Die Enzyklika „Laudato si“ des Papst Franziskus zu einem gemeinsamen Haus für die Lebewesen auf Erden ist ein bedeutsamer Text. Unabhängig davon, ob die Leser die Meinungen der Enzyklika und ihrer Autoren und deren moralische Dimension teilen, ist eins sicher: Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sind aufgerufen, sich den Folgen ihres Handels zu stellen. Denn die fundamentale Frage steht im Raum, wie mit dem Erbe einer aufklärerischen Entwicklung umgegangen werden soll.
Moderne Wissenschaft und Technik sind das Produkt einer geistigen Entwicklung, die – zumindest im letzten Jahrtausend – Einflüsse des Islams, der mönchischen Klosterordnung und der Entdeckung der neuen Welt ab dem 15ten Jahrhundert in sich vereinen. Der Keim zur wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung war also lange vor dem 17ten Jahrhundert gelegt, bevor die Aufklärung ihnen zum Durchbruch verhalf.
Die Aufklärung brach der geistig-moralischen Vorherrschaft der Kirchen und des Adels in Europa das Genick. Sie war eine tiefgreifende Revolution der Erkenntnis und erhob mit ihren Methoden Anspruch auf absolute wissenschaftliche Objektivität und Deutung. Sie stellte damit den Gegenpol zur Autorität religiöser Weltanschauung und gottgewollter Ordnung dar, die sich mit dem Untergang des römischen Reichs etabliert hatte. Aber konnte das aufgeklärte Gesellschaftsmodell diesen Anspruch auf die Befreiung des Menschen vor Unwissen und Knechtschaft im Laufe ihrer Geschichte auch tatsächlich einlösen?
Wer heute den Zustand der Erde vorurteilslos betrachtet, sieht – neben den unbestrittenen Vorzügen und Erfolgen des bisherigen Weges – auch die Schattenseiten, welche mit Wissenschaft und Technik einhergehen, zwei besonders wirksame Instrumente, derer sich neue Wirtschafts- und Finanzeliten bedienen, um Macht und Herrschaft auszuüben und zu sichern. Die bittere Armut auf der Welt ist nicht verschwunden, der Zugang zu Bildung und Wissen bleibt Milliarden von Menschen verwehrt, Grundressourcen wie Wasser und Boden werden privatisiert, derweil eine historisch etablierte Minderheit auf Erden davon rücksichtslos profitiert. Wissenschaft und Technik dienen nicht mehr primär dem Erkenntnisgewinn und dem Fortschritt der Menschheit, wie dies noch von den Aufklärern vertreten wurde, sondern wurden immer mehr zu Machtinstrumenten von Partikulärinteressen degradiert. Deshalb verwundert es auch nicht, dass letztere ihre Herrschaftsansprüche ohne Rücksicht auf Auswirkungen und Folgen durchsetzen – Umweltprobleme als klassisches Problem von Herrschaft.
Dass es jedenfalls nicht besonders anständig ist, das Haus der Zukunft zu verschandeln und zu „verk…..“, und Auswirkungen schädlichen Handelns damit Generationen und Generationen aufzubürden, wird kaum jemand bestreiten. Dabei sind die Ursachen im Grunde genommen die gleichen, ob es sich um Klimagase, Wasserverschmutzung oder Bodenverseuchung handelt: überall geht es um Prozesse, die Abfall erzeugen, der kostenlos an die Umwelt – und vor allem an die Zukunft – verteilt wird. Anders gesagt: das Gros der Rechnung wird eigentlich in die Zukunft exportiert, betrifft also unsere Kinder, Kindes- und Kindeskindeskinder, wie dies Karl William Kapp schon früh in seinen Schriften zur Sozialisierung von Produktionskosten erkannte.
Die Atomtechnologie und ihre Rückstände sind besonders hässliche Beispiele für den Export von Folgen an die Zukunft. Man bedenke: eine Technologie, die heute gerade zwei Generationen alt ist, sucht nach Lösungen für ihre über Jahrtausende und Jahrtausende gefährlichen Abfallprodukte. In Generationen ausgedrückt könnte man von Ketten von Zehntausenden von Generationen sprechen, welche davon betroffen sein könnten, wie dies die Ausstellung „Langzeit und Endlager“ 2013-2014 im Museum Allerheiligen in Schaffhausen eindrücklich aufzeigte. Wenn das Wohlergehen der Gegenwart auf dem Buckel der Zukunft beruht, stimmt an der Rechnung des „Fortschritts“ etwas grundsätzlich nicht.
Nicht lange her, also vor wenigen hundert Jahren, standen Giordano Bruno und Galileo Galilei ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wegen noch vor der Gerichtsbarkeit verkrusteter religiöser Institutionen. Mit der neuen Enzyklika müssen sich die Sieger von gestern, die aufklärerische Wissenschaft und Technik und die dahinter stehenden Macht- und Politikeliten, am Pranger von Ethik und Moral verantworten. Vor derjenigen Institution, die sich gegen den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis stellte. Und Ironie der Geschichte: durchaus zu Recht. Denn die neue Wissenschaft und Technik der Nachkriegsgenerationen haben unsere Mutter Erde innerhalb von zwei Generationen tatsächlich grausam zugerichtet.
Die entstandenen Probleme unserer heutigen Zeit zu lösen verlangt aber nicht nach einer Rückkehr in die finsteren Zeiten des augustinischen Gottesstaates. Das Zurück zur Natur – stellvertretend von Jean-Jacques Rousseau oder Ralph Waldo Emerson vertreten – ist ein Gang in die Irre. Die Entwicklung wird anders verlaufen, als wir alle es denken, denn die Geschichte ist – mit Karl Popper und entgegen den Illusionen eines Francis Fukuyama – offen.
Die heutige Zeit sollte durchaus wieder auf die Ursprünge der Aufklärung zurück blicken und damals debattierte Visionen neu beleben. Dazu gehört, dass auch die heutigen Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt werden, die derart schamlos ein solches Chaos angezettelt haben. Wissenschaft und Technik sollten den angestammten Platz wieder einnehmen können, den sie in der Geschichte der Aufklärung einmal hatten, als Instrumente für Erkenntnis und wirklichem Fortschritt für alle. In diesem Sinne darf die Enzyklika des Papsts auch durchaus als berechtigte Schelte gegenüber den heutigen Herrschaftsstrukturen der Finanz- und Industriewelt verstanden werden, sich auch endlich um die negativen Hinterlassenschaften ihres Tuns zu kümmern. Bezüglich unserer Problematik mit Atomtechnologie und atomaren Abfällen bedeutet dies, das sich unsere Gesellschaft ernsthaft und ohne Aufschub an Ausstieg aus der heutigen Atom-Technologie macht und sich der gefährlichen Hinterlassenschaft annimmt. Wohlgemerkt: in einem möglichst gezielten, offenen und selbstkritischen Prozess. Dass hier auch grundsätzliche strukturelle Änderungen erforderlich sind, versteht sich von selbst.
Weiterführende Literatur
Originalquellen (ohne Jahresangabe)
Anne-Robert Jacques Turgot, Tableau philosophique des progrès successifs de l‘esprit humain
Marquis de Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain
Auguste Compte, Discours sur l’ensemble du positivisme
Augustinus, Der Gottesstaat
Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les Sciences et les Arts
Ralph Waldo Emerson, Nature
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte
Analysen
Rohbeck, Johannes (1987): Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Campus
Thoma, Heinz (2013): Das Fortschrittsversprechen der Aufklärung und die Kulturkritik von Rousseau, Denkströme, Heft 10, https://denkstroeme.de/heft-10/s_26-45_thoma
Mumford, Lewis (1977): Mythos der Maschine, Kultur, Technik und Macht, Fischer Taschenbuch Verlag (empfehlenswert)
Kommentar verfassen