Ohne wirkliche Aufsicht in die Entsorgung
Sachplan in Schieflage
Auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird, was hinter vorgehaltener Hand alle wissen und sagen (siehe auch Blog-Beitrag vom 21. Mai 2017): Die Entsorgungsorganisation Nagra ist in Panne; und mit ihr das Entsorgungsprogramm der Schweiz. Wir sind zurück in den späten 1970 und frühen 1980er Jahren, als Anträge für geologische Tiefbohrungen eingereicht wurden, bevor ein geordnetes Untersuchungsprogramm des tiefen geologischen Untergrundes und die hierzu notwendige Seismik vorlagen. Unter dem Druck der Geologen der damaligen Zeit verlangte die Aufsicht entsprechende Nachbesserungen von der Nagra. Aber das Untersuchungsprogramm als Ganzes wurde nicht überprüft. Die Fortsetzung kennen wir: Zwei Bohrungen stiessen in den Permokarbon-Trog anstatt in Granite vor, andere erschlossen geklüftete Gesteinsformationen, etc. Das Kristallinprogramm der Nagra war am Ende, auch wenn es noch ein Jahrzehnt dauern sollte, bis die Genossenschaft dies eingestand.
Nun sind wir wieder an einem ähnlichen Punkt angelangt: Bohrungen sollen dem Entsorgungsprogramm weiter helfen. Die Gesuche sind eingereicht, bevor die Ergebnisse der Seismik vollständig ausgewertet sind.[1] Das Untersuchungsprogramm „Sachplanetappe 3“ setzt sich über elementare Regeln geordneter Untersuchungsabläufe hinweg.[2] Nagra und Behörden stellen sich seit Jahren gegenüber der von vielen Seiten geforderten Festlegung von Ausschlusskriterien taub. Das Untersuchungsprogramm des Tiefuntergrundes ist nicht auf die geologischen Schwachstellen der verschiedenen Untersuchungsgebiete ausgelegt. So ist es offensichtlich, dass sich einmal mehr Planungsfehler wiederholen. Einmal mehr weicht die Nagra möglichen Problemen im Permo-Karbon-Trog aus, indem nicht, zu wenig tief oder an ungeeigneter Stelle gebohrt werden soll. Damit soll das Risiko von negativen Überraschungen bezüglich der Entdeckung von nutzbaren Rohstoffen möglichst klein gehalten werden. Drei Standorte sind zu untersuchen, aber Bohrgesuche wurden erst für zwei Regionen eingereicht. Im Sommer 2017 sollen die Bohrgesuche für „Nördlich Lägern“ folgen. Die Konsequenzen einer solchermassen verhandelten Positivplanung sind voraussehbar: Es wird zu weiteren Zeitverzögerungen um viele Jahre kommen. Vor allem aber: Der Sachplan könnte in die Wand gefahren werden.
Und die Reaktionen auf diese Herausforderungen? Die Aufsicht greift nicht durch und pfeift die Nagra nicht zurück.[3] Unterdessen drückt die Vorsteherin des zuständigen Departements auf das Gaspedal und setzt das zuständige Bundesamt BFE auf die verschiedenen Akteure an, damit nicht Widerstand gegen das unsinnige Ansinnen der NAGRA geleistet werde. Man glaubt sich im falschen Film . . .
Und weshalb dieses verfahrene Verfahren? Wir haben bereits darauf hingewiesen:
- Die 45-jährige Entsorgergenossenschaft ist seit Jahrzehnten nur darauf aus, im Auftrag ihrer Genossenschafter die Rahmenbewilligung für End- und Tiefenlager zu erbringen, damit die Option Kernenergie offen bliebt. Die Realisierung von Tiefenlagern in der Schweiz – insbesondere jenes für hochaktive Abfälle – wird nicht ernsthaft ins Auge gefasst.
- Das zuständige Departement, bzw. das zeichnende Bundesamt für Energie (BFE) führt den Prozess nicht, sondern erleidet ihn. Die Entscheide fallen nicht in Bern, sondern in Wettingen bzw. in den Zentralen der Stromkonzerne.
- Und schliesslich als dritter Grund: Das Verfahren läuft ohne effektive Aufsicht ab.
Wir haben in den letzten Jahren in verschiedenen Beiträgen auf die Probleme der Aufsicht hingewiesen[4] und werden die Befunde im vorliegenden Beitrag vertiefen.
Gesetzliches Regelwerk: Aufgaben des ENSI
Zunächst sollen die Aufgaben der Aufsicht im gesetzlichen Regelwerk nochmals kurz erläutert werden (Regelwerk nukleare Entsorgung: siehe Kästchen). Wie das aus dem Kernenergiegesetz (KEG) und der Kernenergieverordnung (KEV) bestehende Regelwerk zeigt, obliegen dem ENSI im Wesentlichen fünf Funktionen:
- Aufsichtsbehörde: Art. 6 KEV bestimmt das ENSI als Aufsichtsbehörde bezüglich der nuklearen Sicherheit und Sicherung. Alle anderen Aufgaben werden dem Bundesamt (nach heutiger Praxis dem BFE) übertragen
2.-5. Tätigkeiten: Das ENSI
- nimmt Gesuche und Berichte der Antragsteller entgegen (z.B. KEV Art 21, 27, 48, 73);
- nimmt Meldungen von Anlagebetreibern entgegen (z.B. KEV Art. 21, 38, 39)
- regelt Sachfragen in Richtlinien (z.B. KEV Art. 10, 11, 12, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 33, 34, 34a, 35, 37, 38, 40, 41, 53, 54)
- nimmt Informationsaufgaben wahr (z.B. KEV Art 76)
Die Formulierung von Zielvorgaben, die Setzung strategischer Prioritäten, die Überprüfung von Programmen oder die Kontrolle von Projektplanungen gehören – mit einer Ausnahme – nicht zum Pflichtenheft des ENSI. Es sind alles Führungsaufgaben, welche zu einem Grossprojekt wie dem der nuklearen Entsorgung gehören. Allein schon diese Aufstellung und Verteilung der gesetzlich festgelegten Aufgaben zeigt, wer tatsächlich die Entscheide trifft. Das obige Pflichtenheft weist dem ENSI eine grundsätzlich schwache Stellung zu.
Ein Artikel in der Kernenergieverordnung lässt allerdings Spielraum: Art. 52 KEV regelt den Umgang der Behörden mit dem Entsorgungsprogramm, das ja als planerische Grundlage des Entsorgungsprojektes gelten kann. Einmal mehr sind es die Abfallverursacher, die für Planung und Ausarbeitung des Programms zuständig sind. Seitens der Aufgaben der Behörden kann man Artikel 52.3 so interpretieren, dass das ENSI und das BFE für die Überprüfung und für die Überwachung der Einhaltung des Programms, inklusive der Finanzplanung und der Projektplanung zuständig sind. Nach dieser Leseart hätten die Behörden über diesen Hebel die Möglichkeit, die Programme der Entsorger grundlegend zu beeinflussen.
Nur eben: So wird der Artikel offensichtlich nicht interpretiert! Und dies im stillschweigenden Einverständnis zwischen dem Departement, den Kantonen und der Stromwirtschaft:
- Weder überwacht das ENSI die Projektplanung, die Jahresprogramme und das hierfür vorgesehene Jahresbudget der Nagra, noch die Durchführung seismischer Kampagnen und Sondierbohrungen. Das Ensi beschränkt sich weitgehend auf die Prüfung von Gesuchsunterlagen (Papierkrieg) und gibt entsprechende Freigaben.
- Noch überwacht das BFE die Prozessabwicklung und die Zeitpläne, namentlich im Zusammenhang mit der Standortwahl im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager. Vielmehr verhält sich das BFE als verlängerter Arm der Nagra, wie auch aus unserem Beitrag vom 15. Juni 2017 ersichtlich ist. Es hilft bei regionalen Informationsveranstaltungen als Organisator mit, übernimmt sodann die Zeitpläne der Nagra und informiert die Öffentlichkeit über die durch die Stromwirtschaft beschlossenen Verlängerungen des Zeitplans bis zur Eingabe des Rahmenbewilligungsgesuchs.
In diesem Punkt schimmert die starke Position der Elektizitätsgesellschaften und der dahinter stehenden Kantone durch: Verzögert sich der Bau der Tiefenlager, so verzögert sich auch deren effektive Finanzierung. Und so schieben alle die schwer zu erfüllende Verpflichtung zur Entsorgung vor sich her und weiter hinaus auf die kommenden Generationen! Diese werden dann die effektiven Kosten berappen müssen.
Wo der Wurm oder die Würmer liegen
Gerade diesen Spielraum könnte die Aufsicht nützen, um solche Prozesse zu klären und deren Umsetzung zu fördern. Aber es gibt verschiedene Hindernisse auf diesem Weg. Ein wichtiges Hindernis ist die schon erwähnte abwartende Haltung der Aufsichtsbehörde, welche sich davor scheut, in planerische Prozesse einzugreifen. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die laufenden Diskussionen um die Bohrungen, etwa um die Erkundung des Permo-Karbon-Trogs. Die Frage um Bohrungen in und durch den Permokarbontrog wäre vom Tisch, wenn die Aufsicht dieses Wissen als zwingend erforderlich für die Beurteilung bezeichnen würde, um die Frage der Nutzungskonflikte beurteilen zu können. Die Nagra käme gar nicht mehr darum herum, diese Bohrungen zu planen und auszuführen. Mit der zögerlichen Haltung der Aufsicht aber verlängert sich die Diskussion unnötig. Gemacht werden müssen diese Bohrungen nämlich in jedem Fall.
Ein anderes Hindernis ist die Kompetenz der Aufsicht. Niemand stellt die grundlegend gute universitäre Ausbildung des Aufsichtspersonals in Frage. Doch reicht dieses Wissen und die durch die Aufsichtstätigkeit erworbene Erfahrung aus, die Aufsichtstätigkeit über ein dermassen komplexes Verfahren sicherzustellen? Naturgemäss ist die Aufsicht vom Wissen und von den Ressourcen her gesehen gegenüber den Projektanten und den ausführenden Institutionen immer im Nachteil. Dies wird etwa am folgenden Beispiel deutlich: Artikel 54 der Kernenergieverordnung hält z.B. fest, dass das ENSI beauftragt wird, detaillierte Anforderungen an die Konditionierung und an die Gesuchsunterlagen in Richtlinien zu regeln. Aber wie will es dieser Anforderung nachkommen, wenn es keine Erfahrung in der Planung und im Betrieb von Konditionierungsanlagen ausweisen kann? Die Aufsicht betreibt ja keine Konditionierungsanlagen. Also wird sie sich damit behelfen, die Wissensdefizite anderweitig zu kompensieren, etwa durch die Auswertung der technischen Dokumentationen der Betreiber, durch die Einbindung von Fachwissen ausländischer Behörden oder durch den Beizug von externer Expertise. Aber allem guten Willen zum Trotz: eine mehr oder weniger grosse Abhängigkeit der Aufsicht vom Wissen des Betreibers bleibt bestehen. Die dadurch bedingte Asymmetrie zwischen Aufsicht und Betreiber in technischen und praxisbezogenen Wissensbereichen ist einer Interessen unabhängigen und wissenschaftlichen Prinzipien folgenden Begutachtung nicht förderlich. Wissensabhängigkeit ist keine Grundlage, auf der eine qualitativ hochstehende Aufsicht beruhen kann.
Die Aufsicht muss also nach anderen Wegen suchen, wie sie dieser Asymmetrie begegnen will, etwa über die bereits erwähnte grundlegend andere Positionierung in der Prozessführung, insbesondere über die Wahrnehmung einer anderen Rolle (Prinzip: aktiv statt reaktiv). Dies bedingt letztendlich, dass eine weitblickende strategische Planung entwickelt und im Prozess installiert wird. Weitsichtiges strategisches Denken gehört zur grundlegenden Aufgabe einer Behörde. Die Aufsicht darf sich der Übernahme von Verantwortung für Entscheide in diesem Planungsprozess nicht entziehen, was im Gegensatz zur heute praktizierten Politik steht. Aber nur über eine solche grundlegende Korrektur und Neuausrichtung ihres Pflichtenhefts kann die Aufsicht als Repräsentant öffentlicher Interessen Einfluss auf die Planungsqualität der Partikulär-Interessen der Industrie gewinnen.
Wie soll es weiter gehn mit dem ENSI und der Aufsicht über die nukleare Entsorgung?
Zunächst ist zu klären, was die Kernenergieverordnung (KVE) mit ihrem Artikel 52.3 das ENSI ursprünglich anstrebte:
Erste Leseart: Art 52.3 kann tatsächlich so verstanden werden, dass der Gesetzgeber eine starke Aufsicht will, welche in den Planungsprozess eingreifen kann. Dies gäbe ihr die Möglichkeit über diesen Hebel die Planungsfehler der Nagra zu korrigieren. Akzeptiert man diese Interpretation, so nimmt das ENSI seine gesetzliche Aufgabe offensichtlich nicht wahr, im schweigenden Einverständnis mit der Elektrowirtschaft und ihrer Nagra, dem ENSI-Rat, den Kantonen und dem Bundesrat.
Zweite Leseart: Der Gesetzesartikel wird so verstanden, dass die Aufsicht die Entwürfe des Generalplaners der Industrie (der Nagra) gerade nur „reviewt“ und ihm dann grünes Licht gibt. Ein wirklicher Eingriff in die Planungshoheit der Nagra wäre dabei nicht beabsichtigt.
Wie dem auch sei: Die heutigen gesetzlichen Regelungen genügen nicht, um eine wirkliche Kontrolle des Entsorgungsprogramms sicherzustellen. Das Parlament muss nachbessern. Dem Staat als Vertreter öffentlicher Interessen muss in einem Feld, das derart einschneidende und langfristige Konsequenzen in der Zukunft mit sich bringen kann, mehr Verantwortung zukommen, als dies der Delegierte für Atomfragen des Bundes, Otto Zipfel, 1957 skizzierte (siehe unser Blog-Beitrag vom 5. Juni 2017). Das langfristige Denken im Interesse der Bevölkerung und künftiger Generationen muss zur Pflicht des Staates werden. Damit einher geht auch die Übernahme von Verantwortung. Und damit einher geht auch eine tiefgreifende Reform des ENSI in diese Richtung – gerade in einer Zeit, wo die verantwortliche Kernenergieindustrie mit dem wirtschaftlichen Überleben kämpft.
Der Staat muss also Programme mit dieser Langzeitdimension führen, damit diese nicht wieder dort enden, wo ein Deponiedesaster nach dem anderen bereits geendet hat: Nämlich in der Entstehung von grossflächigen Kontaminations- oder Opferzonen, in deren Sanierung oder in deren Überwachung. Zu einer solchermassen neuen Funktionssicht gehört nicht nur die Sicherstellung von hinreichenden Wissens- und Personalressourcen. Auch das Vier-Augenprinzip einer Kontrolle muss sichergestellt werden können. Unser nächster Beitrag wird sich dieser Frage zuwenden.
Kästchen: Aufgaben des Nuklearinspektorats ENSI im Bereich der nuklearen Entsorgung
Gemäss ENSI-Gesetz obliegen der Sicherheitsanstalt folgende Aufgaben[5]:
„Art. 2 Aufgaben 1 Das ENSI erfüllt die Aufgaben, die ihm gemäss der Kernenergiegesetzgebung, der Strahlenschutzgesetzgebung, der Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetzgebung und den Vorschriften betreffend die Beförderung von gefährlichen Gütern übertragen sind. 2 Es wirkt bei der Vorbereitung von Erlassen in den Bereichen nach Absatz 1 mit und vertritt die Schweiz in internationalen Gremien. 3 Es kann Projekte der nuklearen Sicherheitsforschung unterstützen. 4 Es kann für einzelne Aufgaben Dritte beiziehen.“
Bezüglich Punkt 1 „Aufgaben die ihm gemäss der Energiegesetzgebung übertragen sind“ hält das Kernenergiegesetz fest[6]:
„Art. 32 Entsorgungsprogramm 1 Die Entsorgungspflichtigen erstellen ein Entsorgungsprogramm. Dieses enthält auch einen Finanzplan bis zur Ausserbetriebnahme der Kernanlagen. Der Bundesrat legt die Frist fest, innert der das Programm zu erstellen ist. 2 Die vom Bundesrat bezeichnete Behörde überprüft das Programm. Das Departement unterbreitet es dem Bundesrat zur Genehmigung. 3 Die vom Bundesrat bezeichnete Behörde überwacht die Einhaltung des Programms. 4 Die Entsorgungspflichtigen müssen das Programm periodisch an veränderte Verhältnisse anpassen. 5 Der Bundesrat erstattet der Bundesversammlung regelmässig Bericht über das Programm.“
Mit dieser „Behörde“ ist des ENSI gemeint. Dieselbe Behörde beurteilt Bewilligungsunterlagen (§ 36, 40, 43) und erteilt Freigaben (§ 36). Die Kernenergieverordnung präzisiert hierzu: „ Art. 61 Aufsichtsbehörden Aufsichtsbehörden sind: a. in Bezug auf nukleare Sicherheit und Sicherung das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI); b. das Bundesamt für die übrigen Bereiche beim Vollzug des KEG.“ „ Art. 52 Entsorgungsprogramm 1 Die Entsorgungspflichtigen haben im Entsorgungsprogramm Angaben zu machen über: a. Herkunft, Art und Menge der radioaktiven Abfälle; b. die benötigten geologischen Tiefenlager einschliesslich ihres Auslegungskonzepts; c. die Zuteilung der Abfälle zu den geologischen Tiefenlagern; d. den Realisierungsplan für die Erstellung der geologischen Tiefenlager; e. die Dauer und die benötigte Kapazität der zentralen und der dezentralen Zwischenlagerung; f. den Finanzplan für die Entsorgungsarbeiten bis zur Ausserbetriebnahme der Kernanlagen, mit Angaben über: . . . . 2 Die Entsorgungspflichtigen haben das Programm alle fünf Jahre anzupassen. 3 Zuständig für die Überprüfung und für die Überwachung der Einhaltung des Programms sind das ENSI und das Bundesamt.“ „ Art. 73 Stellungnahmen des ENSI Das ENSI nimmt Stellung zu eingereichten Gesuchen um Erteilung von Bewilligungen und Genehmigung von Projekten nach den Artikeln 49-63 KEG.“
|
Kommentar verfassen