser Schächte selber und kulminiert im Untersuchungsprogramm in den Stollen des „auf Tiefe“ zu errichtenden Standort-Felslabors.
Parallel dazu wird die Nagra aber nicht darum herumkommen, auch einen Plan B vorzulegen für den Fall, dass sich die heute abzeichnenden Probleme im Untergrund von Nördlich Lägern bestätigen sollten.
[1] Nagra 2022: Der Standort für das Tiefenlager. Der Vorschlag der Nagra. Wettingen, 68 S. Abbildung Seite 8.
[2] 732.1 Kernenergiegesetz (KEG) vom 21. März 2003 Stand am 1. Januar 2022)
[3] 732.11 Kernenergieverordnung vom 10. Dezember 2004 (KEV)
[4] ENSI 2010, Technisches Forum Sicherheit: Fragen und Antworten. Frage 21 : Abstand zu zukünftigen Nutzungspotentialen
[5] BFE 2011: Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil, Revision vom 30. Nov. 2011.
[6] ENSI 2013: Geologische Tiefenlager ; radioaktive Abfälle sicher entsorgen. Informationsbroschüre — Geologische Tiefenlager/ 2. Auflage, © 2013 Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI
[7] Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa), Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES): Sachplan geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 2, Fachbericht zu Etappe 2. AWEL, Zürich, 41 S.
[8] Nagra 2019: Preliminary horizon and structure mapping of the Nagra 3D seismics NL-16 (Nördlich Lägern) in time domain. Arbeitsbericht NAB 18-35, Nagra Wettingen, 77 S.
[9] Wir diskutieren hier weder die Lageranordnung, noch die Abmassungen und Abstände der Lagerstollen.
[10] Nagra 2022: Der Standort für das Tiefenlager. Der Vorschlag der Nagra. Wettingen, Abbildung S. 8.
[11] Fügt man die beiden Perimeter NL Ost und NL West zusammen, so kommt man praktisch zur Lösung, welche die Nagra am 7. Januar 2019 der Vollversammlung der Regionalkonferenz Nördlich Lägern vorstellte. Die Auskartierung des Lineaments D3 (Schwellenzone von Bülach) und der Strassberg-Verwerfung (siehe Abb. 2 oben), hat dieser Hoffnung ein Ende gesetzt. (Referenz: Medienmitteilung zur 2. Vollversammlung/Etappe 3 der Regionalkonferenz Nördlich Lägern).
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