Titelbild: Prospekt zum Bau des Versuchsreaktors von Lucens, in dem es im Januar 1969 zum Atomunfall kam (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, ARK-NGA-Vr:6.2)
Kleine und mittlere modulare Kernreaktoren, Teil 1
Old wine in a new bottle? (Alter Wein in einer neuen Flasche?), die IAEA am Werk
Worum es geht
Bereits in seinem Vorwort macht es der World Nuclear Industry Status Report 2017 [1] klar: „. . . the debate is over. Nuclear power has been eclipsed by the sun and the wind.“ Heisst: „Die Debatte ist vorbei. Kernenergie wurde durch Sonne und Wind verdrängt“. Darauf berichtet der Report über neue Reaktoren in China und Pakistan, stillgelegte Reaktoren in Russland, den USA und Schweden, gestoppte Projekte in Korea und Brasilien, Verspätungen bei zahlreichen Bauprojekten, dem Bankrott von Westinghouse, finanzielle Problemen bei AREVA sowie Fertigungsmängel in deren Schmiede in Creusot und vieles andere mehr. Weltweit liefen im Jahr 2016 noch 403 kommerzielle Reaktoren, gegenüber 438 im Jahr 2002. Und der Abwärtstrend geht weiter. Die elektrische Produktion lag um 6% unter der maximalen Leistung im Jahr 2006. Die Reaktoren werden jedes Jahr älter, im Mittel um fast ein Jahr. Das „fast“ liegt an den Neukonstruktionen in China. Mitte 2017 stand das mittlere Lebensalter weltweit bei 29.3 Jahren. Vielenorts wird über eine Verlängerung der Bewilligungsdauer auf 60 Jahre gesprochen. Bis 2030 müssten bei Einhaltung der ursprünglich vorgesehenen Betriebsdauer weitere 163 Reaktoren geschlossen werden, was einem Produktionsausfall von 144.5 GW (Gigawatt) Elektrizität entsprechen würde.
Wie soll es weiter gehen? Und: Hat die IAEA (Internationale Atomenergie Agentur) in Anbetracht der Abwärtsentwicklung des Kernkraftwerkparks als Patin der Atomindustrie demnächst ausgedient?
Einig sind sich die allermeisten Kenner der Materie darüber, dass Elektrizität immer mehr dezentral und in kleineren Anlagen als den bisherigen Grosskraftwerken produziert werden wird. Auch darüber, dass Sonne, Wind, allenfalls Geothermie, die Nutzung von Biomasse und weitere erneuerbare Energiequellen obenauf schwingen werden. Aber zentrale Netzregelwerke und zentrale Energiespeicher werden weiter gefragt sein. Gibt es da etwa eine neue ökologische Nische für Kernkraftwerke und die IAEA?
Eine kurze Suche auf Internet zeigt raschen Erfolg: Die IAEA ist emsig am Werk. Und zwar mit einer alten Idee, aus der Gründerzeit der militärischen und zivilen Nutzung der Kernenergie. Sie heisst: Kleinreaktoren, oder heute „Kleine und Mittlere Modulare Reaktoren“ (SMR’s).
Zur Illustration dieser Entwicklung publizieren wir hier zuerst zwei Internetseiten der IAEA in deutscher Übersetzung. Sie illustrieren die Aktivitäten und den Aktivismus dieser internationalen Organisation.
Sodann folgt ein Artikel, welchen M.V. Ramana, Forscher am Nuclear Futures Laboratory der Princeton University im Jahr 2015 publizierte [2]. Dabei handelt es sich um eine Analyse der Geschichte der Kleinreaktoren, v.a. in den USA. Und siehe da: Etliche der Argumente der IAEA für den Bau von Kleinreaktoren wurden bereits in den 1940-1960er Jahren vorgebracht. Sie kamen damals nicht auf gegen wirtschaftliche Realitäten. Auch Mängel in der nuklearen Sicherheit waren verantwortlich für Misserfolge und frühzeitige Stilllegungen. Kein gutes Signal für die neuen Bemühungen der IAEA und ihrer Partner!
(Übersetzungen, Textauswahl und Heraushebungen durch die Blogautoren)
Die IAEA am Werk
https://www.iaea.org/topics/small-modular-reactors
Kleine modulare Reaktoren
„Kleine und mittelgroße oder modulare Reaktoren sind eine Option, um den Bedarf an flexibler Energieerzeugung für eine breitere Palette von Benutzern und Anwendungen zu erfüllen. Kleine modulare Reaktoren, die entweder als Einzel- oder als Multi-Modul-Anlage eingesetzt werden können, bieten die Möglichkeit, Kernkraft mit alternativen Energiequellen, einschließlich erneuerbarer Energien, zu kombinieren.
Das weltweite Interesse an kleinen und mittelgroßen oder modularen Reaktoren hat zugenommen, da sie den Bedarf an flexibler Stromerzeugung für eine breitere Palette von Anwendern und Anwendungen decken und alternde fossil befeuerte Kraftwerke ersetzen. Sie zeigen auch eine erhöhte Sicherheitsleistung durch inhärente und passive Sicherheitsmerkmale, bieten eine bessere Anfangskostenkalkulation und sind für Wärme-Kraftkoppelung und nicht-elektrische Anwendungen geeignet. Darüber hinaus bieten sie Optionen für abgelegene Regionen mit weniger entwickelten Infrastrukturen und die Möglichkeit für synergetische hybride Energiesysteme, die nukleare und alternative Energiequellen, einschließlich erneuerbarer Energien, kombinieren.
Viele Mitgliedstaaten konzentrieren sich auf die Entwicklung kleiner modularer Reaktoren, die als fortgeschrittene Reaktoren definiert sind, die Strom von bis zu 300 MW (e) pro Modul erzeugen. Diese Reaktoren verfügen über fortschrittliche technische Merkmale, können entweder als Einzel- oder als Multi-Modul-Anlage eingesetzt werden und sind so konzipiert, dass sie in Fabriken gebaut und zur Installation bei Bedarf fertig an Versorgungsunternehmen geliefert werden können.
Es gibt weltweit etwa 50 SMR-Designs und -Konzepte. Die meisten von ihnen befinden sich in verschiedenen Entwicklungsstadien, und einige werden als kurzfristig einsetzbar beschrieben. Derzeit befinden sich vier SMR in fortgeschrittenen Bauphasen in Argentinien, China und Russland, und mehrere bestehende und neu hinzugekommene Kernenergie-Länder führen SMR-Forschung und -Entwicklung durch.
Die IAEA koordiniert die Bemühungen ihrer Mitgliedstaaten zur Entwicklung von SMR unterschiedlicher Art, indem sie einen systematischen Ansatz zur Identifizierung und Entwicklung von Schlüsseltechnologien verfolgt, mit dem Ziel, Wettbewerbsfähigkeit und zuverlässige Leistung solcher Reaktoren zu erreichen. Die Agentur hilft ihnen auch bei der Bewältigung gemeinsamer Infrastrukturprobleme, die die Einführung der SMR erleichtern könnten.“
Die IAEA erweitert ihre internationale Zusammenarbeit für kleine, mittlere oder modulare Kernreaktoren
„Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) unternimmt Anstrengungen, um die internationale Zusammenarbeit und Koordinierung bei Entwurf, Entwicklung und Einsatz von kleinen, mittleren oder modularen Reaktoren (SMRs) zu erweitern, die zu den vielversprechendsten neuen Technologien in der Kernenergie zählen.
Signifikante Fortschritte wurden bei SMRs erzielt, von denen einige vorgefertigte Systeme und Komponenten verwenden, um die Bauzeit zu verkürzen und eine größere Flexibilität und Erschwinglichkeit als herkömmliche Kernkraftwerke bieten. Mit rund 50 SMR-Konzepten in verschiedenen Entwicklungsstadien der Welt, bildet die IAEA eine technische Arbeitsgruppe (TWG), die ihre SMR-Aktivitäten steuert und den Mitgliedstaaten ein Forum zum Austausch von Informationen und Wissen bietet, so der stellvertretende Generaldirektor der IAEA, Mikhail Chudakov.
„Innovation ist entscheidend, damit die Kernenergie eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung des Energiesektors spielen kann“, sagte Chudakov, Leiter des IAEA-Departements für Kernenergie, auf einer Konferenz über SMR in Prag am 15. Februar. „Viele Mitgliedstaaten, die Kernkraft betreiben, erweitern, einführen oder erwägen, sind sehr an Entwicklung und Einsatz von SMR interessiert.“
Das weltweite Interesse an SMRs wächst. SMRs haben das Potenzial, die Bedürfnisse einer breiten Palette von Nutzern zu erfüllen und CO2-Ersatz für alternde fossil befeuerte Kraftwerke zu sein. Sie weisen außerdem verbesserte Sicherheitsmerkmale auf und eignen sich für nichtelektrische Anwendungen wie Kühlung, Heizung und Wasserentsalzung. Darüber hinaus bieten SMR Optionen für abgelegene Regionen mit weniger entwickelter Infrastruktur und für Energiesysteme, die nukleare und alternative Quellen, einschließlich erneuerbarer Energiequellen, kombinieren.
Die ersten drei fortgeschrittenen SMRs werden voraussichtlich zwischen 2018 und 2020 in Argentinien, China und der Russischen Föderation den kommerziellen Betrieb aufnehmen. Die SMR-Entwicklung ist auch in etwa einem Dutzend anderer Länder weit fortgeschritten.
Die TWG, bestehend aus etwa 20 IAEA-Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen; sie wird vom 23. bis 26. April erstmals am IAEA-Hauptquartier in Wien zusammentreten.
Es ist Teil einer wachsenden Palette von Dienstleistungen, die die IAEA den Mitgliedstaaten für diese aufkommende Kernenergietechnologie anbietet. Dazu gehört ein SMR-Computer-Simulationsprogramm, das die Ausbildung und Schulung von Nuklearfachleuten unterstützt, eine Methodik und das dazugehörige IT-Tool für Schulungen zur Bewertung der Reaktortechnologie verschiedener SMRs; und das SMR-Regulierungsforum.
Das Forum, das 2015 eingerichtet wurde, ermöglicht Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten und anderen Interessengruppen, die Kenntnisse und Erfahrungen im Bereich der SMR-Regulierung zu teilen. Sie trägt zur Verbesserung der Sicherheit bei, indem sie Probleme identifiziert und löst, die die Überprüfung der Grundanforderungen an die Einhaltung der Vorschriften in Frage stellen könnten, und indem sie robuste und gründliche Regulierungsentscheidungen erleichtert.
In Reaktion auf Anfragen von Mitgliedstaaten in Europa hat die IAEA kürzlich ein Projekt zum Aufbau regionaler Kapazitäten für sachkundige Entscheidungen über Grundanforderungen an die Betriebsführung eingeleitet, einschließlich technischer Bewertungen für SMR, die kurzfristig für den Einsatz im Handel erhältlich sein werden. Das zweijährige Projekt soll dazu beitragen, die wachsende europäische Nachfrage nach flexiblen Stromquellen zu decken, die keine Treibhausgase freisetzen. Das erste Treffen findet vom 13. bis 15. März bei der IAEA in Wien statt.
Die rasche Einführung von SMRs stellt grosse Grundanforderungen, namentlich der Verfügbarkeit eines Regelwerkes, einschließlich der Notwendigkeit für einen robusten ordnungspolitischen Rahmen, neue Kodizes und Normen, eine belastbare Lieferkette und menschlicher. Und obwohl SMRs weniger Vorabkapital pro Einheit erfordern, werden ihre Stromerzeugungskosten wahrscheinlich höher sein als die von großen Reaktoren. Ihre Wettbewerbsfähigkeit muss gegen Alternativen abgewogen und durch Skaleneffekte erreicht werden. Detaillierte technische Informationen über SMRs, die sich in Konstruktion oder Design befinden, finden Sie im Advanced Reactor Information System der IAEA.
„Realistisch gesehen könnten wir erwarten, dass die erste kommerzielle SMR-Flotte zwischen 2025 und 2030 starten wird“, sagte Hadid Subki, wissenschaftlicher Sekretär der TWG und Teamleiter SMR Technology Development bei der IAEA. „Wir vertrauen darauf, dass diese neue technische Arbeitsgruppe dazu beitragen wird, die SMR-Technologie voranzubringen und die Agentur bei ihren Programmen und Projekten in diesem Bereich zu unterstützen.“
Kommentar verfassen