Die Nagra hat ausgedient – wie weiter?
Nagra – die Entsorgungsinstitution in Panne
Die „Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle“ (Nagra) wurde im Jahr 1972 durch die Abfallproduzenten gegründet. Ihre Genossenschafter sind heute (www.nagra.ch):
- Axpo Power AG
- BKW Energie AG
- Alpiq AG
- Kernkraftwerk Leibstadt AG
- Kernkraftwerk Gösgen-Däniken
- ZWILAG Zwischenlager Würenlingen AG
- Schweizerische Eidgenossenschaft
Ihr Auftrag: „Die Nagra ist von allen Verursachern radioaktiver Abfälle beauftragt, Lösungen für eine sichere, dem Menschen und der Umwelt verpflichtete Entsorgung in der Schweiz zu erarbeiten und zu realisieren.“
„Der Auftrag umfasst:
- Inventarisierung aller radioaktiven Abfälle der Schweiz aus Kernkraftwerken, Medizin, Industrie und Forschung
- Planung geologischer Tiefenlager für die Entsorgung aller radioaktiven Abfälle
- Durchführung erdwissenschaftlicher Abklärungen
- Erbringen der Sicherheitsnachweise für mögliche Standorte geologischer Tiefenlager
- Transparente Information der Öffentlichkeit
- Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung“.
Die Aufgabenteilung umfasst drei Leistungsbereiche:
Soweit die Aussagen der Nagra selbst. Zum Verständnis der heutigen Situation, 45 Jahre nach Gründung der Genossenschaft, möchten wir zu obigen Angaben Stellung nehmen:
- Die Nagra vertritt sehr wohl die Interessen der Genossenschafter in ihrer Verpflichtung, die radioaktiven Abfälle zu entsorgen.[1] Die Interessen der Öffentlichkeit, bzw. der Bevölkerung werden im besten Fall und nur in sehr beschränktem Mass in der Genossenschaft durch den Bund
- Seit 45 Jahren bemüht sich die Genossenschaft, ihren Aufgaben nachzukommen. Von den sechs oben aufgeführten Aufgabenbereichen kommt die Nagra dem ersten in etwa nach. An den verbleibenden fünf Bereichen wird (seit 45 Jahren) gearbeitet . . .
- Das eigentliche Ziel der Genossenschaft – und der im Prozess der nuklearen Entsorgung am weitesten führende – ist Bereich 4: „Erbringen der Sicherheitsnachweise für mögliche Standorte geologischer Tiefenlager“. Dies entspricht auch dem Endziel des „Sachplans geologische Tiefenlager“[2]. Die nukleare Entsorgung in der Schweiz ist also nur bis zur Erlangung der Rahmenbewilligung für geologische Tiefenlager geplant- und zwar ausschliesslich mit der Methode des Sicherheitsnachweises. Die Erteilung der Rahmenbewillig durch den Bundesrat wird von der Nagra für 2029 terminiert. Für den Parlamentsentscheid und die darauf folgende Volksabstimmung sind noch etwa weitere zwei Jahre budgetiert.[3] Der heutige Auftrag der Nagra wäre dann beendet.
Der Sachplan und das Arbeitsprogramm der Nagra entsprechen einer „administrativen Abwicklung“, die weder den Unsicherheiten noch anderweitigen Verspätungen Rechnung trägt. Am schwersten wiegt bei den Unsicherheiten jene, ob namentlich für hoch radioaktive Abfälle in der Schweiz überhaupt ein langfristig (ca. 1 Million Jahre) sicherer Standort gefunden werden kann. Denn sollten am Ende des im Zeitplan vorgesehenen Prozesses grössere Zweifel an der Sicherheit des vorgeschlagenen Standorts verbleiben, ist die Akzeptanz der Rahmenbewilligung in der anschliessenden Volksabstimmung nicht garantiert.
Formal betrachtet ist die Nagra heute im Sachplanverfahren etwa dort, wo sie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre im „Projekt Gewähr“ stand: sie hat die weiter zu untersuchenden Standorte festgelegt (Bözberg und Zürcher Weinland), bzw. aufgebrummt erhalten (Lägern Nord). Zu den ersten beiden Standorten wurden Gesuche für Sondierbohrungen eingereicht. Diese Gesuche enthalten auch überflüssige Standorte. Anderseits fehlen aber gewichtige Punkte: Die Gesuche für die Region Lägern Nord lassen auf sich warten, ebenso die Gesuche für die Untersuchung des Permokarbon-Troges. Wie zum Zeitpunkt des Gewähr-Projektes im kristallinen Tiefuntergrund der Nordschweiz in den achtziger Jahren, wurden die Bohrstandorte einmal mehr festgelegt, bevor die hierzu notwendigen seismischen Daten vorlagen. Damals war das Budget der Nagra unbeschränkt. Heute aber sind die Auftraggeber auf Subventionen angewiesen und das Gespenst des Konkurses geht um, wie der Aargauer Regierungsrat und Baudirektor Attinger zu bedenken gibt. [4]
Soweit die Negativpunkte. In folgenden Aspekten präsentiert sich die Situation heute besser:
- Das Wirtsgestein Opalinuston verspricht mehr als das damalige Kristallin – allerdings nur, wenn das Lagerkonzept und die Dimensionierung der Bauten an die heiklen geotechnischen Anforderungen und an die Erfordernisse für die Langzeitsicherheit angepasst werden und zudem die regionale geologische Situation gründlich abgeklärt wird (Eiszeit-Rinnen und Neotektonik, Permokarbontrog und Nutzungskonflikte).
- Man spricht in der Regel nicht mehr von Endlagerung, sondern sieht Lagerüberwachung und während einer gewissen Dauer auch die Möglichkeit der Rückholung vor.
- Der Bund engagiert sich etwas mehr – allerdings nicht aus Überzeugung, sondern aus politischer Notwendigkeit.
Dies wird aber sicher nicht ausreichen, um eine dauernde und sichere Entsorgung zu gewährleisten. Kurz: Mit der Nagra als Entsorgungsinstitution wird es nie zur Entsorgung kommen: ihre Interessenbindung und ihre Abhängigkeit von der Nuklearbranche verhindern dies.
Das „Verursacherprinzip“ falsch umgesetzt
Dass die nukleare Entsorgung in der Schweiz seit Gründung der Nagra nur bescheidene Fortschritte erzielte, liegt weitgehend an der falschen Umsetzung des Verursacherprinzips: Die Entsorgungspflichtigen (also v.a. die Kernkraftwerksgesellschaften) sollen die Abfälle nach landesüblichem Verständnis selbst und auf eigene Kosten entsorgen. Dieses Vorgehen ist jedoch widersinnig bis falsch.
Zum Vergleich: Als Abfallproduzenten bezahlen die Schweizer Haushalte die Sammlung und Eliminierung ihrer Abfälle über eine Kehrichtsackgebühr (Ausnahme: Kanton Genf). Die Gemeinde, die Region oder der Kanton besorgen die Abfallbehandlung (Verbrennung) und die Eliminierung des Endabfalls. Dieses Modell folgt dem Umweltschutzgesetz und funktioniert einigermassen gut. Ebenso die Klärung des Abwassers: Staatliche Institutionen sind für dessen Entsorgung zuständig. Diese Modelle funktionieren auch deshalb eher zufriedenstellend, weil die Langzeitprobleme untergeordneter Natur sind. Bei der nuklearen Entsorgung liegen die Verhältnisse jedoch völlig anders.
Die gesetzliche Regelung für die Beseitigung (Eliminierung) der radioaktiven Abfälle wurde zu einer Zeit niedergeschrieben, als man noch von einer direkten Endlagerung ausging. Damals nahm man an, dass die Sache in einigen wenigen Jahrzehnten geregelt sei und dass die verantwortlichen Kraftwerkgesellschaften ihrer Verantwortung bis zum Schluss nachkommen würden.
Dies hat sich im Verlauf der vergangenen Jahre von Grund auf geändert: Planung und Standortsuche benötigen mindestens ein halbes Jahrhundert Zeit, der Bau der Lager und ihr Betrieb nochmals soviel. Darauf folgt die Beobachtungsphase, wofür mindestens ein Jahrhundert einzusetzen ist. Die Annahme, dass die Kraftwerksgesellschaften – bzw. die Elektrizitätskonzerne – diese Zeit überstehen werden, ist heute völlig unrealistisch.
Die Verursacher haben ihre Verantwortung zur Übernahme des Verursacherprinzips gar nie wirklich wahrgenommen. Sie haben die Standortwahlarbeiten immer wieder in der Zeit verdünnt, statt sie zügig und rasch voranzutreiben, was auch heute noch zwingend notwendig wäre. Das Entsorgungsprogramm stützt sich somit stark auf Absichtserklärungen, Papiertiger und Schein, jedoch kaum auf konkrete Massnahmenprogramme für die Umsetzung eines extrem komplexen Entsorgungsprogramms. Dies nährt den Verdacht, dass es der Atomindustrie – trotz gegenteiliger Absichtserklärungen – nie um die konkrete Realisierung der nuklearen Entsorgung ging. Fernziel der Atomwirtschaft blieb stets die Plutoniumwirtschaft im sogenannten Brennstoffkreislauf, die man heute als unwirtschaftliche Utopie bezeichnen muss.
Die Konsequenz ist klar: Die nukleare Entsorgung kann in Anbetracht der hohen Risiken für die Bevölkerung und den äusserst langwierigen Prozessen nicht mehr einer privatrechtlichen Institution überlassen werden, die auf atomare Chimären baut. Der Staat (die Kantone, die Eidgenossenschaft, später vermutlich Europa) muss die nukleare Entsorgung als Kernverantwortung und –aufgabe übernehmen!
Die Genossenschaft Nagra hat in ihrer heutigen Form als Entsorgerorganisation der Abfallproduzenten ausgedient!
Und dann – wie weiter?
Die Frage einer umfassenden staatlichen Entsorgungsgesellschaft stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit. Nicht allein deshalb, weil die Frage der Langzeitzwischenlagerung brennt (siehe unser nächster Blog-Beitrag). Was es nämlich in der Zukunft braucht, ist ein umfassendes Planungs- und Management-Institut, das einen extrem komplexen Prozess über die nächsten zwei- bis dreihundert Jahre auf verschiedenen Ebenen führen kann. Die Aufgabenpalette ist breit aufgestellt: Betrieb, Wartung, Koordination und Zusammenführung der an verschiedenen Standorten verstreuten Zwischenlager, die Umsetzung von Standortsuchverfahren sowie der Bau und Betrieb von Anlagen im Untergrund, die Forschung im Bereich der Materialwissenschaften, die verschiedenen Konditionierungs- und Verpackungsstrategien für hochaktive Abfälle und deren Entwicklung bis zur industriellen Reife wie auch Funktionen in der Überwachungstechnik. Die meisten der hier aufgeführten Aufgaben werden heute in der Schweiz nicht wahrgenommen. Die Materialforschung steckt bestenfalls in den Kinderschuhen. Eine Konditionierungs- und Verpackungsindustrie für hochradioaktive Abfälle ist nicht einmal ernsthaft angedacht. Ein Zusammenführen der Verantwortlichkeiten für Langzeit-Zwischenlagerung, Gesamtplanung, Management und Standortwahlverfahren ist auch nicht in Ansätzen erkennbar. Heute konzentriert sich das Entsorgungsprogramm lediglich auf das Sachplanverfahren, das mit einer Rahmenbewilligung abgeschlossen werden soll. Die weitere Zukunft liegt im Nebel. Dass hier Abhilfe erforderlich ist, ergibt sich auch aufgrund der absehbaren desolaten finanziellen Situation. Eine Neudefinition der Strukturen, ihrer Finanzierung durch den Entsorgungsfonds und ihre Kontrolle durch ressourcen- und kompetenzmässig gut ausgestattete Aufsichtsorgane drängt sich auf.
Die Restrukturierung der Entsorgerorganisation
Was heisst dies nun für die Schweiz? Nach obiger Schlussfolgerung bleibt keine andere Lösung, als das Programm der nuklearen Entsorgung fundamental neu zu durchdenken und zu positionieren. Wichtigste unmittelbare Massnahme ist die Restrukturierung der Entsorgung – allem voran der wissenschaftlich-technischen Entsorgerorganisation, der heutigen Nagra, sowie der diversen, örtlich verstreuten Zwischenlagerungs-Betriebe.
Die Grundanforderungen an eine neue Entsorgungsorganisation sind:
- Übernahme der bisher von den Abfallproduzenten einbezahlten Fondsgelder durch die öffentliche Hand. Sicherstellung der weiteren Finanzierung durch den Bund bei massgebender Beteiligung der bisher nutzniessenden Kantone und Gemeinden;
- Hierarchische Unterstellung einer neuen umfassenden Entsorgungsorganisation im Rahmen staatlicher Strukturen zur Gewährleistung einer demokratischen Kontrolle; Programm- und Budgetkontrolle durch den Staat; Unabhängigkeit von den Abfallproduzenten bzgl. Programmgestaltung, Organisation und Budgetplanung. Grundlegende Veränderung der Unternehmens- und damit der Sicherheits- und Fehlerkultur.
- Zeitliche Ausdehnung des Pflichtenheftes über die Rahmenbewilligung hinaus, Entwicklung und Sicherstellung der notwendigen Infrastrukturen, Bau, Betrieb und Überwachung von Lagern und Infrastrukturen bis zu einem eventuellen Verschluss.
- Zusammenarbeit mit Forschungs- und Bildungsinstitutionen (Hochschulen und Universitäten) zur Sicherung des Nachwuchses und die Förderung der unabhängigen Forschung.
A priori könnte die Entsorgung entweder auf Ebene der Kantone oder des Bundes angesiedelt werden. Die Frage ist insofern von Bedeutung, als der Bund Aufsicht und Kontrolle übernehmen muss. In Anbetracht der komplexen Fragen, der internationalen Zusammenarbeit (siehe kommenden Blog Beitrag) und des hohen Niveaus der Verantwortung kommt jedoch wohl einzig eine Organisation auf Bundesebene in Frage. Die gesetzliche Grundlage hierfür ist mit Art. 33 Abs. 1 Buchstabe b des Kernenergiegesetzes bereits gegeben, kann doch die Kernenergie de facto ihrer Pflicht als Entsorger de facto nicht mehr nachkommen.
Innerhalb des Bundes bestehen wiederum verschiedene Möglichkeiten, das Projekt umzusetzen:
- Im Rahmen eines Bundesamtes;
- In einem externen Kreis der Bundesverwaltung, vorzugsweise im sogenannten Dritten Kreis (Betriebe und Anstalten des öffentlichen Rechts, Verwaltungsexterne Leistungserbringer, in der Regel mit eigener Rechtspersönlichkeit/ eigenem Rechnungskreis);
- Eventuell auch in einer bereits bestehenden, fachlich-thematisch ähnlich ausgerichteten Institution. Dabei denken wir in erster Linie an das Paul-Scherrer Institut (PSI).
Diese Neuorganisation der Entsorgung muss in wenigen Jahren realisiert werden können. Sie wird eine Anpassung der Gesetzgebung erfordern, was sicher erneut die Frage aufwerfen wird, ob die Schweiz den Bereich „radioaktive Abfälle“ weiterhin aus ihrem Umweltrecht ausschliessen will – wo er eigentlich hingehört. Aber dieser Themenkreis soll später in unserem Blog behandelt werden.
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