Generell heben sich die fünf Kontinente weltweit langsam an. Gleichzeitig verwittert ihre Oberfläche; es bilden sich Böden. Diese Verwitterungsprodukte werden durch Wasser, Gletscher und Wind abgetragen (erodiert) und durch die Flüsse in die Meere und Ozeane geschwemmt, wo sie sich ablagern. Verschiedene Methoden, z.B. aus der Erdölprospektion, erlauben eine recht zuverlässige Abschätzung der Sedimentvolumen, die so von den Kontinenten ins Meer gelangen. Mit Hilfe der Datierung der Sedimente kann man auch auf das Volumen (die Masse) der Sedimentablagerungen in der geologischen Vergangenheit schliessen. Dividiert man die Sedimentmasse einer gewissen geologischen Zeit durch die Oberfläche der Kontinente, so erhält man die mittlere Erosionsrate, zum Beispiel in Metern Abtragung pro Million Jahre (Erosionsrate, Einheit: m/My).
Zwei Autoren, J.K. Willenberg und F. Blanckenburg (2010) haben diese Erosionsraten für die letzten 500 Million Jahre der Erdgeschichte kompiliert. Sie kamen dabei auf Raten von weniger als 10 m/My für die Zeit vor mehr als 100 Millionen Jahren. Danach wachsen die Erosionsraten an und die jüngsten Daten ergeben zwischen 70 und 80 m/My. Diesen weltweiten Mittelwert kann man im Weinland natürlich nicht anwenden. Er sagt einfach aus, dass die Hebung der Erdoberfläche und ihre Erosion eine normale Erscheinung sind.
Direkte Hinweise auf die Erosionsraten geben uns in der Norostschweiz, ähnlich wie im Genferseegebiet (Blog vom 20. März 2015), alte topographische Oberflächen einerseits und die durch die Gletscher im Gebiet Rheintal – Thurtal ausgehobenen Erosionsrinnen andererseits.
Die ältesten topographischen Referenzflächen aus dem Eiszeitalter bilden die sogenannten Deckenschotter. Die „Höheren Deckenschotter“ entsprechen Schotterfluren aus der Günzeiszeit, vor etwas mehr als 700’000 Jahren. Diese Fluren entsprachen Flussterrassen im Vorfeld der Gletscher. Die regional nächsten Referenzpunkte das Weinland liegen auf dem Buechbüel bei Neuhausen, mit einer aktuellen Höhe von 567 m über Meeresspiegel und auf dem Irchel, mit einer maximalen Höhe von 694 Metern. Das Dorf Marthalen liegt in der Mitte zwischen diesen beiden Punkten.
Im Weinland liegt der tiefste bekannte Punkt der Felsoberfläche bei Dätwil (Koordinate ca. 695’450/272’700, Distanz zu Marthalen: 5 km), wo eine Bohrung die Felsoberfläche bei 75 m über dem Meeresspiegel nicht erreichte (Von Moos 2009).
Man kann diese Daten von Schotterfluren und Erosionsrinnen so interpretieren, dass Gletscher im Verlaufe der letzten etwas mehr als 700’000 Jahre die Erdoberfläche in der Region Weinlandes lokal, d.h. in den Erosionsrinnen, um bis zu 500 bis 600 m abgetragen haben.
Zum Standortvorschlag Weinland der Nagra stellt sich die Frage, ob und wie man diese Informationen auslegen kann:
- Darf man lokale Informationen zu Erosionsrinnen aus der letzten Eiszeit (der Würmeiszeit, vor 115’000 bis 10’000 Jahren) auf die ganze Isolationszeit der radioaktiven Abfälle von etwa 1 Million Jahren projizieren? In diesem Falle würden sich einzig die bestehenden Rinnen weiter ausdehnen und vertiefen.
- Oder muss man eher davon ausgehen, dass eine Erosion von mehr als 500 bis 600 m (siehe oben) im Verlauf der nächsten Million Jahre auch ausserhalb bestehender Rinnen vorkommen kann, oder gar zu erwarten ist?
Der erste dieser Ansätze hat heute bei der Nagra die Präferenz. Der zweite Ansatz ist sicher vorsichtiger. Die obigen Erosionstiefen sind sicher in beiden Fällen als ernst zu nehmende Grössenordnungen zu verstehen. Was diese Erkenntnis für die Standortauswahl bedeutet, lesen Sie demnächst in der nächsten Folge zur Frage der Tiefenerosion.
Referenzen
Lih, T. et al. 2002: Das Quartär in der Stratigraphischen Tabelle von Deutschland. Newsletters in Stratigraphie. 41, Nr. 1‐3, Berlin, Stuttgart, S. 385‐399.
Von Moos AG 2009: Sachplan Geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 1: Beurteilung der glazialen Tiefenerosion im Rahmen der Festlegung der geologischen Standortgebiete. Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI, 8600, 24 S.
Willenbring, J.K. & von Blanckenburg, F. 2010: Long-term stability of global erosion rates and weathering during late-Cenozoic cooling. Nature 465, 211–214.
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