Kurzgeschichte der Akteure
Industrie und Bund, Hand in Hand
Bevor wir zu konkreten Vorschlägen in Sachen Reform der Strukturen im Bereich der Kernenergie im Allgemeinen und der nuklearen Entsorgung im Speziellen übergehen, möchten wir noch einen kurzen Abstecher in die Vergangenheit unternehmen, um die aus der Geschichte der Kernenergie entstandenen strukturellen und organisatorischen Probleme der Branche und der Behörden etwas besser zu verstehen.
Der grundlegende Entscheid für die „friedliche Nutzung“ der Kernenergie erfolgt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem euphorischen Einstieg in die atomare Stromerzeugung Anfangs der sechziger Jahre .[1] In der Schweiz geht das Abenteuer im Jahr 1955 mit der Gründung der „Reaktor AG“ los[2]. 125 Firmen vereinen sich, um mit Unterstützung des Bundes einen eigenen Reaktor zu entwickeln. Der Bund schenkt der Reaktor AG den Forschungsreaktor Saphir und gewährt über mehrere Jahre hinweg insgesamt 45 Millionen Franken Subvention; die Industrie steuert bis 1959 die verbleibenden 12 Millionen Franken bei. Im Jahr 1960 geht die unrentable Reaktor AG als „Eidgenössisches Institut für Reaktorforschung“ an den Bund. Im selben Jahr wird der für militärische Zwecke vorgesehene Forschungsreaktor Diorit angeschafft. 1961 gründet Sulzer die „Nationale Gesesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik“ und baut in Lucens einen Natururan-Schwerwasser Versuchsreaktor, wiederum mit militärischem Hintergrund. Im Januar 1969, nur einige Monate nach der Inbetriebnahme, erleidet der Reaktorkern eine Teilschmelze. Das Projekt einer eigenen Reaktorlinie ist damit für die schweizerische Maschinenindustrie begraben. Künftig konzentriert sie sich auf die Mitwirkung bei Planung und Bau von Kernkraftwerken und auf die Lieferung technischer Ausrüstungen. Das Interesse der Industrie an Kernenergie bleibt aber erhalten. Die Industrie will sich damit sichere und billige Bandenergie sichern.
In dieser ersten Phase der Entwicklung der Kernenergie arbeiten also Bund und Industrie eng in konkreten – militärischen und teils auch zivilen – Projekten zusammen. Die Finanzierung und das Risiko liegt beim Bund, die technische Realisierung bei der Industrie.
Die Kantone übernehmen das Heft
In der nächsten Phase kommen nun die Kantone zum Zug: Die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK), dominiert durch die Kantone Zürich und Aargau, beobachten die Entwicklung der Kernenergie in den USA bereits in den fünfziger Jahren. Konkret aber steigen sie um die Wende 1963 / 1964 in das Atongeschäft ein. Sie bauen ab 1964 das Kernkraftwerk Beznau 1 und 2, mit Druckwasserreaktoren der amerikanischen Firma Westinghouse. Die Inbetriebnahme der beiden Reaktoren erfolgt 1969 und 1971. Der Kanton Bern, bzw. seine Elektrizitätsgesellschaft BKW nimmt 1972 den Siedewasser Reaktor von General Electric in Mühleberg in Betrieb.
Damit werden die Kantone zu den wichtigsten Akteuren in der Entwicklung der zivilen Kernenergie in der Schweiz und – über ihre Elektrizitätsgesellschaften – auch zu Besitzern der Kernkraftwerke.
Die neue Rolle des Bundes
Das Atomgesetz von 1959 [3] verpflichtet den Bund zur Aufsicht über die Kernanlagen. Dies ist der Beginn der Leidensgeschichte der nuklearen Aufsicht, welche heute mit ENSI und KNS im Argen liegt. Der Bund ist auch Bewilligungsbehörde.
Mit der Übernahme des Eidgenössischen Instituts für Reaktorforschung (EIR, siehe oben) übernimmt der Bund auch die Forschung und die Ausbildung von Spezialisten im Bereich der Kernenergie, inklusive Strahlenschutz. Ausserdem leistet das EIR Dienstleistungen im Bereich der Abfallverarbeitung und bei der Untersuchung von Brennelementen in seinem Hot-Labor. Daran ändert auch die Neubenennung des EIR zum Paul-Scherrer Institut im Jahr 1988 nichts. Die Forschung im Bereich Kernenergie wird seither in der Schweiz fast ausschliesslich an der Bundesanstalt PSI betrieben. Dabei profitiert das Institut von substantiellen finanziellen Beiträgen der Eidgenossenschaft sowie der Nagra. Kleinere Forschungsgruppen bestehen auch an der ETH in Zürich und Lausanne. Als einzige kantonale Universität ist die Uni Basel an der Reaktorforschung beteiligt.
Mit dem Atomgesetz von 1959 und der Gründung des Eidgenössischen Instituts für Reaktorforschung übernimmt der Bund die formelle Verantwortung für die Aufsicht über die Atomanlagen, die Forschung und Ausbildung von Fachpersonal.
Die Entsorgungsorganisation
Kantone und Bund einigen sich im Jahr 1972, das Problem der Entsorgung der radioaktiven Abfälle gemeinsam anzugehen; sie gründen hierzu die „Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle“, als gemeinsame Fachorganisation. Auch der Bund, vertreten durch das Bundesamt für Gesundheit, ist Gesellschafter der Genossenschaft und dies in seiner Funktion als Verwalter und Entsorger der Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung. Erst im Jahr 1978 kommt mit dem „Bundesbeschluss zum Atomgesetz“ eine gewisse Klärung zur Frage der Verantwortung für die nukleare Entsorgung. Dieser Beschluss verpflichtet die Abfallproduzenten dazu, die „dauernde und sichere Entsorgung und Endlagerung“ der Abfälle selbst durchzuführen.
Damit werden die Kantone, über ihre weitgehend exklusive Beteiligungen an den (privatrechtlichen) Elektrizitätsgesellschaften, im Sinne des „Verursacherprinzips“ zur Entsorgung der radioaktiven Abfälle verpflichtet.
Als ob dies nicht genügend verschlungen und die Verantwortungen nicht schon genügend „verdünnt“ wären, fügt man aber mit den Kernkraftwerken Gösgen (Inbetriebnahme 1979) und Leibstadt (1984) noch eine Schicht hinzu: Beide Kernkraftwerke sind privatrechtliche Aktiengesellschaften, deren Aktienkapital jeweils auf mehrere Elektrokonzerne verteilt ist. Beim Kernkraftwerk Gösgen gesellen sich die Stadt Zürich und „Energie Wasser Bern“ und beim Kernkraftwerk Leibstadt das Aargauische Elektrizitätswerk AEW dazu[4].
Damit sind heute die Kernkraftwerke der Schweiz formell in den Händen der Kantone, bzw. ihrer Elektrizitätskonzerne und Verteilergesellschaften, sowie der Stadt Zürich.
In den kommenden Blog-Beiträgen werden wir die für die Nuklearsicherheit – und insbesondere die Entsorgungssicherheit – zuständigen Instanzen und Akteure analysieren.
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Kästchen: Ein kurzer historischer Rückblick
- Dezember 1959: Das Atomgesetz wird erlassen, das als äusserst dringliches Geschäft durch das Parlament praktisch einstimmig angenommen wird.[1]
- März 1960: Bundesbeschluss zur „Förderung des Baus und Experimentalbetriebs von Leistungsreaktoren“. [2]
- 1960: Der Bund setzt „nebenamtlich“ die Eidgenössische Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen (KSA) ein.
- 1961: Das Post- und Eisenbahndepartement, heute Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), übernimmt das Büro des Delegierten für Atomenergie. [3]
- 1964 – 1965: Die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK), Vorläuferin der Axpo, und die Bernischen Kraftwerke (BKW) beschliessen den Bau der KKW Beznau und Mühleberg.
- 1967: Im Büro des Delegierten für Atomenergie wird ein Sektion für die Sicherheit von Atomanlagen (SSA) mit vollamtlichen Stellen geschaffen[4]
- 1967: Die NOK beschliessen den Bau von Beznau II
- 1969: Beznau I nimmt den Betrieb auf.
- 1969: Die Sektion für die Sicherheit von Atomanlagen wird in die Abteilung für die Sicherheit von Kernanlagen (ASK) überführt und dem Bundesamt für Energiewirtschaft (BEW), heute Bundesamt für Energie (BFE), zugeteilt.
- 1975: Kernenergiegegner besetzen das Baugelände des geplanten KKW Kaiseraugst
- 1975: Lancierung der Volksinitiative zur Wahrung der Volksrechte beim Bau und Betrieb von Atomanlagen
- 1978: der dringliche Bundesbeschluss zum Atomgesetz wird im Oktober von Parlament beschlossen. Er enthält wesentliche Ergänzungen bei den Bewilligungsverfahren und regelt erstmals auch die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Er fordert eine „Gewähr für die dauernde sichere Entsorgung und Endlagerung“ der nuklearen Abfälle. Die bestehenden Werke erhalten die Auflage, diesen Nachweis der „Gewähr“ bis 1985 zu erbringen.[5]
- 1978: Die Nagra erhält ein neues Pflichtenheft und stellt ihr Konzept für die nukleare Entsorgung vor.
- 1979: Die Nagra gibt das 200-Millionen schwere Forschungs-Programm für das „Gewähr“-Projekt im kristallinen Tiefuntergrund der Schweiz bekannt.
- 1981-1982: Massive Redimensionierung des „Gewähr-Projektes“ aufgrund der Planungsdefizite des Verfahrens.
- 1982: Die Abteilung für die Sicherheit von Atomanlagen (ASK) wird zur Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen (HSL)
- 1985: Das „Gewähr“-Projekt wird von der Kernenergieindustrie (Nagra) eingereicht. Den Entsorgungsnachweis für hochaktive Abfälle erachtet der Bundesrat erst 2006 für erbracht.
- 1998/1999: Das Nagra-Projekt am Wellenberg steckt zunehmend in Schwierigkeiten.
- 1999: Das UVEK setzt die Kommission „Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle“ (EKRA) ein, die bis 2001 die grundlegenden Leitplanken für die nukleare Entsorgung definiert.
- 2002: Im September 2002 erleidet das Wellenberg-Projekt definitiv Schiffbruch. Die Standortfrage für Tiefenlager muss neu geklärt werden.
- 2003: Das Kernenergie-Gesetz übernimmt im Wesentlichen die Konzeptionen der EKRA.
- 2005-2008: Konzeption des Standortwahlverfahrens im Rahmen des „Sachplans geologische Tiefenlager“. Anpassung der Strukturen. Das BFE wird verfahrensleitende Behörde des Sachplanverfahrens.
- Ab Mitte des Dezeniums: Planung von drei Ersatz-Kernkraftwerken durch die Schweizer Stromwirtschaft.
- 12. 2007 / 1.1.2008: Die Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen (KSA) wird aufgelöst und durch die kleinere, mit beschränktem Pflichtenheft ausgestattete Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) ersetzt.
- 2008: Start des Sachplanverfahrens.
- 2009: Die HSK wird als Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) in den dritten Kreis der Bundesadministration ausgegliedert.
2011: Reaktorunfälle von Fukushima. Fukushima ist der offizielle Anlass, die bereits hochdefizitäre Kernenergie aufzugeben.
[1] Rausch, Heribert (1980): Schweizerisches Atomenergierecht, Schulthess Polygraphischer Verlag, Zürich, S. 5.ff., 8.ff.
[2] SGK (1992): Geschichte der Kerntechnik in der Schweiz, Die ersten 30 Jahre, 1939 – 1969, Schweizerische Gesellschaft für Kernfachleute, Autoren: Aemmer, Fritz, Hochstrasser, Urs, Küffer, Kurt, Lüscher, Otto, Meyer, Ludwig, Pellaud, Bruno, Pictet, Jean-Michel, Tempus, Peter, Ribaux, Paul, Weyermann, Peter; Olynthus Verlag für verständliche Wissenschaft und Technik, S. 63.
[3] SGK (1992): ibid., S. 64.
[4] SGK (1992): ibid., S. 64.ff.
[5] Buser, M., Wildi, W. (1984): Das Gewähr-Fiasko, Schweizerische Energie-Stiftung, S. 12-13
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