Die Zwischenlagerung – ein schwer unterschätztes Problem, das dringend einer Reorganisation bedarf
Schönwetter-Prognosen als Basis der Kernenergie
Als der Chef des nuklearen Abfallprogramms der amerikanischen Nuclear Regulatory Commission (NRC) und seine Mitarbeiter 1977 das Drei-Phasen-Diagramm der Kernenergie entwarfen (Figur 1), dürften sie kaum davon ausgegangen sein, dass sich das Ende der Nutzung der Kernenergie bereits in wenigen Jahrzehnten anbahnen könnte. Die frühen siebziger Jahre waren immer noch die Jahre der Euphorie im Kernenergie-Business. Zwar begannen sich ab Mitte der siebziger Jahre bereits Schwierigkeiten abzuzeichnen, doch gingen die meisten Beobachter damals davon aus, dass die Kernenergie als Energieerzeugungssystem definitiv etabliert war. Man konnte also guten Glaubens annehmen, dass die Stromerzeugung aus Kernspaltungsprozessen noch sehr, sehr lange in die Zukunft reichen würde. Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen die Atomenergie hatte sich zwar seit 1975 deutlich verschärft, [1] die Bestellungen für neue Werke liessen zwar eine Abflachung der Zuwachsraten erwarten, aber die grundsätzlich optimistischen Prognosen blieben weiterhin bestehen. In diesem Jahr 1977 ging der ehemalige Direktor der „Uranschmiede“ Oak Ridge National Laboratories, Tennessee, Alvin Weinberg, noch von einem Park von 10’000 Brut-Einheiten weltweit aus, die „für immer Strom“ produzieren würden.[2] Allein für die USA nahm er einen Park von 1’000 Brüter mit Leistungen von je 2’000 MWe an.[3] Auch wenn die Zuwachsprognosen der Kernenergie überprüft werden mussten, ging damals kaum jemand von einem raschen Ende der Leichtwasser-Reaktor Technologie aus.
Schönwetter-Prognosen auch bei der Endlagerung
Auch Entsorgungsprogramme der damaligen Zeit strahlten Zuversicht aus. Das Versuchsendlager Asse etwa, wurde als Modell für die Entsorgung radioaktiver Abfälle gepriesen, sowohl von nationalen Entsorgungsagenturen wie etwa der Nagra,[5] wie auch von internationalen Agenturen wie der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) in Wien (siehe Figur 2). Der für die Umsetzung der Endlager-Konzepte vorgesehene Zeitraum wurde von den meisten nationalen Projekten auf höchstens einige Jahrzehnte veranschlagt. Die Zwischenlagerung schien also für die nationalen Endlager-Planer tatsächlich eine eher kurzfristige technische Angelegenheit zu sein. Inzwischen sind allerdings alle Versuche, Abfälle kontrolliert in Endlager zu verbringen, als gescheitert anzusehen. Tiefenlager sollen frühestens in einigen Jahrzehnten zur Verfügung stehen. Für die Schweiz sind die Etappen der Geschichte der Fehlprognosen gut dokumentiert. [6]
Langzeit-Zwischenlagerung angesagt
Trotz der allgemeinen Euphorie gab es in den frühen 1970er Jahren bereits Stimmen, die eine längere Zwischenlagerung in Betracht zogen. [7] Eines der ersten diesbezüglichen Kavernenkonzepte wurde in den USA vorgeschlagen. [8] Es ging von der Annahme aus, dass es zu dieser Zeit nicht möglich sei, die wahren Kosten eines langzeitig sicheren Endlagers zu beziffern und schlug darum vor, hochradioaktive Abfälle in kontrollierbaren Lagerkavernen zwischenzulagern, bis das Vertrauen der Gesellschaft in eine definitive Langzeitendlagerung gewonnen sei. [9] Umwelt- und andere Organisationen artikulierten zur gleichen Zeit grundsätzliche Bedenken zur definitiven Endlagerung. [10] Wissenschaftler unterstützten die Forderung nach Langzeit-Zwischenlagern vor dem Hintergrund offener Fragen zur Langzeit-Sicherheit von Endlagern.[11] Je mehr die Umsetzung des Tiefenlagerkonzeptes auf sich warten liess, desto stärker kamen Langzeit-Zwischenlagerkonzepte auf. So auch in Holland, aufgrund der geringen Mengen an hochaktiven Abfällen, die im Land produziert worden waren.[12] Andererseits in Ländern, wo tatsächlich Bedarf an längerfristigen Zwischenlagerung – der „extended storage“ bestand.[13]
Inzwischen wird teilweise angenommen, dass die Zwischenlagerung mindestens 100 Jahre dauern wird, wenn nicht sehr viel länger – ein gewaltiges gesellschaftliches Experiment im Massstab 1 zu 1.
Die Situation bei den Zwischenlagern in der Schweiz
Auch hierzulande mehren sich die strukturellen Probleme mit der Zwischenlagerung. In der Schweiz lagern sowohl Kernkraftwerke wie auch als Zwischenlager erklärte Anlagen radioaktive Abfälle. Konkret sind dies:
Zwilag AG, Würenlingen (AG): Zentrales Zwischenlager für alle aus der Kernenergie stammenden Abfälle, in erster Linie hochaktive Brennelemente und verglaste hochaktive Abfälle, sowie Abfälle aus dem Betrieb und dem Rückbau der Kernkraftwerke. Die Zwischenlagerung der hochaktiven Abfälle erfolgt nach dem Modus der Trockenlagerung (z.B. „Castor“-Behälter). Brennbare Abfälle aus den KKW werden in der Plasmaanlage verbrannt und danach konditioniert. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat kontrolliert jährlich die Lagerbestände der im Zwilag gelagerten Abfälle.
Das Zwilag ist eine Aktiengesellschaft im Besitz der grossen Stromgesellschaften Axpo und BKW sowie der KKW Gösgen und Leibstadt. Sie ist ihrerseits Genossenschafter der Nagra.
Nasslager KKW Gösgen: Dieses Zwischenlager wurde vom KKW Gösgen als Nasslager für maximal 1008 abgebrannte Brennelemente eingerichtet. Es wurde 2008 in Betrieb genommen. [14] Das Nasslager ist Teil des Kernkraftwerks Gösgen, das diversen Aktionären gehört (Alpiq, Axpo, Stadt Zürich, andere).[15]
Zwibez KKW Beznau: Auch das KKW Beznau hat sein eigenes Zwischenlager (Zwibez) eingerichtet, sowohl für abgebrannte Brennelemente, wie auch für schwach- und mittelaktive Abfälle. [16] Das Zwibez ist Teil des KKW Beznau, das der Axpo gehört.
Weitere Zwischenlager: Weitere Zwischenlager befinden sich auf den Geländen der diversen KKW, zum einen die Abklingbecken für abgebrannte Brennelementen, die nach einigen (meist 5) Jahren in ein Trocken- oder Nasslager transportiert werden, dann auch Konditionierungsanlagen und Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle, die teilweise auch wieder ins Zwilag zur Behandlung (brennbare Abfälle) oder zur Zwischenlagerung geliefert werden. Besitzer sind die jeweiligen Aktionäre der KKW.
Bundeszwischenlager: Und schliesslich ist auch noch das Bundeszwischenlager zu nennen, das die breite Palette der radioaktiven Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF) zwischenlagert, und örtlich neben dem Zwilag angesiedelt ist. Die MIF-Abfälle werden vom Bund eingesammelt, das Paul-Scherrer-Institut ist die Bundesinstitution, die für die Zwischenlagerung der Abfälle zuständig ist.[17]
Zwischenlager-Organisation zwingend und dringend
In Anbetracht aller Unsicherheiten über die Entwicklung der Kernenergie und angesichts der langen Zeitspannen, bis Tiefenlager oder andere Techniken der Risikoreduktion (z.B. Transmutation) überhaupt zur Verfügung stehen, ist es nicht nur zwingend, sondern auch dringend, eine umfassende Form der Langzeitzwischenlagerung aller radioaktiven Abfälle in der Schweiz vorzubereiten. In Figur 3 wird der Zeitraum aufgezeigt, welcher für die Neuorganisation der Entsorgung maximal noch zur Verfügung steht. In diesen knapp zwei Jahrzehnten muss eine Neuorganisation einer solchen Zwischenlager-Organisation über die Bühne gehen können und die für die nächsten mindestens 100 Jahre wenn nicht 200 Jahre oder länger für die sichere Verwahrung der Abfälle in Zwischenlager zuständig sein wird. Diese Aufgabe stellt eine besondere Herausforderung für die Institutionen wie auch die Technik dar und hat in jedem Fall Pioniercharakter. Die institutionellen, gesetzlichen, technischen und wirtschaftlichen Folgen einer solchen Aufgabe sollten möglichst bald umfassend abgeklärt werden.
In einer frühen Phase dieses Prozesses müssen verschiedene Betriebe an verschiedenen Standorten mit teils fundamental anderen Firmenkulturen zusammengeführt werden. Was schon bei Fusionen von zwei Unternehmen eine beachtliche Herausforderung darstellt, wird bei einer Zusammenführung von einem halben Dutzend Anlagen besonders anspruchsvoll. Hinzu kommt die Einbindung der „Zwischenlager-Gesamtorganisation“ in eine neu zu gründende Entsorgungsgesellschaft, mit Generalplaner, Ingenieurbüro, Zwischenlagerorganisation, Konditionierungs- und Verpackungsorganisation und schliesslich Entsorgungsorganisation. Dieses System ist heute kaum angedacht. Die Zeit eilt. Der Ausstieg aus der Kernenergie könnte sich zusätzlich beschleunigen. Es besteht dringende Notwendigkeit seitens des Parlaments und der zuständigen Bundesinstitutionen (insbesondere Departement UVEK und Bundesamt für Energie) sich dieses Dossiers anzunehmen und eine Reorganisation der defizitären Nuklearbranche Schweiz nicht unter weit stärkeren Sachzwängen vorzunehmen: dazu gehört in erster Priorität die Lagerung existierender Abfälle langzeitlich sicherzustellen.
Dazu stellen sich neue technische Herausforderungen. Denn: wie verhalten sich Abfälle, die über längere Zeiträume in Zwischenlagern gehortet werden müssen? Wie verändert die Strahlung der hochradioaktiven Abfälle die Qualität der Gebinde, in der diese gegenwärtig verpackt sind, wenn die Lagerzeiten nun von den vorhergesehenen 40 Jahren auf 100 oder 200 Jahre hochgehen? Was bewirken Korrosion und Bakterienbefall für das bereits konditionierte Abfallgut? Wie muss optimal gelagert und re-konditioniert werden? Was kommt bezüglich Rückbau ausgedienter Anlagen, darunter auch Zwischenlager auf die Gesellschaft zu? Sind angesichts der langen Lagerzeiten neue zentrale Zwischenlager zu planen? Wie steht es mit den ausgedienten Anlagen?
Hinzu kommen organisatorische Massnahmen, die Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden Ausbildung junger Fachleute in derart unterschiedlichen Fachgebieten, wie sie bei einer Langzeitlagerung vorzusehen sind; die Finanzierung und Stabilität von Finanzierungsfonds; der gesellschaftliche Umgang mit einem Hochrisiko inmitten der Gesellschaft; und viele andere Herausforderungen mehr.
Wer die heutige Situation nüchtern betrachtet, dürfte befremdet sein über das Mass an Unbewusstsein der verantwortlichen Institutionen zu den Risiken, die auf die Schweizer Gesellschaft zukommen. Langzeitrisiken dieser Art gehören nicht in die Hand von privatrechtlich organisierter Gesellschaften. Eine Zustandsanalyse der Risiken aus dem Lagerbetrieb der atomaren Abfälle ist als Aufgabe mit höchster Priorität zu betrachten. Die entsprechenden Massnahmenprogramme für die Langzeitzwischenlagerung müssen mit hoher Dringlichkeit umgesetzt werden.
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