Sicherheitsanalyse als Instrument zur Garantie der Lagersicherheit
Im Blogbeitrag vom 2.Mai 2016 haben wir versucht, die Eignungskriterien für einen Standort für ein Geologisches Tiefenlager für radioaktive Abfälle zu klären. Wie erwähnt, muss der Nachweis der Einhaltung der Kriterien gemäss Kernenergiegesetz (KEG 2003) und Kernenergieverordnung (KEV 2004) in Etappe 3 des Sachplans Geologische Tiefenlager erbracht werden und in das Rahmenbewilligungsgesuche (bei Kombilager für alle radioaktiven Abfälle), oder die Rahmenbewilligungsgesuche (bei separaten Lagern für Abfälle schwacher und mittlerer, bzw. hoher Radioaktivität) einfliessen. Hierzu dient der sogenannte Sicherheitsnachweis.
Für die Betriebsphase (vom Bau des Lagers bis zu dessen Verschluss) schreibt das ENSI hierzu in seiner Richtlinie G03/d (§ 7.1):
„Der Sicherheitsnachweis für die Betriebsphase hat sich auf eine systematische und umfassende Sicherheitsanalyse sowohl des Normalbetriebs der Anlage wie auch der Auswirkungen von Störfällen zu stützen. Die für den Sicherheitsnachweis erforderlichen Unterlagen richten sich nach den Angaben im Anhang 4 KEV. Sicherheitsrelevante Aspekte des Betriebs einer am gleichen Standort erstellten Verpackungsanlage sind im Sicherheitsnachweis für die Betriebsphase eines geologischen Tiefenlagers einzuschliessen.“
Für die Nachverschlussphase (Lagerphase) lauten die Anforderungen an den Sicherheitsnachweis wie folgt (G03/d, § 7.1):
„Der Sicherheitsnachweis stellt eine Gesamtbewertung der Langzeitsicherheit des verschlossenen geologischen Tiefenlagers dar. Er ist auf die Ergebnisse einer umfassenden Sicherheitsanalyse abzustützen, in der das Langzeitverhalten eines geologischen Tiefenlagers und die daraus resultierenden radiologischen Auswirkungen untersucht werden. Der Sicherheitsnachweis hat eine Bewertung der Methoden der Sicherheitsanalyse und der verwendeten Daten zu enthalten. Gegebenenfalls sind unterstützende Argumente für die Grundlagen und Ergebnisse der Sicherheitsanalyse anzuführen. Nach Möglichkeit sind die Aussagen der Sicherheitsanalysen durch Beobachtungen in der Natur (Naturanaloga) zu stützen.
Der Sicherheitsnachweis ist gemäss aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik zu führen. Die verfügbaren technisch-wissenschaftlichen Daten über das geologische Tiefenlager und seine Umgebung sowie die effektiv eingelagerten Gebinde und die während des Betriebs gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse der Überwachungsprogramme sind entsprechend zu berücksichtigen. Die technisch-wissenschaftlichen Daten müssen auf einem Stand sein, der die Beurteilung des Rückhaltevermögens des Barrierensystems und der für die Begrenzung der Freisetzung von Radionukliden aus einem geologischen Tiefenlager wichtigen Prozesse und Parameter ermöglicht.
Der Sicherheitsnachweis ist in einem Sicherheitsbericht zu dokumentieren. Darin sind auch die Ungewissheiten und ihre sicherheitstechnische Relevanz aufzuzeigen und zu quantifizieren. Dazu gehören Ungewissheiten bezüglich Parametern, Szenarien und Modellkonzepten. Der Sicherheitsbericht ist periodisch zu aktualisieren und hat neue Erkenntnisse für den Nachweis der Langzeitsicherheit zu berücksichtigen.“
Wie im letzten Beitrag erwähnt, ist in der heutigen Praxis das wichtigste Kriterium zur Beurteilung der Eignung eines Lagerstandortes die Strahlendosis, welche eine im Einflussbereich eines Geologischen Tiefenlagers lebende Bevölkerung erhalten könnte. Diese Dosis darf zu keiner Zeit 0.1 mSv pro Jahr überschreiten. Der Nachweis der Einhaltung dieser Dosisgrenze erfolgt über die Sicherheitsanalyse. Diese wird in der ENSI-Richtlinie G03/d (§ 7.2.2) detailliert:
„Die Sicherheitsanalyse ist als systematischer Nachweis für die Einhaltung der Schutzkriterien zu führen. Die Analyse hat mindestens die folgenden Aspekte zu umfassen:
- Detaillierte Beschreibung des geologischen Tiefenlagers (Abfallinventar, Barrierensystem, geologische Situation).
- Aufzeigen des zeitlichen Verlaufs der radiologischen Toxizität der eingelagerten
- Abfälle.
- Beschreibung der Wirkung und Robustheit der technischen und natürlichen Barrieren. Das Rückhaltevermögen des Barrierensystems ist durch Berechnungen aufzuzeigen.
- Beschreibung der zu erwartenden geologischen Langzeitentwicklung.
- Beschreibung der zu erwartenden Entwicklung der im geologischen Tiefenlager befindlichen Materialien, einschliesslich der radioaktiven Abfälle und der technischen und natürlichen Barrieren. Die Beschreibung muss die möglichen gegenseitigen Beeinflussungen der unterschiedlichen Materialien berücksichtigen.
- Durchführen einer Szenarienanalyse und Festlegung der Rechenfälle, mit denen die zu betrachtenden Entwicklungen des Tiefenlagers untersucht werden. Die möglichen radiologischen Auswirkungen zukünftiger Entwicklungen sind durch umhüllende Varianten einzugrenzen.
- Ermittlung des Variationsbereichs der möglichen Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Biosphäre und des Dosismaximums aller Szenarien mit Hilfe von Modellrechnungen.
- Begründung, dass die verwendeten Rechenmodelle auf die vorliegende Situation anwendbar sind. Die Bedeutung von Vereinfachungen in den Rechenmodellen gegenüber den natürlichen Gegebenheiten ist zu erläutern.
- Durchführen einer Sensitivitätsanalyse, um aufzuzeigen, inwiefern Änderungen in den Parameterwerten die Berechnungsergebnisse beeinflussen.
- Analyse der vorhandenen Ungewissheiten in den Daten, Prozessen und Modellen und Berechnung der daraus folgenden Bandbreite der Radionuklidfreisetzung resp. Dosen.“
Etwas vereinfachend können diese Ausführungen wie folgt zusammengefasst werden:
- Das Lager, dessen Inhalt (Abfälle, Verpackungen) und Umgebung (Geologie, Hydrogeologie) werden numerisch beschrieben (Daten aus Literatur, Laborexperimenten und Naturbeobachtungen).
- Die mögliche (denkbare) zeitliche Entwicklung des Lagers wird durch Szenarien („Geschichten“) beschrieben, welche sodann bezüglich der Freisetzung von radioaktiven Stoffen und deren Weg zur Biosphäre (Erdoberfläche) modellhaft gerechnet werden.
- Die Resultate werden auf ihre Empfindlichkeit und Ungewissheit geprüft: „Der Einfluss von Ungewissheiten auf die berechneten Ergebnisse ist systematisch aufzuzeigen, und die daraus gezogenen Schlüsse für die Langzeitsicherheit sind darzulegen.“
Nun sind die im Blog-Beitrag vom 2. Mai erwähnten Standortkriterien sehr unterschiedlicher Art, sei es bezüglich der möglichen natürlichen Einflüsse auf das Lager, sei es bezüglich menschlicher Einflüsse. Und es stellt sich die Frage, ob und wie für alle möglichen Szenarien ein Dosiswert bestimmt werden kann, welcher die Einhaltung der Kriterien überprüfen lässt.
Szenarien
Am einfachsten gestaltet sich die Beurteilung des Grundszenariums, in welchem über die ganze Lebenszeit des Lagers, vom Bau bis zum Abklingen der Radioaktivität in weiter Zukunft der Ist-Zustand (heutige Situation) angenommen wird. In diesem Szenarium werden alle messbaren Grössen für die Abfälle und deren Nahfeld, sowie für das geologische Umfeld als Rechengrössen verwendet. Die Nagra nimmt etwa an, dass die Abfälle während einer gewissen Zeit fest in ihrer Verpackung eingeschlossen sind. Nach Ablauf dieser Zeit beginnt das spärlich zirkulierende Grundwasser radioaktive Stoffe aus den Abfällen heraus zu lösen und transportiert sie möglicherweise an die Erdoberfläche, wobei ein Teil der Stoffe unterwegs im Untergrund „hängenbleibt“ (sog. Adsorption an Gesteinsoberflächen und Mineralien). Die Strahlendosis für Menschen und andere Organismen resultiert aus der Aufnahme des kontaminierten Grundwassers. Bei diesem Szenarium können theoretisch und häufig auch praktisch die zur Rechnung notwendigen Grössen im Labor gemessen und teilweise auch im Feld validiert werden.
Sodann kann man Varianten dieses Grundszenariums einführen. Dazu wird oft das folgende Prinzip der Historiker verwendet: Was in der Vergangenheit geschah, kann auch in der Zukunft geschehen. Zum Beispiel die Gletschererosion des Untergrundes im Zürcher Weinland (unser Blogbeitrag vom 30. März 2015): Vor etwa 700’000 Jahren lag die Oberfläche des Reliefs auf 500 bis 600 m Höhe. Hier schütteten Gletscherflüsse die Deckenschotter auf. Sodann folgten mehrere Eiszeiten mit Vergletscherungen bis ins Schweizerische Mittelland und warmen, von Gletscher freien Zwischeneiszeiten. Während der letzten Eiszeit, vermutlich vor etwas mehr als 20’000 Jahren, kolkte der Rheingletscher örtlich den Fels bis auf die Kote von 75 m über Meereshöhe aus. Nach dem Historikerprinzip kann man nun postulieren, dass in kommenden Eiszeiten die Erosion etwa im gleichen Mass weitergehen wird und während der Lagerzeit der radioaktiven Abfälle weitere 400 bis 500 m Gestein (oder mehr?) weg erodiert werden können. Zur Frage, wie tief der Fels bei jeder einzelnen Vergletscherung abgetragen wird, haben wir aus der Vergangenheit nur unsichere Hinweise. Daher kann und muss man hierzu verschiedene Szenarien prüfen, sei es mit rascher, oder langsamer Erosion und folglich mit mehr oder weniger rascher Ausgrabung der Abfälle, beziehungsweise der radioaktiv verseuchten Zone des Untergrundes. Dass jede Vergletscherung das Erdrelief, die Oberflächen- und Grundwasserzirkulation stark verändert, kompliziert die Sache, denn zu diesen zusätzlichen Elementen eines Szenariums verfügen wir über noch weniger Informationen, als über die Tiefenerosion.
Komplizierter, bzw. viel komplizierter wird die Sicherheitsanalyse bei der Kombination mehrerer unterschiedlicher Szenarien. So muss bei obigem Szenarium der Gletschererosion sicher der Klimawechsel mit einbezogen werden, also auch der Wechsel der Niederschlagsmengen. Sodann ändern die Gletschererosion und der Klimawechsel den Fluss der Oberflächengewässer und den Grundwasserfluss.
Noch komplizierter ist die Situation bei Einbezug menschlicher Eingriffe. Als Beispiel der Bözberg: Dieser Standort liegt über dem Permokarbon-Trog, in welchem Kohle, eventuell auch Erdgas vorkommen. Es handelt sich um eine Region mit einem hohen Potential für die Nutzung der Erdwärme (Geothermie). Schon heute führen Verkehrswege (Eisenbahn, Autobahn) in Tunnels durch den Bözberg. Weitere Transportwege (z.B. Swissmetro) könnten folgen. Als Baustoffe können an der Oberfläche Glimmersande und darunter Kalk, Mergel und Ton (Opalinuston) ausgebeutet werden. Zum Teil geschehen oder geschahen solche Nutzungen auch schon.
Unendlich viele Szenarien?
Theoretisch gibt es auf diese Weise eine unendliche Anzahl von Szenarien-Kombinationen, welche man über die gesamte Lagerzeit hinweg formulieren und berechnen müsste, um den Sicherheitsnachweis zu erbringen. Und dies ist wohl kaum möglich. Wie soll man folglich vorgehen?
Üblicher Weise greift die Nagra zur Lösung der „konservativen“ Annahmen (Nagra 2014 c). Dies bedeutet, dass sie in ihren Sicherheitsanalysen à priori ungünstige Annahmen trifft, z.B. höhere Durchlässigkeit des Muttergesteins und damit höheren Grundwasserfluss, als dies ihren Messwerten entspricht. Fällt in diesem Fall die Sicherheitsanalyse immer noch günstig aus (also mit Strahlendosen kleiner als der geltende Grenzwert), so gilt der Sicherheitsnachweis als erbracht.
Nur: Wissen wir denn, was „konservativ“ ist? Die Antwort lautet: Wir wissen es nur dann, wenn dies mit einer darauf ausgelegten Sensibilitätsanalyse nachgewiesen wurde, wenn man also gezeigt hat, in welcher Richtung das Pendel bei einer Variation der Grundannahmen ausschlägt. Wiederum eine riesige Arbeit.
Eingrenzung der Szenarien?
Könnte man in dieser Situation die Anzahl der Szenarien einschränken um die Sicherheitsanalyse in den Bereich des Machbaren zu bringen?
In der Praxis tut dies unsere Entsorgerorganisation bereits in erheblichem Mass, etwa wenn sie die Frage der Bodenschätze und der Geothermie im Untergrund des Standorts Bözberg (v.a. im Permokarbon-Trog) aus ihren Sicherheitsüberlegungen ausklammert. Wissenschaftlich ist dies allerdings nicht vertretbar, ja geradezu fahrlässig, denn man kann nicht Faktoren ausschliessen, welche unter Umständen für sich alleine bereits genügen, um einen Lagerstandort „zu kippen“.
Die Formulierung von prioritär zu untersuchenden Szenarien ist eine äusserst heikle Angelegenheit. Generell herrscht heute in der Gesellschaft vermutlich praktisch Einigkeit darüber, dass das Szenarium eines Meteoriteneinschlags nicht in die Sicherheitsanalyse einzubeziehen ist. Geht man darüber hinaus, indem man beispielsweise das Szenarium einer späteren Ausbeutung gewisser Rohstoffe ausklammern will, so schmilzt der Konsens rasch auf Null. Nur eine breite, offen geführte Debatte, könnte eventuell weiter führen, unter der Bedingung, dass die Fakten zu den Szenarien auf dem Tisch liegen.
Welche zusätzlichen Daten in Etappe 3 des Sachplans
Die Nagra (2014b, 2016) stellt in zwei Berichten dar, auf welche Weise sie in Etappe 2 des Sachplans ihre Kenntnisse zu den in Etappe 2 ausgewählten Standorten ergänzen will, um so den Sicherheitsnachweis für geologische Tiefenlager zu erbringen. Wir werden diese Berichte in einem weiteren Blog-Beitrag kritisch analysieren.
Referenzen
BFE 2008: Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil. Bundesamt für Energie, Bern.
ENSI 2009: Richtlinie für die schweizerischen Kernanlagen G03d: Spezifische Auslegungsgrundsätze für geologische Tiefenlager und Anforderungen an den Sicherheitsnachweis.
KEG 2003: Kernenergiegesetz vom 21. März 2003 (Stand am 1. Januar 2009).
KEV 2004: Kernenergieverordnung, vom 10. Dezember 2004 (Stand am 1. Mai 2012).
Nagra 2014a: Technischer Bericht NTB 14-01: SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die Oberflächenanlage. Sicherheitstechnischer Bericht zu SGT Etappe 2. Sicherheitstechnischer Vergleich und Vorschlag der in Etappe 3 weiter zu untersuchenden geologischen Standortgebiete.
Nagra 2014b: Arbeitsbericht NAB 14-083, Konzepte der Standortuntersuchungen für SGT Etappe 3.
Nagra 1914c: Technical Report NTB 14-09, Provisional Safety Analyses for SGT Stage 2: Models, Codes and General Modelling Approach.
Nagra 2016: Arbeitsbericht NAB 16-028, Konzepte der Standortuntersuchungen für SGT Etappe 3, Nördlich Lägern.
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