Vorspann
Steht man auf dem Aussichtspunkt des Wirtshaus Guggere, hoch über dem Dorf Benken und schaut Richtung West-Südwest, so überblickt man das Weinland und das Thurtal bis zum breiten Bergrücken des Irchel (Figur 1). Und weiss: In diesem Landquerschnitt haben die Gletscher der vergangenen Eiszeiten mehr als 600 m Gelände weg erodiert (unser Beitrag vom 3. April 2015 ). Und zwar nicht regelmässig und überall, aber mit einer tiefsten Auskolkung im Thurtal bei Dätwil, wo eine Bohrung auf einer Kote von 75 m über dem Meeresspiegel den Fels noch immer nicht erreichte (Von Moos 2009)[1]. Der höchste Punkt auf dem Irchel erreicht 694 m über dem Meeresspiegel. Ausgehend von dieser Situation muss man also annehmen, dass etwa dieselbe Erosion von 600 m Tiefe sich auch in kommenden Eiszeiten ereignen könnte. Dies würde sicher wiederum nicht regelmässig geschehen, sondern mit lokalen Übertiefungen, Rinnenbildungen und sogenannten Kolken, was aber natürlich für ein geologisches Tiefenlager für hoch radioaktive Abfälle ein Worst-Case-Szenario wäre, auch dann, wenn der Kolk nicht gleich das Lager selbst ausheben würde, sondern etwas daneben zu liegen käme.
Aus dieser Erkenntnis forderte das ENSI die Nagra auf, die Möglichkeit zu prüfen, das Lager tiefer als in 600 m unter der Oberfläche anzulegen. Die Antwort der Nagra, mit Betrachtungen zu Lagertiefen bis 900 m, ist in einem Arbeitsbericht (Nagra 2016)[2] dokumentiert.
Andere Anstrengungen der Nagra gehen dahin, mehr über Gletschererosion zu lernen, sei es um die Auswirkungen künftiger Vereisungen besser voraussagen zu können, sei es, um diesen Auswirkungen aus dem Weg zu gehen. Über eines dieser Themen möchten wir hier berichten, nämlich über die Wirkung der massigen Malmkalke welche über dem zur Lagerung der Abfälle vorgesehenen Wirtsgestein Opalinuston liegen und über die These, dass diese die Gletschererosion verhindern, oder zumindest vermindern könnten.
Malmkalk
In der modernen geologischen Nomenklatur werden die massiven Kalke in der Nordschweiz unter dem Namen „Obere Malmgruppe“ zusammengefasst[3]. Die Kalkgesteine wurden vor etwa 150 – 145 Millionen Jahren in einem Flachmeer abgelagert, welches sich vom Alpenmeer im Süden bis weit in den Norden über Europa hinweg erstreckte. In den massigen Kalken entdeckt man hier und dort kleinere Korallenriffe (Figur 2). Oft ist das Gestein aber auch stark rekristallisiert und Fossilien deshalb von Auge nur schwer sichtbar.
Die Mächtigkeit der massiven Kalke wechselt der Jurakette entlang von West bis Ost. Bei Regensberg verschwinden sie unter den Molasseschichten und den glazialen Ablagerungen. In der Bohrung Benken der Nagra betrug ihre Mächtigkeit etwas mehr als 100 m (Figur 3).
Malmkalk als Schutz vor Gletschererosion, …
Jedermann der die Schweiz durchreist, sieht irgendwo die massiven Malmkalke. Besonders auffällig sind die aufgerichteten Schichten in den Juraklusen. Dann aber auch als stolze Standorte der Aarburg (Figur 4) oder von Schloss Stein in Baden. Auch Aarau, die Hauptstadt des Kantons Aargau ist auf Malmkalk gebaut. Daher wohl die Idee, die massive Gesteinsformation widerstehe der Gletschererosion.
Die Malmkalke treten im Norden des Zürcher Weinlandes, nämlich in Neuhausen an die Oberfläche. Hier stürzt der Fluss über die Felsstufe des Rheinfalls in die Tiefe (Abbildung 5).
Von diesem Oberflächenaufschluss tauchen die Kalke gegen Süden in Richtung der Alpenfront ab (Figur 6) und überdecken im Gebiet des Zürcher Weinlandes den etwas tiefer gelegenen Opalinuston.
… aber vielleicht nicht immer?
Aber bietet diese Gesteinsformation wirklich Schutz vor der Erosion durch die Gletscher? Die Idee lohnt es, geprüft zu werden. Dabei fallen allerdings bald folgende Fakten auf:
- Das massive Kalkgestein bildet überall dort einen Riegel, wo die Schicht steil steht. Dies etwa im erwähnten Aarburg, aber ebenso, etwas näher am Zürcher Weinland, beim Durchbruch der Reuss durch die Fortsetzung der Lägernfalte bei Birmenstorf, oder beim Aaredurchbruch durch die Struktur von Siggenthal.
- Sobald die Kalksteinformation aber flach liegt, leistet sie kaum mehr Widerstand gegen die Erosionskraft der Gletscher, als andere Gesteine. Als Beispiele können dieselben Strukturen genannt werden. Insbesondere die Strukturen der Säliantiklinale (grosse Falte) nördlich Aarburg und die Struktur von Siggenthal. Der praktisch horizontale Felsriegel der Stadt Aarau widerstand in der vorletzten Vergletscherung der Erosion. Aber der Aaregletscher durchbrach den Riegel gleich nördlich, zwischen der Stadt und dem Faltenjura.
Die Diskussion kann auch ausgeweitet werden, über die Malmkalke und die Nordschweiz hinaus. Eine interessante Situation bietet die Stadt St Maurice (Wallis). Diese liegt über einem durch den Rhônegletscher tief in die kalkigen Gesteine eingetieften Gletscherbecken. Diese Gesteine liegen horizontal. Sodann bilden die Gesteine eine steile Falte und der Taldurchbruch verengt sich auf das heutige Flusstal. Ein Fall also, welcher die Beobachtungen in der Nordostschweiz bestätigt.
Ist die Diskussion also bereits geschlossen? Gewiss nicht, denn zu der Thematik gab es bis anhin kaum seriöse, vertiefte Forschung. Somit ist eine Ausweitung der Forschung unbedingt zu bejahen. Allerdings ist dabei zu gewährleisten, dass eine solche offen ist, auch bezüglich Endresultaten offen durchgeführt werden muss. Denn auch die Frage der Flusserosion, der tektonischen Vorprägung der Gesteine (Schwächung durch Brüche und alpine Deformation) und anderes mehr müssten in die Studie miteinbezogen werden. Wie auch die Frage der durch Schmelzwasser unter den Gletschern gebildeten Auskolkungen, die weiterhin nicht oder nicht vollständig geklärt ist. Und schliesslich auch jene der Kalksteinbarre mit vermehrter Grundwasserzirkulation und damit mit vermehrter Verkarstung. Forschung dieses Typs ist Grundlagenforschung und gehört daher in die Hand unabhängiger Institutionen, wie es etwa die Hochschulen sind.
Warum wir auf diesem Grundsatz unabhängiger Forschung bestehen? Weil wir über die Anstrengungen der Nagra zu dieser Frage über den „Latrinenweg“ erfuhren. Offiziell dazu ist seitens der Nagra nichts angekündigt und auch nichts publiziert. Forschung aber muss offen sein, gerade in einem so unendlich wichtigen Bereich wie jenes der Entsorgung radioaktiver Abfälle. Wie viel effizienter wäre doch ein offenes Vorgehen, bei dem die vorhandenen Erfahrungen und das bestehende Wissen zusammengetragen würden; vielleicht gar ein Forschungs- und Ideenwettbewerb, an dem all jene die dazu etwas beitragen können dies auch tun könnten! Es wäre zweckmässig und der Sache dienlich, wenn die Entsorgungsorganisation nicht immer wieder versuchen würde, die Abklärung von Schlüsselfragen an sich zu reissen, wie dies ja selbst eine vom ENSI-Rat beigezogene Beratungsfirma feststellen musste.[5].
Zum Abchluss dieses Beitrags legen wir ein Bild aus Norwegen bei: Seien wir uns bewusst, dass die Gletschererosion im Alpenvorland noch lange nicht alles gezeigt hat, was sie kann. Vielleicht kommt es nochmals so weit wie die Figur 8 am Beispiel der Fjorde eindrücklich zeigt. Kilometerlange Talungen und Eintiefungen. Und nicht nur dies: Denn diese sind in harte Gneis- und Granitgesteine eingetieft!
Markus Ramsauer
Nagra: das ist wie im Rosenkavalier von Hofmannsthal:
Die Gräfin: Das alles ist geheim, soviel geheim…
(Das Ziel ist den depperten Grafen Ochs auf Lerchenau abzuservieren).