Augen zu, Ohren zu!
Im Jahr 2011 bestellte die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) bei ihrem damaligen Mitglied Marcos Buser in Zusammenhang mit ihrer Stellungnahme zum Entsorgungsprogramm ein Gutachten zu den Realisierungsplänen der Schweizer Endlagersuchverfahren.[1] Diese historisch Zusammenstellung zeigte eine Anzahl gescheiterter Zeitplanungen der Vergangenheit auf und legte im Detail die Gründe dar, weshalb der Zeitplan des Sachplanverfahrens unrealistisch sei. Zu dieser Zeit galt von offizieller Seite noch das Jahr 2018 als Abschlussdatum des Sachplans geologische Tiefenlager beziehungsweise als Zeitmarke für die Erteilung der Rahmenbewilligung, obschon schon damals jeder der es wissen wollte wusste, dass dieser Zeitplan nie einzuhalten war. Hinter den Kulissen wurde bereits ein angepasster Zeitplan mit voraussichtlichem Ende um 2022-24 herumgereicht.
Es brauchte aber weitere 3 Jahre, bis Nagra (Mediengespräch Januar 2014) und Bundesamt für Energie (BFE, Newsletter April 2014) die Katze so ganz nebenbei aus dem Sack liessen. In der Newsletter Tiefenlager Nr. 12 vom April 2014 war dazu zu lesen: „Die Dauer für die drei Etappen des Verfahrens wurde auf rund 10 Jahre geschätzt. Seither haben die Erfahrungen gezeigt, dass diese Annahme zu optimistisch war – vor allem wegen der Komplexität und dem Pioniercharakter des Verfahrens sowie der sinnvollen aber aufwändigen Mitwirkung der Kantone und Regionen. Deshalb hat das BFE den Zeitplan gemeinsam mit den weiteren Akteurinnen und Akteuren geprüft. Aus heutiger Perspektive ist davon auszugehen, dass sich das Verfahren über eine doppelt so lange Zeit erstreckt. Die Nagra wird ihre provisorische Standortwahl etwa im Jahr 2020 treffen.“ Kein Wort davon, dass die KNS dem Bundesamt und den anderen Institutionen im Verfahren seit der ersten Stunde in den Ohren lag und davor warnte, dass der im Sachplankonzept festgelegte Zeitplan nicht einzuhalten sei. Kein Wort auch davon, dass das BFE als Verfahrensführer in unzähligen Gesprächen und Dokumenten, auch von andern Bundesämtern, auf die ungenügenden und unprofessionellen Planungen aufmerksam gemacht worden war. Die Verantwortlichen im BFE und im Departement UVEK ignorierten einfach alle Warnungen.
Usanz
Was hier anhand eines Beispiels aufgeführt wird, ist die über Jahrzehnte praktizierte Usanz der zuständigen Bundesinstanzen im Bereich der Atomenergie, sich der Planungsverantwortlichkeit zu entziehen und den Interessen eines Wirtschaftszweigs unterzuordnen. Peter Pfund, damaliger Vizedirektor des Bundesamt für Energie, fasste die Haltung des Bundes und seine Unterstützung der Atomwirtschaft anlässlich eines Hearings im Jahr 1979 wie folgt zusammen: „Im Vordergrund steht keineswegs die Übernahme der Verantwortung[2] durch den Bund, sondern eine angemessene Unterstützung der Werke und der Nagra durch gezielte Massnahmen. Als mögliche Massnahmen sind dort einmal aufgezählt worden: Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschung, die Mithilfe bei der Suche nach geeigneten Standorten oder auch das Zurverfügungstellen von bundeseigenem Land.“[3] Genau in diesen drei Bereichen hat der Bund den Werken und ihrer Nagra in den letzten Jahrzehnten Unterstützung gegeben. Bei der Forschung im Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung und späteren Paul-Scherrer Institut (PSI), insbesondere via Entsorgungsgruppe des PSI. Bei der Standortsuche durch die formale Leitung des Sachplanverfahrens. Und bei der Abtretung von Land für den Bau des Zwischenlagers ZWILAG in Würenlingen.
Regel N° 1: BFE hat recht; Regel N° 2: falls nicht, Regel N° 1 anwenden
Für Anliegen von anderer Seite hatten der Bund und seine Behörden hingegen kein Interesse. Selbst die Bundesanwaltschaft stellte in der Verfügung zur Einstellung des Verfahrens wegen Amtsgeheimnisverletzung gegen das ehemalige KNS-Mitglied Buser fest, dass die Weitergabe der berüchtigten Aktennotiz AN11-711 der Nagra an die Medien rechtlich korrekt gewesen sei, nachdem er sich bei den verantwortlichen Behörden über Monate kein Gehör verschaffen konnte.[4] Eine Feststellung der obersten Strafverfolgungsbehörde der Schweiz die den Verantwortlichen in UVEK und BFE kein gutes Zeugnis ausstellt, was die Fähigkeit dieser Institutionen angeht zur Auseinandersetzung mit Kritik und hinterfragender Expertise. Eine Aussage die aber auch die Abwehrhaltung zusammenfasst, die sich bei diesen Behörden über Jahrzehnte in vielen konkreten Fällen nachzeichnen lässt.
Dieses Bollwerk institutioneller Abwehr schützte die Nuklearindustrie davor, Rechenschaft über ihre Tätigkeit im Entsorgungsbereich abzulegen. Weder das gescheiterte „Projekt Gewähr 1985“ hatte Folgen, noch das sture Festhalten an der Option Kristallin und die damit zusammenhängenden Verzögerungen und Verteuerung der Standortsuche; weder das einseitig auf den Standort „Wellenberg“ fokussierte Projekt und sein Scheitern wurden hinterfragt, noch die späteren Planungs- und Zeitplanruinen des Sachplans geologische Tiefenlager, die unter dem Deckmantel des BFE publiziert und dem Bundesrat zur Genehmigung unterbreitet wurden. Bei Problemen wurden die Handlungsträger einfach neu aufgemischt und die Rollen neu verteilt, an den Zielsetzungen und der verfolgten Politik änderte sich kaum etwas. Den sich anbahnenden Schwierigkeiten traten die verantwortlichen Institutionen entgegen, indem sie die Programme noch weiter in die ungewisse Zukunft auslagerten, mit horrenden Kostenfolgen für die künftigen Generationen. Nie aber musste eine der dafür verantwortlichen Institutionen Rechenschaft dafür ablegen für die vielen Irrwege und für gescheiterte Projekte mit Kosten in Milliardenhöhe. Wobei ausserdem zu bedenken ist, dass die Elektrowirtschaft in der Schweiz Eigentum der Kantone ist, insbesondere die Branche Kernenergie, in welcher die grossen Mittellandkantone Zürich, Aargau und Bern besonders stark engagiert sind.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf . . .
Dabei bestanden von allem Anfang an fundamentale Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Atomenergie. In der Rückschau räumte sogar Alvin Weinberg, der „König der technologischen Optimisten“ ein, die wirklichen Kosten sträflich unterschätzt zu haben. Auf seine Frage, warum er so stupid gewesen sei Kostenprognosen zu akzeptieren, die hoffnungslos überoptimistisch gewesen seien, schrieb er: „Ich nehme an, es war deshalb, weil wir glauben wollten. Wir hatten als kleine Gruppe die Kernenergie angestossen; es war darum nur menschlich, dass wir die Kernenergie als einen großen technischen Segen für die Menschheit sahen. Die Krisen der Überbevölkerung zu beseitigen, die Wüsten zum blühen zu bringen, die Steine verbrennen zu können – all dies schien in greifbarer Nähe.“[5]
Wer die Geschichte der Atomenergie und ihrer Kosten analysiert, stösst immer wieder auf die gleichen Mechanismen der Verdrängung der offensichtlichsten Probleme. Die Verantwortlichen weigerten sich schlichtweg, Entwicklungen in Betracht zu ziehen, die für jeden nüchternen Betrachter evident waren. Bis diese Entwicklungen dann eintrafen und zähneknirschend akzeptiert werden mussten. Der Physiker Ruggero Schleicher zitiert dazu in seinem 1984 für die Energie-Stiftung verfassten Buch „Atomenergie – die grosse Pleite“ einen Verantwortlichen der amerikanischen Atomindustrie, der diesen Wandel in der Beurteilung der Rentabilität der Atomenergie exemplarisch aufzeigt. Nach Aufgabe von 12 ihrer 17 Kernkraftprojekte gab einer der verantwortlichen Manager der Tennessee Valley Authority zu: „Die Kosten der Kernenergie sind nicht einfach hoch, sie sind unvorhersagbar. Kein Kapitalist, der bei Verstand ist, wird etwas bauen, für das er keine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen kann, weil die Kosten unbekannt sind.“[6]
Das Spiel wird abgepfiffen
Und diese unvorhersagbare Kostenentwicklung wird nun Schritt um Schritt Wirklichkeit. In allen Ländern explodieren die Kosten der Atomenergie[7], und dies zu einer Zeit, wo die Nationalstaaten unter der Last von Finanz- und Wirtschaftskrisen bereits ächzen. Das Vabanquespiel der nuklearen Hasardeure neigt sich angesichts realer Preisentwicklungen auf dem liberalisierten Strommarkt dem Ende zu. Wie die Sonntagszeitung in ihrer Ausgabe vom 21. Februar 2016 schreibt sind sich sogar die einstmals mächtigen Schweizer Stromunternehmen bewusst, dass kein AKW-Betreiber es überleben könne, wenn „die Grosshandelspreise längerfristig so tief bleiben“.[8] Und der für den Kommentar verantwortliche Journalist zieht dazu den einzig richtigen Schluss: „Selbst die Zerschlagung der Atomkonzerne darf kein Tabu sein.“[9]
2016 steht eine neue Runde bei der Planung der schweizerischen Entsorgungsprogramme und der Ermittlung der künftigen Entsorgungskosten an, welche den Finanzbedarf für die Zwischenlagerung, Behandlung und Beseitigung Abfälle massiv in die Höhe schnellen lassen dürfte – vorausgesetzt, die Manipulationen bei den Zeitplanungen und den bisherigen Kostenermittlungen würden endlich nicht mehr zugelassen.[10] Doch wie dem auch sei: die Kapitalvernichtungsmaschine Atomenergie – wie der ehemalige Anti-AKW-Aktivist und heutige Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger sie einstmals nannte – schlägt nun finanziell voll zu Buche. Man darf gespannt sein, wann die Fragen zu den Verantwortlichkeiten für diese katastrophalen Entwicklungen aufgeworfen und die dafür Zuständigen des nuklearen Dorfs, wie das filzähnliche Netz der Promotoren üblicherweise bezeichnet wird, zur Rechenschaft aufgerufen werden. Wir werden uns im nächsten Beitrag mit dieser Frage auseinandersetzen.
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