„Réversibilité“ lautet die oberste Maxime für die nukleare Entsorgung in Frankreich.
Und in der Schweiz?
Die Nagra im Erklärungsnotstand
Von André Lambert
Cette contribution sera également publiée en Français et en Anglais
This contribution will also be published in French and English
Der Bözberg im Kanton Aargau ist von der Nagra unter dem Decknamen „Jura Ost“ als potenzieller Standort für die „geologische“ Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle in der Schweiz bestimmt worden. Seither verfolgt die ansässige Bevölkerung die weiteren Aktivitäten der Nagra mit kritischem Argwohn. Namentlich die Organisation „Pro Bözberg“ setzt sich als kantonal einsprache- und beschwerdelegitimierte Körperschaft kompromisslos dafür ein, dass in allen Fragen der nuklearen Entsorgung ausschliesslich Kriterien der höchstmöglichen Sicherheit zur Anwendung gelangen; unter keinen Umständen sind weder politische noch geografische Opportunitäten „verhandelbar“ – am allerwenigsten die Nachbarschaft zum Zwilag. (https://proboezberg.ch/atommuell/). Das bedeutet nichts weniger als die konsequente Anwendung von Art. 30 Abs. 3 des Kernenergiegesetzes:
https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2003/3665.pdf
Um die Zusammenhänge in diesem komplexen Sachgebiet in eigener Kompetenz beurteilen zu können, erachtet es der Vorstand von „Pro Bözberg“ als vordringliche Pflicht, sich nicht nur an einseitig-sektoriell aufbereiteten Informationen und propagandistischen Mitteilungen der beteiligten Stellen zu orientieren, sondern aktiv und unabhängig auch die Entwicklungen im Ausland zu verfolgen sowie Experten vor Ort anzuhören.
Vor diesem Hintergrund hat eine 6-köpfige Delegation des Vorstands von „Pro Bözberg“ Ende Mai 2019 zwei für die nukleare Entsorgung in Frankreich zentrale Anlagen besucht. Die Teilnehmer haben die Reise in Eigenregie organisiert, vorbereitet und vollumfänglich bezahlt; sie werden ihre Eindrücke in geeigneter Weise publizieren.
Im Kern des nachfolgenden Beitrags steht als Haupt-Erkenntnis der Reiseteilnehmer der eklatante Unterschied zwischen den Einlagerungskonzepten der französischen und schweizerischen Entsorgungspflichtigen für hochradioaktive Abfälle. Für die Delegation von „Pro Bözberg“ steht fest, dass das französische Konzept um Grössenordnungen überzeugender wirkt als das schon seit Jahren von der Nagra propagierte. So steht die Agence nationale pour la gestion des déchets radioactifs (Andra) kompromisslos zum Primat einer technisch robust umsetzbaren, bereits heute im Massstab 1:1 demonstrierbaren Rückholbarkeit der hochaktiven Abfälle (HAA): realitätsnah, transparent und technisch überprüfbar – ein wohltuender Kontrapunkt zu den archaisch anmutenden Konzepten der Nagra.
Reversibilität: ein fundamentaler gesellschaftspolitischer Anspruch
In der öffentlich kontrovers geführten Debatte über die Langzeit-„Sicherheit“ der geologischen Tieflagerung hochaktiver Abfälle dominieren die Aspekte Kontrolle, Überwachung und Rückholbarkeit. Der irreversiblen Endlagerung gegenüber herrschen jedoch breite Skepsis und tiefes Misstrauen. Zu Recht: Allzu zahlreich sind die Beispiele von weltweit desaströsen, nicht bis kaum mehr sanierbaren, ursprünglich als „sicher“ (!) propagierten Deponien atomarer und/oder chemotoxischer Abfälle.[1] Ein Langzeitprozess vom Kaliber eines HAA-„End“-Lagers kann niemals „beherrschbar“ sein. Ebenso leuchtet ein (so jedenfalls müsste man meinen), dass in einem Bau- und Einlagerungsprozess dieser Tragweite, der sich über mehr als ein Jahrhundert erstrecken kann, neue Erkenntnisse obligat mit einzubeziehen sind.
Überwachung und Rückholbarkeit werden künftig in jedem Entsorgungsprojekt gültiger Standard sein. Spätestens seit den transdisziplinär erarbeiteten Ergebnisse der Expertengruppe Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle EKRA ist kein nukleares Entsorgungsprojekt in der Schweiz mehr denkbar, das diesen zentralen Forderungen nicht glaubwürdig Rechnung trägt. Folgerichtig gründen denn auch wesentliche Festlegungen im Kernenergiegesetz (2003) auf dem EKRA-Konzept, namentlich und beispielhaft die erleichterte Rückholung bereits eingelagerter radioaktiver Abfälle als conditio sine qua non für die Erteilung der Betriebsbewilligung für geologische Tiefenlager (KEG Art. 37 b).
Bezeichnenderweise haben exakt solche Überlegungen unsere französischen Nachbarn dazu bewogen, ihr Einlagerungskonzept (für HAA) danach auszurichten – und zwar so konsequent wie prominent. In einem Felslabor werden „auf Tiefe“ Einlagerungs- und Rückholungsversuche im Massstab 1:1 durchgeführt (freilich noch ohne radioaktive Abfälle). Die Technik wird getestet, optimiert, und jederman(n)/-frau kann sich vor Ort davon ein eigenes Bild machen. Zudem dominiert in allen einschlägigen Publikums-Broschüren der Andra der Begriff Réversibilité bereits die Überschrift.
Wohltuende Bereitschaft zu Selbstkritik und ungezwungenem Umgang mit offenen Fragen
Die hochradioaktiven Abfälle (HAA) aus verbrauchten Brennelementen der 58 französischen AKW sollen in einer Tongesteinsschicht von rund 140 Meter Mächtigkeit in knapp 500 m Tiefe eingelagert werden. Hinsichtlich der Umsetzung dieses Projekts betreibt die Andra bei Bure, am Nordostrand des tektonisch stabilen Pariser Beckens, ein geologisches Tiefenlabor. Hier werden die grundsätzliche Machbarkeit und die Sicherheit der geologischen Lagerung im Tongestein in etwa 450 m Tiefe getestet und geprüft. Es handelt sich also um einen eigentlichen standortbezogenen „Stresstest“ für ein in dieser Gesteinsschicht – ihre Eignung vorausgesetzt – zu realisierendes, örtlich angrenzendes geologisches Lager für hochaktive Abfälle auf einer Fläche von voraussichtlich rund 30 Quadratkilometern.
Die Vorstandsdelegation „Pro Bözberg“ zeigte sich im Felslabor Bure von Anbeginn ihres Besuchs beeindruckt von der hohen Professionalität der anwendungsorientiert Forschenden und ihrer kommunikativen Offenheit. Nach der 10-minütigen Fahrt im Schachtkorb bis „auf Sohle“ (ca. 450 m unter der Erdoberfläche) erfolgte der Rundgang durch das ausgedehnte Stollensystem der unterirdischen Experiment-Anlagen. Die Reiseteilnehmer profitierten von der wissenschaftlich-technischen Kompetenz der sie vor Ort begleitenden französischen Sachverständigen: einer Standort-Geologin, einer Fels-Geotechnikerin und eines Nuklid-Geochemikers. Diese Top-Expertinnen und Experten vermittelten in ebenso anschaulicher wie sympathischer Weise ein kohärentes Bild der teilweise komplexen experimentellen Untersuchungsabläufe sowie der bisherigen Ergebnisse aus dieser zielgerichtet und weitsichtig ausgelegten Forschungsanlage. Dabei zeigten sich diese Wissenschaftler sowohl im Gespräch wie auch in der Beantwortung von Fragen aus dem Teilnehmerkreis durchaus und wohltuend selbstkritisch. Dieser Erfahrungsaustausch mit Experten vor Ort war und ist besonders wertvoll, da die Nagra für die Entsorgung der hochradioaktiven Abfälle die Lagerung in einem ähnlichen Tongestein in Betracht zieht wie Frankreich.
Mitglieder des Vorstands von „Pro Bözberg“ rund 500 Meter unter der Erdoberfläche in einem Stollen des Felslabors Bure (Frankreich). Eine Stollenbau- und Felsmechanik-Expertin (mit weissem Helm) erläutert, wie sich der Vortrieb der Stollen nach den vorherrschenden Gebirgsspannungen zu orientieren hat, weil sich die aus dem Tongestein gebohrten Hohlräume unter dem enormen Gebirgsdruck langfristig verformen können. Denn die Langzeitsicherheit eines atomaren Tiefenlagers erfordert dauerhaftes Einschlussvermögen, also auch eine möglichst uneingeschränkte Integrität des Lagergesteins (Foto Pro Bözberg).
Irritierender Kontrast zu den Nagra-Konzepten
Eine wesentliche Erkenntnis der Reiseteilnehmer war denn auch der flagrante Unterschied zwischen den HAA-Einlagerungskonzepten der französischen und der schweizerischen Entsorgungspflichtigen. Für die Teilnehmer der Studienreise steht fest, dass das französische Konzept um Grössenordnungen überzeugender wirkt als das aktuell (und seit mehr als drei Jahrzehnten!) von der Nagra propagierte.
Ohne auf die in den Berichten der Nagra (z.B. NTB 02-02) ausgeführten technischen Einzelheiten einzugehen, kann die fundamentale konzeptuelle Divergenz der Konzepte in den beiden Ländern wie folgt zusammengefasst werden:
- Einlagerung
- CH – Nagra: Axiale Einlagerung der aneinandergereihten HAA-Behälter (Kennwort „Perlenschnur“) in bis zu 900 (in Worten neunhundert!) Meter langen Stollen von knapp 3 Meter Durchmesser (dies entspricht einem 1 Meter langen Spaghetti von gut 3 mm Durchmesser). Die über 20 Tonnen schweren Lagerbehälter mit den eingekapselten abgebrannten Brennelementen sollen auf Schienentransportern zu ihrem Einlagerungsort gerollt und auf Sockel aus kompaktiertem Bentonit aufgesetzt werden. Danach soll der verbleibende Hohlraum zwischen Behälter und Stollenwand mit Bentonit-Granulat in vorgegebener Schüttungsdichte qualitätsgesichert (!) verfüllt werden. Freilich müssen alle diese hochkomplexen, bergbautechnisch herausfordernden Prozesse in diffizilem Gebirge und akut letalem Strahlungsfeld zwingend fernbedient und vollständig roboterisiert in engen Stollen, mehrere hundert Meter unter der Erdoberfläche absolut störungsfrei erfolgen.
- F – Andra: Von einem befestigten, d.h. mit Beton-Tübbingen ausgekleideten, befahrbaren Hauptstollen aus werden im rechten Winkel zur Stollenachse seitlich in regelmässigen Abständen horizontale Stummel-Bohrungen (frz. alvéoles) von einigen Dekametern Länge in das Gestein vorgetrieben (Kennwort „Borkenkäfer“). Die Durchmesser dieser Bohrungen richten sich nach den Dimensionen der darin einzulagernden Abfall-Behälter. Während des Bohrens wird kontinuierlich ein Stahlrohr von einigen Zentimeter Wandstärke in das Bohrloch eingeschoben; danach wird der verbleibende Hohlraum zwischen Rohr und Bohrlochwand mit Bentonit verfüllt. Das Rohr dient der Stabilisierung des Bohrlochs und der nachfolgenden Aufnahme der Abfallbehälter.
- Rückholung
Die Reversibilitäts-Vorgabe gemäss EKRA-Konzept und KEG (Art. 37 b.) schreibt vor, dass im Bedarfsfall „die Rückholung der radioaktiven Abfälle … ohne grossen Aufwand möglich ist“.
Das Einlagerungskonzept der Nagra für die HAA steht jedoch zu dieser Forderung in diametralem Gegensatz. Man stelle sich vor: hintereinander axial eingelagerte über 20-Tonnen schwere Behälter, in einem mit Bentonit satt verfüllten, fast 1 km langen Mikrostollen, seinerseits in einem zu Duktilität neigenden Tongestein. Und vor dieser Situation sollte eine Rückholung „ohne grossen Aufwand“ möglich sein? Mit Verlaub: das grenzt an illusionären Selbstbetrug! Allein schon der dafür gemäss Baukonzept (Nagra 2002) erforderliche Maschinenpark erweckt den Eindruck von bergbautechnischer Fiktion. Auf jeden Fall existiert solches Equipment vorerst nur auf dem Papier (Nagra Techn. Bericht NTB 02-02, S. 141): als ferngesteuerter Multitasking-Superroboter (pikanterweise ausgestattet „mit radiologischen Sensoren“!) vereinigt dieser ein „Baggermodul“, ein „Bohrmodul“, ein „Rückholmodul“ und erst noch ein „Felssicherungsmodul“.
Man erwehrt sich bei der Lektüre des Beschriebs für den Rückholungs-Vorgang nur schwer des lakonischen Befundes: Diese als axiale Aneinanderreihung von Behältern konzipierte Lager-Auslegung belegt nachgerade, dass das Abfall-„Gut“ nie und nimmer rück-geholt werden kann – und wird. Auf jeden Fall darf man gespannt sein auf die – wann und wo auch immer, aber zwingend! – zu erfolgende Demonstration des futuristischen, jedenfalls noch zu konzpierenden Maschinenparks im realen Berg-Einsatz, Massstab 1:1.
Derweil schreitet die Andra auf ihrem Weg zügig voran. Ihr Konzept, einschliesslich der verwendeten Gerätschaft, wirkt vor allem darum so nachvollziehbar-überzeugend, weil es, inklusive aller bisherigen Entwicklungsschritte, jetzt schon im technischen Einsatz „demonstrierbar“ ist, vor Ort auf Lagertiefe, und auf Wunsch im Beisein von Publikum. Robust und einsehbar: so schafft man Vertrauen und Akzeptanz.
Etwas relativierend sei allerdings erwähnt, dass das französische Einlagerungskonzept für die HAA in einem Punkt auf unterschiedlicher Prämisse ausgelegt ist. Frankreich betreibt eine Wiederaufarbeitungsanlage (in La Hague, Normandie), in der noch verwertbares Uran und Plutonium aus den abgebrannten Brennelementen abgetrennt werden. Nach diesem Abtrennungsprozess werden die verbleibenden hochaktiven Abfälle – Spaltprodukte und langlebige Transurane (Aktiniden) – in einer Verglasungsanlage kalziniert, in Borosilikatgläsern eingeschmolzen und in 1.34 m hohe Stahlbehälter von 43 cm Durchmesser abgefüllt.[2] Diese Stahlbehälter sind knapp eine halbe Tonne schwer und daher einfacher zu handhaben, als die fast 5 m langen abgebrannten Brennelemente der skandinavischen oder schweizerischen Konzepte in ihren bis 20 Tonnen schweren Behältern.
Die Stahlkokillen mit den verglasten Abfällen sollen danach in Lagercontainer eingelassen, mit einem Deckel verschlossen und verschweisst werden. Das Prinzip der Einlagerung gemäss Konzept der Andra kann über folgende links, zumindest im schematischen Ablauf, eingesehen werden:
https://www.dailymotion.com/video/x105czv
https://www.youtube.com/watch?v=xWzFkpixHPY&feature=youtu.be
Jeder Schritt ist einleuchtend, plausibel und technisch nachvollziehbar. Die Abfallbehälter sollen strahlenabgeschirmt in einer Transporteinheit, zunächst über eine Tunnelrampe danach durch die Zugangstunnel zur Abzweigung des vorgesehenen Lagerstollens gefahren und mit einem teleskopisch bewegten hydraulischen Stempel an die vorgesehene Stelle im einige Dekameter langen, mit einem Stahlrohr ausgekleideten Lagerstollen geschoben werden. Der Durchmesser der Stahlrohre für die Aufnahme der Behälter (mit den verglasten hochaktiven Abfällen) im Berg beträgt 70 cm.
In weiser Voraussicht planen die Franzosen für den Bedarfsfall auch die Option der direkten Einlagerung verbrauchter Brennelemente (wie in der Schweiz); dazu müss(t)en die Stollen mit entsprechend grösseren Durchmessern (mind. 1 m) herausgebohrt werden. Es leidet keinen Zweifel, dass das Bohren solcher Lagerstollen technisch herausfordernd sein wird und bis zur operationellen Reife eine entsprechend aufwändige Testphase vor Ort erfordert.
Da die HAA-Behälter auf Keramik-Gleitelementen innerhalb des Stahlrohrs in den Lagerbohrungen grundsätzlich frei beweglich bleiben, erfolgt die Rückholung bei Bedarf im Wesentlichen mit demselben Instrumentarium, wie es bei der Einlagerung verwendet wurde. Dazu genügt ein hydraulischer Greif-Mechanismus, der sich an der Innenseite einer dafür vorgesehenen Nut am Behälter festklinkt. Damit kann dieser wieder aus dem Lagerstollen gezogen werde. Versuche mit künstlich (durch Einsatz von Säuren) am Lagerrohr festgerosteten Behältern haben gezeigt, dass das hydraulische Zugsystem über genügend Kraftreserven verfügt, um auch diesen Fall zu beherrschen.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Das Einlagerungskonzept der Andra für HAA (System „Borkenkäfer“): präsentiert sich bereits auf jetzigem Entwicklungsstand um Grössenordnungen besser als das „Schilfrohr“-Modell der Nagra, das eigentlich noch auf dem „Steinzeit“-Modell ihres gescheiteren Kristallin-Projekts beruht. Also wohlgemerkt aus der weit zurückliegenden Epoche als in der Schweiz die nukleare Ent-Sorgung noch als End-Lager vorgesehen war. Keine Rede von Rückholung!
Dem Paradigmenwechsel im Nachgang der EKRA-Folgerungen, konnte sich die Nagra – wenn auch mit höchst verhaltener Begeisterung – nicht mehr länger verschliessen. Das Lagerkonzept musste angepasst werden, einschliesslich der Frage der Reversibilität. Wenn die Nagra aber, zumindest seit Beginn der Sachplan-Ära, von Überwachung, Kontrolle und Monitoring in einem Pilotlager schwadroniert, dann sollte doch in stringenter Konsequenz auch eine bergbautechnisch, gemäss KEG „ohne grossen Aufwand“ machbare Rückholbarkeit gewährleistet sein, die diesen Namen verdient. Wie auch immer diese ingenieurmässig und unter Wahrung von Betriebssicherheit und Strahlenschutz ausgestaltet werden soll: das offenbar weiterhin aktuelle Einlagerungskonzept der Nagra lässt geradezu den Gedanken aufkeimen, dass eine Rückholung ar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Wenn wunderts, dass „Rückholbarkeit“ in der Nagra-Propaganda, eher widerwillig-zurückhaltend thematisiert, als lauer Aufguss daherkommt?
Selbst wenn dem Konzept der Franzosen – auch von ihnen selber unbestritten! – noch einiges an Verbesserungs- und Optimierungspotenzial innewohnt und auch wesentliche technische Fragen einer Abklärung harren, kann es doch als bedenkenswerter, dem Schweizer Konzept weitaus überlegener Ansatz gelten. Die Nagra, in erster Dringlichkeit jedoch die technische Überwachungsbehörde Ensi sind aufgerufen, sich diesem Thema ernsthaft zu widmen. Denn ohne ein Konzept, das die Reversibilität in der Öffentlichkeit überzeugend darstellt, im Massstab 1:1 vorgeführt werden kann und das von der Bevölkerung verstanden wird, ist die Realisierung eines atomaren Tiefenlagers illusorisch. Es gilt weiterhin die Gleichung:
Kompetenz + Praxisnachweis + Glaubwürdigkeit = Akzeptanz.
Keine vollendeten Tatsachen
Gemäss den „geltenden“ Plänen im Entsorgungsprogramm der Nagra soll ihr Einlagerungsbetrieb etwa 15 Jahre dauern (2060 –2075), danach Verschluss des Hauptlagers, bei einer „Beobachtungsphase“ von insgesamt ca. 50 Jahren. In ganz anderen Dimensionen bewegt sich die Planung der Andra (selbst wenn man vom fast 12 mal umfangreicheren AKW-Park abstrahiert). Hier soll nach dem Bau der Zugänge, Schrägschacht („descenderie“) und verschiedenen senkrechten Versorgungsschächten, in einer 10-jährigen Testphase die bis dahin erprobte Einlagerungstechnologie noch einmal unter Einhaltung strengster sicherheitstechnischer Vorgaben schrittweise auf das erforderliche Niveau industriell-operativer Reife gebracht werden. Danach, d.h. ab ca. 2035 rechnet die Andra mit einem über hundert Jahre dauernden Einlagerungsbetrieb. Über diese lange Zeit verbleiben die bereits eingelagerten Abfälle – grundsätzlich stets rückholbar – in ihren von beweglichen Stahlverschlüssen abgeschirmten „alvéoles“. So erfüllt die Andra den gesellschaftlichen Anspruch der „réversibilité“ in glaubwürdiger Weise. Den nachfolgenden Generationen bleiben die Optionen eines ggf. dank technologischen Fortschritts verbesserten, bzw. alternativen Umgangs mit den Abfällen oder dem definitiven Verschluss der Anlage. Damit folgt das Projekt dem parlamentarischen Beschluss Frankreichs, wonach (Zitat): «… ce stockage, prévu pour être définitif, soit réversible pendant au moins 100 ans pour laisser des choix aux générations suivantes et notamment la possibilité de récupérer des déchets stockés.»
27.7.2019 / André Lambert
[1] Siehe „Endlager für schwach- und mittelaktive Abfälle in Schweden und Finnland: ein Reisebericht“, www.nuclearwaste, https://www.nuclearwaste.info/endlager-fuer-schwach-und-mittelaktive-abfaelle-in-schweden-und-finnland-ein-reisebericht/; Siehe auch Buser, Marcos (2016): Endlagerung radio- und chemo-toxischer Abfälle im Tiefuntergrund. Wissenschaftlich-technische, planerisch-organisatorische und strukturelle Schwachstellen. Eine Beurteilung vier ausgewählter Fallbeispiele, Greenpeace Deutschland; Buser, Marcos (2017): Short-term und long-term Governance als Spannungsfeld bei der Entsorgung chemo-toxischer Abfälle. Vergleichende Fallstudie zu Entsorgungs-Projekten in der Schweiz und Frankreich: DMS St-Ursanne und das Bergwerk Felsenau (beide Schweiz) und Stocamine (Frankreich), ITAS-Entria-Arbeitsbericht 2017-02
[2] https://inventaire.andra.fr/families/colis-de-dechets-vitrifies-csd-v-oranola-hague
Kurt Bräutigam
Eine seriöse tiefgreifende Analyse und Beurteilung der momentanen Situation. Im Vergleich zur Nagra Darlegung bringt sie grundlegende Schwächen zu Tage.