Es ist schon so eine Sache mit der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung von radioaktiven Abfällen (Nagra): vor 44 Jahren gegründet stolpert diese Gesellschaft von Misserfolg zu Misserfolg bei der Suche nach einem tauglichen Wirtgestein und geeigneten Standorten. Nach verständlichen Startschwierigkeiten in den 1970er Jahren und den ersten Misserfolgen mit Anhydritgesteinen und –standorten startete das Unternehmen mit dem Projekt „Gewähr“ und der Suche nach geeigneten Gesteinen des kristallinen Sockels im tiefen Untergrund. Die Kette der Misserfolge (siehe Blog-Beiträge vom 19.06.2015, 05.09.2015, 15.02.2016, 22.02.2016) führte schliesslich zum Sachplan geologische Tiefenlager und zu den aktuellen Programmen der Standortsuche. Eines hatte die bisherige Suche allerdings immer gemeinsam: das Ziel, die Rahmenbewilligung auf möglichst direktem Weg rasch zu erhalten. Auch im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager wurde dieses scheinbar leicht zu erreichende Nahziel angestrebt. Das Handlungsmuster der Genossenschaft war und ist darum stets dasselbe und war bis dato nur von Misserfolgen begleitet.
Diese strategischen und inhaltlichen Fehlplanungen wiederholen sich bei der Umsetzung der verfolgten Ein-Ziel-Strategie wieder: nicht ausgereifte Planungen, übereilte Zeitpläne, zu wenig belastbare wissenschaftliche Grundlagen, Kritikunfähigkeit, eingespielte Mechanismen der Abwehr und die Verweigerung einer offen zu führenden wissenschaftlichen Debatte, das sture Festhalten am einmal vorgezeichneten Weg, usw. Und bei jeder Etappe, bei der die Diskussion geführt wird, muss die Nagra entgegen ihrer Absicht schliesslich in der gewünschten Art und Weise nachbessern. Alle von den Kantonen und zu Beginn des Prozesses auch von der Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) geforderten oder gewünschten Forderungen wurden damit erfüllt: Erstens: Verdichtung der 2D-Seismik. Zweitens: Ausführung von 3D-Seismik-Programmen in den eingeengten Standortgebieten. Drittens: Wiederaufnahme des Standortgebiets „Nördlich Lägern“, das entsprechend dem in der berüchtigten Aktennotiz AN11-711 festgelegten Vorgehen von der Nagra bereits aussortiert worden war. Viertens: Die Neuplatzierung der Oberflächenanlagen ausserhalb von Grundwasser sensiblem Bereichen. Fünftens: das Eingeständnis, dass nebst einer Brennelementverpackung eben auch eine „heisse Zelle“ in den Oberflächenanlagen installiert würde, usw., usf.
Hinzu kommen die Überprüfungen der Arbeitsgrundlagen und Berichte der Nagra durch die Experten der Kantone, die kein gutes Licht werfen auf die konkrete Abwicklung der wissenschaftlichen Arbeit der Genossenschaft. Die von der Nagra versuchte Eliminierung des Standortgebiets „Nördlich Lägern“ wurde von allen vier Experten oder Expertengruppen der Kantone hart kritisiert. Die Hypothesen bezüglich einer „zu meidenden tektonischen Zone in diesem Teil von NL ist fragwürdig“, schrieb etwa der für geophysikalische Untersuchungen zuständige Gutachter, um zu folgern, „dass eine 3D-reflexionsseismische Untersuchung im Nordosten von NL“ … „nötig“ ist „um die Annahmen, Hypothesen und Modelle der Nagra zu überprüfen.“[1]
Das Gutachten zur bautechnischer Machbarkeit liest sich stellenweise wie eine wissenschaftliche Schelte: „Die Beschränkung der maximalen Tiefenlage auf 700 m für HAA-Lagerstollen erfolgte aufgrund unhaltbarer Prämissen und inkohärenter Argumentation. Das Fehlen eines ausgereiften bauingenieurmässig bearbeiteten Referenzprojektes selbst für eine Lagertiefe von 700 m hat zum Scheitern einer korrekten Bewertung von Lagerstandorten mit Tiefen von 900 m beigetragen. Es bedarf keiner weiteren vertieften und sorgfältiger ausgeführten Untersuchungen, um zu entscheiden, dass beispielsweise der Standort Nördlich Lägern aus Sicht der „bautechnischen Machbarkeit“ und der „Langzeitsicherheit“ beibehalten werden darf.”[2] Und der Gutachter empfiehlt, dass „Referenzprojekte mit einer angemessenen Bearbeitungstiefe sowohl für Lagertiefen von 700 m als auch für solche von 900 m auszuarbeiten“ wären. Genau die gleiche Empfehlung also, welche die Kommission für nukleare Sicherheit in ihren Stellungnahmen 2010 und 2011 bereits abgegeben hatte.
Die Überprüfung der Erosionsszenarien bestätigte eine mögliche Eintiefung durch Gletscherrinnen bis 300 m unter der heutigen Erdoberfläche, was natürlich den möglichen Platzbedarf des Endlagers für hochaktive Abfälle zusätzlich einschränkt. Und bezüglich dem Standort Bözberg kam das Gutachten zum Schluss: „Infolge der zu erwartenden abgesenkten Erosionsbasis ergeben sich neu zu treffende, geänderte Annahmen für ein HAA-Lager im Standortgebiet Jura Ost, die zu einem stark reduzierten verfügbaren Platzangebot führen.“[3]
Grundsatzkritik erfolgte auch im letzten der vier Gutachten zu den Dosisberechnungen: „Die Schlussfolgerung der Nagra – unter Anwendung der Vorgaben des ENSI -, dass alle Standortgebiete (SMA, HAA) aufgrund der Unterschreitung von vorgegebenen Dosisgrenzwerten sicherheitstechnisch sowohl geeignet wie auch gleichwertig sind, ist nicht haltbar. Eine sicherheitstechnische Eignung von Standortgebieten kann nur durch einen vollständigen Sicherheitsnachweis vor Ort festgestellt werden. Das Feststellen der Sicherheit eines Standortgebiets alleine auf der Grundlage von Dosisberechnungen ist nicht möglich.“ [4]
Schon Mitte Dezember 2015, gut zwei Monate vor der öffentlichen Publikation der Gutachten der Kantone war in einer Medienmitteilung der Nagra zu lesen: Die sicherheitstechnischen Optimierung der Tiefenlage sei insbesondere relevant für die Beurteilung, „ob das sehr tief liegende Standortgebiet Nördlich Lägern in Etappe 3 weiter untersucht werden soll“. Die Nagra sei „nach wie vor überzeugt, dass ein Lager in 900 Metern Tiefe sicher gebaut werden kann, dass diese grössere Tiefenlage aber im Vergleich zu 700 Metern sicherheitstechnische Nachteile hat“. Und führte dann weiter aus: „Sollte das ENSI bei der Überprüfung der Gesamtdokumentation anders als die Nagra zum Schluss kommen, dass Nördlich Lägern weiter untersucht werden soll – was bei einem ergebnisoffenen Vorgehen möglich ist – würde dies im Entsorgungszeitplan zu einer weiteren Verzögerung von ca. 2 Jahren führen.“ Man habe deshalb entschieden, mit den Planungsvorbereitungen für das Gebiet Nördlich Lägern zu beginnen, um „allfällige Verzögerungen zu vermeiden“.[5] Ein weitere klare Aussage, wonach nie vorgesehen war, das Standortgebiet Nördlich Lägern wirklich zu untersuchen.
Hinter den Kulissen waren die Würfel aber längstens gefallen. Die Kantone und ihre Gutachter verlangten die Untersuchung des dritten Standorts. Das Ensi gab wieder einmal klein bei und dürfte dies bei Gelegenheit auch schriftlich mitteilen. Und nachdem die Kantone im Februar 2016 ihre Expertisen publizierten, gab die Nagra an ihrem Jahres-Mediengespräch vom 14. April 2016 bekannt, was alle Beobachter schon längstens wussten: ab Herbst 2016 käme auch in Gebiet Nördlich Lägern die 3D-Seismik zum Einsatz[6]. Man beteuerte weiterhin, dass man nach wie vor der Überzeugung sei, „dass ein Lager in 900 Metern Tiefe im Vergleich zu einem Lager in 700 Metern Tiefe sicherheitstechnische Nachteile aufweist.“ Einmal mehr hatte die Nagra eine völlig unnötige Schlaufe gezogen und entgegen den schönfärberischen Rechtfertigungsversuchen weitere Verzögerungen produziert. Unbelehrbar immer nach dem gleichen Schema: sich zuerst mit allen Mitteln querstellen, bis der Druck zu gross ist und die Genossenschaft nachgeben muss.
Sollten weitere unproduktiven Entwicklungen in der Zukunft vermieden werden, wäre es an der Zeit, die Nagra endlich mit harter Hand an die Kandare zu nehmen, wie dies der Direktor des BFE zwar ankündigte, aber nie tat (siehe unseren Blog-Beitrag vom 18.04.2016). Diesem Zustand des jahrzehntelangen „Widerstandes gegen die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (siehe Blog-Beitrag vom 22. Mai 2015) muss ein Ende gesetzt werden. Die Kantone haben bereits angekündigt, dass ein Vorgehen bei der weiteren Einengung des Standortwahlprozesses erforderlich sei.[7] Ausschluss-Kriterien müssen definiert werden, und zwar jetzt, bevor die Untersuchungen und namentlich die Bohrungen laufen. Die Untersuchungen und Abklärungen müssen gezielt auf die verschiedenen Schwachstellen an den drei Standortgebieten angesetzt werden. Die Behörden müssen endlich den „lead“ – die Leitung – des wissenschaftlichen Verfahrens übernehmen, ansonsten sich das oben kurz beschriebene wissenschaftlich peinliche Schauspiel einmal mehr wiederholen wird. Im nächsten Beitrag werden wir darum eine Anzahl Kriterien vorstellen und die möglichen Untersuchungen in den verschiedenen Standorten diskutieren.
[1] Green, Alan G. (2016): Seismic images, neotectonism and seismic hazard: Evaluation of Nagra’s Stage 2 recommendations for the High-Level Waste (HLW) siting regions ([Seismikprofile, Neotektonik und Erdbebengefährdung: Beurteilung der Empfehlungen der Nagra in Bezug auf Standortgebiete für hochradioaktive Abfälle in Etappe 2]), Sachplan Geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 2, Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum «2×2-Vorschlag» der Nagra, Beilage 1/Annex 1, zuhanden Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa) Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), Januar 2016, S. 5
[2] Kovári, Kalman (2016): Die bautechnische Machbarkeit der Lagerstollen Einfluss der Tiefenlage auf die Langzeitsicherheit Beurteilung der Untersuchungen der Nagra, Sachplan Geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 2, Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum «2×2-Vorschlag» der Nagra, Beilage 2/Annex 2, zuhanden Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa) Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), Januar 2016, S. 36
[3] Müller, Erich, Schmid, Stefan (2016): Zu erwartende Erosionsprozesse in den drei möglichen Standortgebieten für hochradioaktive Abfälle (Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost), Sachplan Geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 2, Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum «2×2-Vorschlag» der Nagra, Beilage 3/Annex 3, zuhanden Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa) Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), Januar 2016, S. 26 und S. 27
[4] Baltes, Bruno (2016): Dosisberechnungen, Sachplan Geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 2, Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum «2×2-Vorschlag» der Nagra, Beilage 4/Annex 4, zuhanden Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa) Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), Januar 2016, S. 2
[5] https://www.nagra.ch/de/news/medienmitteilungdetail/erarbeitung-der-zusatzdokumentation-bis-mitte-2016.htm
[6] https://www.nagra.ch/de/news/news-detail/jahres-mediengespraech-2016-nagra.htm
[7] AG SiKa/KES (2016): Sachplan Geologische Tiefenlager (SGT) Etappe 2, Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra, Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa) / Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES), Zürich, Januar 2016, S. 3: „Da alle drei Standorte aus heutiger Sicht sicherheitstechnisch die Minimalanforderungen erfüllen, gleichzeitig aber unterschiedliche Schwächen und Stärken aufweisen, sind in Etappe 3 zwingend alle drei weiter zu untersuchen. Denn nur so kann gewährleistet werden, schliesslich den vergleichsweise sichersten Standort zur Auswahl zu haben. Dabei sollten gezielt die heute erkannten Ungewissheiten und möglichen sicherheitstechnischen Schwächen der einzelnen Standortgebiete angegangen werden. Ein solches Vorgehen ist fokussiert und effizient.“
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