In Frankreich werden heute 58 kommerzielle Kernreaktoren betrieben (Abbildung 1); das Land liegt in der Nutzung der Kernenergie weltweit hinter den USA auf Platz 2. Das Land produziert aber auch Kernbrennstoff (AREVA, Minen namentlich in der afrikanischen Republik Niger, Kasachstan), betreibt Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente in La Hague und verfügt über ein militärisches Atomprogramm. Es ist damit im ganzen Uranzyklus tätig.
Es wird geschätzt, dass in Frankreich bis zum Jahr 2030 insgesamt ungefähr 2’500’000 m³ radioaktive Abfälle und bis zum Ende der Nutzung und dem Rückbau der heute betriebenen Reaktoren („terminaison“) 4’300’000 m³ anfallen werden.[1] Das wären 25 bis 45 Mal mehr als in der Schweiz. Heute werden die Abfälle – wie auch anderweitig in Europa und weltweit – in zahlreichen Zwischenlagern gehütet.
Die Abfallbehandlung und Endlagerung wird durch den „Nationalen Plan zur Behandlung der radioaktiven Substanzen und Abfälle“ («Plan national de gestion des matières et des déchets nucléaires») geregelt, der alle drei Jahre reaktualisiert wird. In Frankreich ist die Klassierung der verschiedenen radioaktiven Abfälle anders als in der Schweiz. Im Hinblick auf die Entsorgung werden folgende Kategorien unterschieden[2]:
- Hoch radioaktive Abfälle (HA)
- Mittel radioaktive Abfälle mit langen Halbwertszeiten (MA-VL)
- Schwach radioaktive Abfälle mit langen Halbwertszeiten (FA-VF)
- Schwach und mittel radioaktive Abfälle mit kurzen Halbwertszeiten (FMA-VC)
- Sehr schwach radioaktive Abfälle (TFA)
Abgebrannte Brennelemente werden wiederaufbereitet und erst die „Endabfälle“ sind zur Entsorgung vorgesehen. Die Plutoniumwirtschaft ist offen. Die Dauer der Nutzung der Kernenergie ist es ebenfalls, auch wenn es wie anderweitig Anzeichen gibt, dass auch Frankreich die Rolle der Kernenergie überdenkt (REF).
Schwach und mittel radioaktive Abfälle FMA-VC)
Abfälle vom Typ FMA-VC werden in Oberflächendeponien eingelagert:
- Das „Centre de stockage de la Manche“ empfing zwischen 1969 und 1994 527 225 m³ Abfälle[3]. In dieser Zeit ereigneten sich verschiedene Vorfälle mit Kontaminationen und Abfälle mussten neu konditioniert werden. Im Jahr 2003 ging die Anlage in die für eine Dauer von 300 Jahren vorgesehene Überwachungsphase über.
- Das „Centre de stockage de l’Aube“ empfängt seit 1992 Abfälle. Die für eine Dauer von 40 Jahren vorgesehene Lagerkapazität beträgt eine Million Kubikmeter.
Abfälle dieser Kategorie finden sich ausserdem an verschiedenen andern Standorten.
Sehr schwach radioaktive Abfälle (TFA)
Diese Abfälle stammen in erster Linie aus dem Rückbau der Kernanlagen. Sie werden in Oberflächendeponien, v.a. in Tonschichten eingelagert. Diese Deponien sind nicht dem Atomrecht, sondern dem Umweltrecht unterstellt. Es handelt sich im Grunde genommen um eine Art „Hüte“-Projekt von kurzlebigen und wenig strahlenden Abfällen.
Schwach radioaktive Abfälle mit langen Halbwertszeiten (FA-VF)
In dieser Kategorie findet man etwa gebrauchte radioaktive Quellen, Radon emittierende Substanzen, etc. Die langen Halbwertszeiten verlangen einen langfristigen Einschluss. Heute wird prioritär eine Untertagelagerung unter einer einige Meter mächtigen Tonschicht studiert. Unterdessen werden diese Abfälle etwa in stillgelegten Kernkraftwerken zwischengelagert. [4]
Hoch radioaktive Abfälle (HA) und Mittel radioaktive Abfälle mit langen Halbwertszeiten (MA-VL)
Die Endlagerung dieser Abfallkategorien wird durch ANDRA („Agence nationale pour la gestion des déchets radioactifs“) im Rahmen des Projektes Cigéo („Centre industriel de stockage géologique“) im „Laboratoire de recherche souterrain de Meuse/Haute-Marne“ bei der Ortschaft Bure abgeklärt.[5] Dabei handelt es sich um ein geologisches Tiefenlager. Als Muttergestein sind Tone aus der Oberen Jurazeit (Callovo-Oxfordien, ca. 160 – 150 Millionen Jahre), in einer Tiefe von 400 bis 550 m vorgesehen. Diese Tonformation weist eine Mächtigkeit von etwa 120 m auf; sie ist tektonisch praktisch ungestört und weist einzig ein schwaches Gefälle gegen Nordwesten in Richtung des Zentrums des Pariser Beckens auf. Das Lager soll etwa 30’000 m3 Abfallgebinde fassen, im wesentlichen Kokillen mit verglasten hochaktiven Abfällen (REF). Diese sollen in technisch verstärkte Tunnels mit einem Typ Fischgratmuster eingebracht werden um langfristig die Möglichkeit der Rückholung zu garantieren.
Abbildung 2: Geologischer Schnitt durch die Standortregion von Bure; die Lagerformation entspricht dem „Callovo-Oxfordien“. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Andra_bure_-_coupe_g%C3%A9ologique.svg#filelinks
Die (komplexe und langwierige) Konsultations- und Bewilligungsphase für ein Endlager in Bure läuft noch immer; ANDRA möchte im Jahr 2020 mit dem Bau der Anlage und um 2025 mit einer Pilotphase der Einlagerungen beginnen.[6] Sie sieht vor, 5% des Inventars in einem Pilotlager zu platzieren und während 50 Jahren zu überwachen. Erst wenn dieser Testlauf erfolgreich absolviert wurde, ist die Lagerung der 95% der Abfälle, die in Zwischenlagern auf ihre Endlagerung warten, vorgesehen.[7] Auch in Frankreich, das in Sachen Umsetzung eines HAA-Endlagers grossen Vorsprung hat, ist nur mit einer Umsetzung dieses Projektes innerhalb der nächsten drei bis vier Generationen zu rechnen.
Die Schere der geschätzten Kosten ist noch weit offen und reicht heute bis etwa 35 Milliarden Euro (Tendenz steigend).[8] Diese müssen an und für sich durch die Abfallproduzenten und notfalls durch das Staatsbudget getragen werden.
Dem Projekt erwächst unterdessen starker Widerstand, namentlich seitdem bekannt wurde, dass an diesem Standort ein grosses Potential zur Nutzung der Geothermie besteht.[9] Andere Konflikte, wie z.B. neotektonische Aktivität oder Gletschererosion stehen nicht im Vordergrund.
Diskussion
Für schwach und mittel radioaktive Abfälle entsprechen die gesetzlichen Vorschriften in Frankreich nicht den Anforderungen in der Schweiz. Die Oberflächenanlagen und untiefen geologischen Lager wären also hierzulande nicht zugelassen. Allerdings ist auch in der Schweiz die Diskussion um mögliche Abklinglager für kurzlebige schwachaktive Abfälle mit „Hüte“-Pflicht in Gang.
Das Projekt Cigéo kommt den Anforderungen an ein Lager für hoch radioaktive Abfälle und Brennelemente (HAA/BE) im Sinne der schweizerischen Gesetzgebung nahe. Das Lager hat u.a. Dank dem tonigen Wirtgestein auch bedeutende Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen des Schweizerischen Entsorgungsprogramms für ein Lager im Opalinuston. Die Situation in Bure hat auch bzgl. Ressourcenkonflikten eine gewisse Ähnlichkeit: Das Vorhandensein eines grossen geothermischen Potentials könnte das Projekt zum Scheitern bringen. Diese Ausgangslage erinnert an die Situation im unteren Aaretal und dem benachbarten Rheintal (z.B. Standort Bözberg). Allerdings bestünden im Pariser Becken, unter Beibehaltung des gleichen Konzepts und Wirtgesteins wie in Bure, vermutlich mehrere Ausweichmöglichkeiten. Dabei ist zu beachten, dass auch hier, ähnlich wie in der Nordschweiz, der Möglichkeit von Bodenschätzen auf geologischen Horizonten unterhalb des Endlagers vermehrte Beachtung geschenkt werden müsste.
Opposition erwächst dem Projekt auch aus Kreisen, welche nicht an die Möglichkeit der langfristigen Reversibilität glauben. Diese Opposition versteht sich umso mehr, als beim Chemie Abfalllager StocaMine (unser Blog vom 24. April 2015) die Möglichkeit der Reversibilität in der Betriebsbewilligung festgelegt, dann aber nach dem Brandunfall in der Grube von 2002 nicht mehr ernsthaft erwogen wurde. Nach heutigem Stand der Planungen ist ein Verschluss der Grube Stocamine vorgesehen. Damit brechen die Verantwortlichen der Untertagedeponie ihr Versprechen, im Falle von Problemen ihre Abfälle zurückzuholen. Es ist abzusehen, dass diese Kehrtwendung Konsequenzen auf die Realisierbarkeit des Endlagers in Bure (und eventuell auch anderswo) haben kann, umso mehr als die Reversibilitätsdemonstration des Lagers in Bure nur mit Betonblöcken in einer oberirdischen Halle geführt wird.[10]
Andra ist seit Jahren Partner im Mont Terri Projekt bei St Ursanne, wo Untersuchungen im Opalinuston durchgeführt werden. Die Zusammenarbeit und der wissenschaftliche Austausch zwischen dem Projekt Opalinus und dem Projekt Cigéo sind intensiv und fruchtbar.
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