Die Grundlagen
“Das Ziel der nuklearen Sicherheit ist es, den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung zu schützen” (ENSI 2014).
In der Schweiz finden sich nukleare Anlagen welche zu Forschungszwecken betrieben werden, Zwischenlager für radioaktive Abfälle und Kernkraftwerke. Bezüglich der direkten Gefährdung der Bevölkerung sind letztere bei weitem am Wichtigsten. Diese Kraftwerke werden durch Elektrizitätsgesellschaften (Benznau 1 und 2 durch AXPO, Mühleberg durch BKW) oder durch Betriebsgesellschaften betrieben (Leibstadt und Gösgen). Die Kantone sind die grössten Aktionäre. Das Kernenergiegesetz, Art. 22/1 hält fest: „Der Bewilligungsinhaber ist für die Sicherheit der Anlage und des Betriebs verantwortlich“.
Der Bund besitzt keine nuklearen Produktionsanlagen; ihm unterliegt aber die Aufsicht über die „kantonalen“ Kernkraftwerke. Er ist damit Garant der nuklearen Sicherheit. Die Aufgabe der Aufsicht ist weitgehend dem Eidgenössischen Nuklearen Sicherheitsinspektorat (ENSI) anvertraut, sofern es sich um die Aufsicht über Anlagen handelt; die Kommission für Nukleare Sicherheit (KNS) hat eine beratende Funktion (KEG, Art. 70 – 75).
Abbildung 1: Integrierte Aufsicht; ENSI-Bericht zur integrierten Aufsichtspraxis
Nukleare Aufsicht ist eine komplexe Aufgabe. In seinem Bericht über „Integrierte Aufsicht“ Beschreibt das ENSI (2014) Kernanlagen als „MTO-Systeme“ (Mensch – Technik – Organisation): „Die Sicherheit einer Kernanlage hängt nicht allein von deren technischer Ausführung ab, sondern auch vom Verhalten der Menschen, die die Anlage betreiben. Die Mitarbeitenden einer Kernanlage sind zudem in einer Organisation eingebunden, deren Kultur die Arbeit der Mitarbeitenden und damit auch die Sicherheit der Kernanlage massgeblich beeinflusst“ (Op. cit. S. 2).
Die Aufsicht dient der Durchsetzung der Schutzziele. Dazu schreibt ENSI (op. cit. S.3): „Um Mensch und Umwelt vor von Kernanlagen und Kernmaterialien ausgehender ionisierender
Strahlung zu schützen, sind die folgenden drei Schutzziele einzuhalten:
- Kontrolle der Reaktivität
- Kühlung der Brennelemente
- Einschluss radioaktiver Stoffe
Die Einhaltung dieser drei Schutzziele dient letztlich dem folgenden übergeordneten Schutzziel:
- Begrenzung der Strahlenexposition“
Das ENSI nennt zwei Wirkungsziele für seine Aufsichtstätigkeit, nämlich:
- Die Kernanlagen sind sicher
- Die Bevölkerung fühlt sich sicher.
Um diese Ziele zu erreichen, setzt die Sicherheitsagentur einerseits auf Anlagenüberwachung und andererseits auf die Überwachung des Betriebs.
Die Anlagenüberwachung beruht auf folgenden Elementen:
Dem Regelwerk:
- Gesetze und Verordnungen
- ENSI-Richtlinien
- Andere Grundlagen, wie etwa den Betriebsvorschriften der KKW.
- Gutachten und sicherheitstechnische Stellungnahmen
Gutachten werden im Rahmen der Bewilligungsverfahren z. Hd. der Bewilligungsbehörden verfasst. Sicherheitstechnische Stellungnahmen betreffen z.B. die Position des ENSI zu periodischen Sicherheitsüberprüfungen.
Freigaben:
- Zahlreiche Handlungen der Kraftwerkbetreiber verlangen eine Freigabe durch das ENSI, bevor ein Reaktor in der neuen Konstellation wieder hochgefahren werden darf, seien dies Änderungen am Reaktorkern oder an sicherheits- oder sicherungs- relevanten Systemen. Andere Freigaben betreffen Transporte von radioaktiven Abfällen und deren Lagerung.
Zur Betriebsüberwachung schreibt das ENSI 2014 namentlich:
„Das ENSI stellt damit sicher, dass der Betrieb einer Kernanlage jederzeit die Vorgaben des Regelwerkes erfüllt und die Betreiberorganisation ihre Aufgabe kritisch, hinterfragend und primär auf Sicherheit ausgerichtet erfüllt.“ Die Betriebsüberwachung kann in verschiedene Prozesse unterteilt werden. Wichtige Prozesse sind:
- „Inspektion
- Zulassungsprozess für zulassungspflichtige Personen
- Kontrolle der periodischen Berichterstattung
- Vorkommnisbearbeitung
- Strahlenmessungen
- Fernüberwachung
- Notfallbereitschaft
- Sicherheitsbewertung
- Enforcement“
Das Sicherheitsinspektorat nimmt sodann „systematische Sicherheitsbewertungen“ vor: „Das Ziel dieser systematischen Sicherheitsbewertung ist es, die im Rahmen der Aufsichtstä-tigkeit des ENSI erhobenen Daten und Befunde aus den Kernanlagen auf eine systemati-sche, ausgewogene, transparente und nachvollziehbare Art zu bewerten. Die periodische Auswertung der kategorisierten, bewerteten Daten soll es ermöglichen, Schwachstellen bei einzelnen Teilaspekten der nuklearen Sicherheit frühzeitig zu identifizieren und zu einer integralen Sichtweise der nuklearen Sicherheit der Kernanlagen zusammenzufügen. Weiterhin ermöglicht diese integrale Sichtweise die Überprüfung, ob alle Teilaspekte der nuklearen Sicherheit durch die Aufsichtstätigkeit vollständig und ausgewogen abgedeckt werden. Sie stellt somit ein wichtiges Instrument für Aufsichtstätigkeit des Folgejahres dar, insbesondere für die Inspektionsplanung.“
Schwierige Umsetzung des Aufsichtskonzepts
Das oben kurz und vereinfacht dargestellte Konzept kann durch weiter interessierte Leser auf dem Internet-Site des ENSI konsultiert werden. Es entspricht internationalen Gepflogenheiten. Schwieriger ist die Umsetzung desselben. Dies betrifft nicht nur die technischen Aspekte, sondern gilt auch für die Aufsichts-Philosophie und die Kompetenzen, welche die Aufsicht in ihrem gesetzlichen Auftrag erhält. Wir kommen etwas weiter unten auf diese Punkte zurück. Zunächst aber zurück zur Praxis der heute ausgeübten Aufsicht.
Betrachten wir beispielsweise das Regelwerk des ENSI, so stellen wir fest, dass dieses sich teilweise schwer tut, mit der fortschreitenden Entwicklung mitzuhalten. Dies gilt etwa für die Stilllegung, wo erst eine einzige, sehr generelle Richtlinie besteht, nämlich die Richtlinie ENSI-G17 „Stilllegung von Kernanlagen“ mit Erläuterungen. Die knapp 16 Seiten umfassende Schrift bleibt in vielen Fragen auf dem Niveau der Konzepte, deren Umsetzung weitgehend dem Kraftwerkseigentümer überlassen ist. Sein Projekt wird wohl durch die Behörde geprüft, er weiss aber nicht genau zum Voraus, was diese von ihm erwartet. Dies ist heute ein wichtiger Punkt bei der Planung der Stillegung des KKW Mühleberg, und bald – womöglich sehr bald sogar und viel früher als offiziell angesagt – auch für die Werke in Beznau. Auch auf dem Gebiet der Überwachung der Planung der nuklearen Entsorgung bestehen Lücken, wie wir im Blog-Beitrag vom 23. September 2015 dargelegt haben.
Der schwierigste Punkt bei der Umsetzung der Aufsicht ist das Verhältnis zwischen der Aufsichtsbehörde und dem Betreiber bei der Überwachung der Anlage und deren Betrieb. Hierzu gibt es vereinfachend dargestellt drei Praktiken:
- Selbstaufsicht: Dabei überwacht sich der Betreiber der Anlage selbst. Die Behörde prüft die Überwachungsorganisation des Betreibers.
- Stichproben durch die Behörden: Der Betreiber überwacht sich selbst. Die Behörde prüft aber mit Stichproben (z.B. Strahlenmessungen) die Werte der Betreiber nach.
- Umfassende Überwachung durch die Behörden. Dabei nehmen die Behörden selbst Überwachungsarbeiten, z.B. Strahlungsmessungen im Kernkraftwerk vor.
Generell übernimmt die Behörde umso mehr selbst Verantwortung, als sie sich vor Ort in den Betrieb einmischt. In der Schweiz findet die Überwachung der Anlagen „im Prinzip“ etwa entsprechend der Praktik 2 statt. Nur leidet dieses Prinzip in der Praxis erheblich unter den Vorgaben der ENSI-Direktion. Direktor Hans Wanner erklärt dies auf dem Web-Site des ENSI wie folgt[1].
Zitat: << Die Frage ist, welche Arbeitshypothese wir unserer Aufsichtsfunktion zugrunde legen. Zwei Varianten stehen zur Wahl: Entweder „Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher“ oder „die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich unsicher.“ Wir gehen, wie ich schon verschiedentlich dargelegt habe, von der ersten Arbeitshypothese aus, die wir in einem laufenden internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten untermauern.>>
Hier liegt offensichtlich ein falsches Verständnis dessen vor, was Aufsicht ist. Aufsicht ist die wichtigste institutionelle Schutzbarriere, um den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung (v.a. aus Kernkraftwerken) zu schützen. Das ENSI hat daher in aller Objektivität und ohne Vorurteile zu prüfen, ob die Betriebssicherheit der Kernkraftwerke jederzeit gewährt ist. Und zwar auch mit Kontrollen. Wir haben gerade in den letzten Tagen mit der VW-Affäre ein neues Beispiel dafür erhalten, was passiert, wenn staatliche Instanzen nicht im Stande sind, diese Verantwortung wahrzunehmen.
Stattdessen bestätigen zu wollen, dass Reaktoren sicher sind, ist naiv, ganz besonders im Falle einer Hoch-Risikotechnik. Dieser Strategie fehlt es an Objektivität und an der angemessenen Zurückhaltung den Werken gegenüber. Es überlässt den Werken im Grunde genommen die Selbstkontrolle. Das ENSI sieht sich à priori – und in einer Art vorauseilendem Gehorsam – als Anwalt der Kernkraftwerke. Es schützt also mehr die Werke als die Menschen, die von einer Katastrophe betroffen sein könnten.
Wir legen unsere Sicht dar, was ein weitsichtiger ENSI-Direktor seinen Mitarbeiter als Richtschnur vorgegeben hätte:
„Priorität der Aufsicht über Kernanlagen ist die Garantie der bestmöglichen Sicherheit von Bevölkerung und Umwelt, namentlich bezüglich ionisierender Strahlung. Hierbei prüft das ENSI ohne vorgefasste Meinung die Einhaltung der Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Betriebsvorschriften in allen Bereichen der nuklearen Sicherheit. Es bezieht auch internationale Erfahrungen von Behörden und Werken sowie wissenschaftliche Erkenntnisse in seine Beurteilung mit ein und ist Garant der durch die Schweiz unterzeichneten internationalen Abkommen. Die Aufsichtstätigkeit des ENSI wird für die Öffentlichkeit, die Behörden und die betroffenen Werke in transparenter und selbstkritischer Art ausgeführt und entsprechend offen kommuniziert.“
Leider beschränkt sich die Aufsicht aber darauf, den Betrieb von „Kernkraftwerken zu begleiten“, statt diesen wirklich auf die Finger zu schauen. Wie die heutige Aufsicht funktioniert lässt sich an den folgenden beiden Beispielen ermessen.
Zum Beispiel KKL und David-Besse ….
In der Öffentlichkeit provozierte das Vorkommnis mit dem Titel „KKL: Beschädigung am Primärcontainment vom 24. Juni 2014“ allgemein Aufmerksamkeit und eine gewisse Bestürzung. Es handelte sich darum, dass im Kernkraftwerk Leibstadt eine Halterung für Feuerlöscher an der Aussenseite des Reaktorcontainments befestigt worden war und hierbei die Schutzwand durchbohrt worden war. Die Fehlmontage stammte aus dem Monat November 2008, wurde aber erst bei einer Begehung am 14. Juni 2014 festgestellt[2]. Man muss also davon ausgehen, dass weder der Betreiber noch das ENSI die korrekte Ausführung der Arbeit kontrolliert hatten. Ein Aufsichts- und Kontrolldefizit über 6 Jahre! Während sechs langen Jahren also hatte die Aufsicht diesen Mangel an einer zentralen Sicherheitseinrichtung nicht bemerkt und auf die Selbstkontrolle des Betreibers vertraut. Ein Versagen der gesamten Aufsichtskette also. Unvorstellbar!
Abbildung 2: Korrosionsloch im Reaktor des KKW David Besse (Wikipedia, author unknown)
Ähnliche Versäumnisse wurden auch aus andern Kernkraftwerken mit vergleichbarer Aufsichtspraxis rapportiert. So wurde beispielsweise im Jahr 2002 über Korrosionsschäden am Kopf des Reaktordruckbehälters des Kernkraftwerks David-Besse in Ohio (USA) berichtet. Die Korrosionslöcher waren mehr oder weniger zufälligerweise entdeckt worden – wie auch die Feuerlöscher und die Bohrlöcher am Containment des KKW Leibstadt. Die Korrosionslöcher am Reaktordruckbehälter von David Besse resultierten von einer Tropfstelle aus einem defekten Lagertank für Borsäure. Im Moment der Entdeckung war das Reaktorgefäss fast durchgefressen (Abbildung 2). Wären die letzten Zentimeter auch noch weg gewesen, so wäre es wohl zu einem Reaktorunfall gekommen.
Das KKW David-Besse beschäftigte damals die Sicherheitsbehörden der Schweiz, HSK und KSA intensiv. Trotzdem kam es zum Fall „KKL 24. Juni 2014“. Die Aufsicht hatte leider keine Lehren in Sachen Kontrollfunktionen gezogen.
… und dann Beznau 2015 im Anschluss an Doel …
Heute steht die Schweiz mit der Entdeckung von Materialschäden im Reaktordruckgefäss von KKW Beznau 1 wiederum vor einem ähnlichen, wenn auch nicht ganz gleich gelagerten Fall. Ultraschalluntersuchungen wurden in der Folge der Feststellung von Schäden an zwei ähnlichen Kernkraftwerken in Belgien (Doel und Tihange) auch bei Beznau eingeleitet. Das ENSI spricht von „grossflächigen Untersuchungen“ die durch ein akkreditiertes Prüflabor durchgeführt werden. Und: “Im Rahmen der Untersuchungen kann die Aufsichtsbehörde Inspektionen durchführen, um zu prüfen, dass die Qualitätsanforderungen eingehalten werden.“[3] Erste Messungen bestätigen offenbar den Verdacht auf Materialschäden, sodass das Werk vorderhand nicht wieder aufgeschaltet werden kann.
Interessanter Weise wurden die Schäden in Belgien entdeckt und erst nachträglich in der Schweiz auf Geheiss des ENSI bestätigt.
Aber: Reichen Inspektionen in den geschilderten Situation in Beznau (uns anderswo) aus? Wäre nicht eine ständige Begleitung erforderlich? Und: Wäre nicht eine vollständige Untersuchung des Reaktorgefässes angezeigt, damit auch Gewähr bestünde, dass die Ultraschalluntersuchungen den gesamten Risikobereich abdecken?
Quintessenz
Absolute Sicherheit gibt es nicht. Angesichts der enormen Risiken dieser Technologie und den dramatischen Folgen von schweren Unfällen muss nukleare Sicherheit aber aktiv in jedem Punkt angestrengt werden. Die Philosophie die allzu sehr auf Zurückhaltung und Vertrauen in den Betreiber setzt, ist bei diesen Gefahren falsch am Platz. Es braucht eine proaktive Kontrolle und Überwachung, die sich vor Ort „einmischt“ ,Systeme ausleuchtet und überdenkt und dem Betreiber vorgibt, wo es in Sicherheitsfragen entlanggeht. Wie sagte doch das ENSI (2014) selber? “Das Ziel der nuklearen Sicherheit ist es, den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung zu schützen”.
Ein Problem, auf welches das ENSI allerdings keinen Einfluss hat, steht heute mehr denn je im Raum: eine Sicherheitsbehörde ist in unserer parlamentarischen Demokratie letztendlich auch ein Abbild dessen, was ein Gesetz erlaubt. Höchste Zeit also, dem Gesetz wieder ein paar Zähne zu verpassen, und das halbwegs zahnlose Gebiss endlich auszubessern. Und höchste Zeit auch, dass unser Parlament seine Verantwortung wahrnimmt. Denn das Ziel, „den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung zu schützen”, gilt auch für unser Parlament.
Referenz:
ENSI 2014: Integrierte Aufsicht; ENSI-Bericht zur integrierten Aufsichtspraxis. Eidgenössisches Nukleares Sicherheitsinspektorat, Brugg.
[1] https://www.ensi.ch/de/2012/07/08/gegenseitiger-respekt-ist-dreh-und-angelpunkt-der-arbeit-des-ensi/
[2] https://www.ensi.ch/de/topic/vorkommnisse/section/vorkommnisse-in-schweizer-kernkraftwerken/
[3] https://www.ensi.ch/de/befunde-in-doel-und-tihange-ensi-hat-2012-und-2013-massnahmen-angeordnet/
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