Vier-Augen-Prinzip: Kommission nukleare Sicherheit (KNS) und Beirat
Wie wir in den letzten Beiträgen gezeigt haben, baut das Entsorgungsprogramm der Schweiz auf dem Prinzip der Aufgaben- und Gewaltentrennung auf:
- Auf der einen Seite stehen die Betreiber von Anlagen als sogenannte Entsorgungspflichtige,
- auf der andern Seite die Bewilligungs- und Aufsichtsbehörden (oder Sicherheitsbehörden) sowie weitere Institutionen, die den Prozess begleiten: sie bilden den Pool der Regulatoren.
Ein Investor und Anlagenbetreiber vertritt und verteidigt seine Interessen. Er wird naturgemäss versuchen, Einfluss auf die Entscheide der Behörden zu gewinnen, welche Macht und Entscheidungsfreiraum des Entsorgungspflichtigen schwächen oder einschränken können. Der Entsorgungspflichtige wird in unserem System deshalb dort ansetzen, wo Spielregeln verhandelt und beschlossen werden: auf der politischen Ebene – namentlich im Parlament. Also wird er über seine Interessensvertreter Einfluss nehmen auf die Regelsetzung. Mit klassischem Lobbyismus wird er alles daran setzen, den Einfluss der Behörden zu schwächen – so weit so gut. . .
Sicherheits- und Bewilligungsbehörden sind Vertreter des Staates – der „Oeffentlichkeit“ oder „Bevölkerung“. Sie – die Behörden – werden durch Steuergelder und Gebühren finanziert. Als Vertreter der Oeffentlichkeit ist es ihre Pflicht, deren Interessen wahrzunehmen, d.h. die Bevölkerung vor schädlichen Einflüssen aus den Anlagen der Betreibe zu schützenr. Diese wichtige Aufgabe setzt hohe Fachkompetenz, Unabhängigkeit und Transparenz seitens der Behörden voraus.
Sicherheitsrelevante Entscheide müssen robust sein. Sicherheits- und Bewilligungsbehörden dürfen sich in ihren Entscheidungen keine Fehler leisten. Daher hat sich in der Nukleartechnologie das 4-Augen-Prinzip als wesentliches Element verankert: Es besagt, dass Entscheide einer ersten Instanz von einer unabhängigen zweiten Instanz nochmals überprüft werden müssen.
Nun – im schweizerischen Atom- bzw. Entsorgungsprogramm ist dies nicht zwingend der Fall. Die Aufsichtsbehörde zeigte in der Vergangenheit nie ein besonderes Interesse daran, von einer unabhängigen zweiten Instanz kontrolliert zu werden.
Von EKRA und KSA zur KNS
Zur Geschichte: Die Kommission „Entsorgungskonzepte radioaktive Abfälle“ (EKRA) schuf ums Jahr 2000 die Leitplanken der Gesetzgebung für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Dem Präsidenten der EKRA-Kommission wurde danach noch das Präsidium von zwei weiteren wichtigen Fachkommissionen übertragen. Eine davon war die „Eidgenössische Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen“ KSA. In ihrer Wirkungszeit 2002 – 2007 erwies sich die KSA als kompetent und interessenunabhängig – als Kommission, die ihre technische Expertenaufgabe äusserst ernst nahm. Die Konflikte mit der damaligen Aufsicht – der „Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen“ (HSK) – waren jedoch dauerhafter Natur. Deshalb sollte die KSA auf Ende ihrer Nominationsperiode (2004-2007) abgeschafft werden. Im Parlament fand sich aber eine Mehrheit, die einer verkleinerten „Kommission für die nukleare Sicherheit“ (KNS) zustimmte. Diese nahm am 1. Januar 2008 formell ihre Tätigkeit auf. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war, sich ein Pflichtenheft zu schreiben.[1] Das Vier-Augen-Prinzip wurde darin nicht explizit festgehalten, aber auch nicht ausgeschlossen.
Dennoch nahm die KNS – oder zumindest einzelne ihrer Mitglieder (darunter einer der Blog-Autoren) – die Aufgaben, die einem Vier-Augen-Prinzip entsprechen, wörtlich und ernst. Das Vier-Augen-Prinzip besagt ja auch: Wichtige Entscheidungen dürfen nicht einer einzigen Institution überlassen werden. So dient dieses Prinzip der Qualitätsverbesserung von Entscheidungen.
In ihren ersten Amtsjahren war die KNS aktiv und erarbeitete zahlreiche Stellungnahmen, die den Interessen der Stromwirtschaft entgegenstanden – vor allem im Bereich der nuklearen Entsorgung.[2]
Der Beirat kommt ins Spiel und die IAEA hebelt das Vier-Augen-Prinzip aus
Im Mai 2009 setzte der Bundesrat den „Beirat Entsorgung“ ein. Seine Aufgabe: Der Beirat sollte das Auswahlverfahren für geologische Tiefenlager zur Entsorgung radioaktiver Abfälle als unabhängiges Gremium begleiten. In dieser Funktion berät er das für Kernenergie zuständige Departement für Umwelt, Verkehr und Kommunikation (Uvek) bei der Durchführung des Auswahlverfahrens für geologische Tiefenlager. Sein Ziel: Er soll Konflikte und Risiken frühzeitig erkennen und Lösungsvorschläge erarbeiten, ferner den Dialog unter den Akteuren fördern und die Öffentlichkeitsarbeit des Bundes begleiten.
Die Schweizer Atomindustrie liess ihre Kernkraftwerks-Erneuerungsprojekte fallen. Grund dafür waren die Finanzkrise von 2008, die nachfolgende De-Industrialisierung Europas sowie die Katastrophe von Fukushima 2011. Zudem bedrohte vor allem das zähe Fortschreiten des Sachplans geologische Tiefenlager die Interessen der Stromwirtschaft. Das Ziel, die Rahmenbewilligung für geologische Tiefenlagerung bis 2018 zu erreichen – was gemäss Sachplankonzept vom 2. April 2008 beabsichtigt war – wurde zunehmend unrealistisch.
Es folgten zahlreiche Empfehlungen und Warnungen der KNS an die Adresse des Bundesamts für Energie (BFE), den Planungsprozess zu professionalisieren und diesem realistische Zeitpläne zu unterlegen. Schliesslich publizierte die KNS als eigene Stellungnahme zum Entsorgungsprogramm 2008 der Nagra auch einen Bericht über die Erfahrungswerte bei Planung und Umsetzung des Sachplans und des Realisierungsplans geologische Tiefenlager.[3] Dieser Bericht wurde – ohne vorgängige Information ans BFE – an einer Sitzung im Frühherbst 2011 mit dem Beirat nukleare Entsorgung thematisiert. Der Bericht zeigte u.a. schonungslos die völlig unrealistische Zeitplanung von Bund und Nagra auf.
Offenbar löste dieser Bericht grossen Unmut bei den Bundesbehörden und der Stromwirtschaft aus. Ab Herbst 2011 begannen sich dunkle Wolken über die interessenunabhängige Position der KNS aufzutürmen. Zwischen dem 21. November und dem 2. Dezember 2011 stand auch eine Mission der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) an, welche die Arbeit des ENSI überprüfen sollte.[4] Die KNS wurde als Handlungsträgerin ebenfalls in die Befragung integriert und legte der IRRS-Mission (Integrated Regulatory Review Service der IAEA) am 24. November 2011 ihre Aufgaben und ihre Tätigkeiten dar. Der Schlussbericht dieser IRRS-Mission wurde der KNS nie zur Überprüfung der Korrektheit der Aussagen (factual correctness) vorgelegt. Er enthielt falsche Aussagen, etwa bezüglich Interventionen der KNS beim Parlament. Diese Aussagen stammten aus dritter Hand und waren von der IRRS-Mission ohne Überprüfung verwendet worden. Schlimmer als dieses völlig unübliche Vorgehen – man begründete es im Nachgang mit Zeitdruck, der bei Ausarbeitung des IRRS-Berichts geherrscht habe – war etwas anderes:
Die IAEA-Mission weichte die unabhängige Stellung der KNS als nachgelagerte Kontrollinstanz gemäss Vier-Augen-Prinzip auf. Dem ENSI sollte die alleinige Autorität und Entscheidungsbefugnis in Sachen Aufsicht zukommen!
Dies ist der Befund des IAEA-Berichts aus dem Jahre 2011. Weder die KNS noch eine andere Behörde sollte in Zukunft die Möglichkeit haben, sich in Entscheide des Ensi einzumischen.[5]
Damit wurde eines der zentralen Anliegen des Schweizer Parlaments – die Sicherstellung des Vier-Augen-Prinzips durch die KNS – aufgehoben.[6] Keine Institution protestierte gegen diese Demontage. Das Parlament schritt nicht ein. Die KNS selbst schwieg. Das ENSI hatte sich eine lästige Kontrolle vom Hals geschafft. Die IAEA bekräftigte diese Haltung in der Folge-Mission 2015, indem sie noch mehr Kompetenzen für das ENSI verlangte.[7] Die nach den beschriebenen Vorkommnissen zwischen Ensi und KNS ausgehandelten Regeln für den Umgang mit Empfehlungen änderten nichts mehr an der massiv verstärkten Position des Ensi:[8] Das Vier-Augen-Prinzip war aus ENSI-Sicht endgültig vom Tisch!
Im selben Zeitraum ordnete der Bund auch die Finanzen der Kommission neu. Anfang 2012 wurden den KNS-Mitgliedern Beratungstätigkeiten im Nuklearbereich ausserhalb der Kommission de facto untersagt. Gleichzeitig wurde es der Kommission auch verboten, Aufträge an ihre Mitglieder zu erteilen. Somit wurden der Kommission Hindernisse jeglicher Art in den Weg gelegt, so dass ein interessenunabhängiges Wirken unmöglich wurde. Denn ohne hinreichende Ressourcen und laufende Weiterbildung kann eine Kommission ihre Aufgaben nicht effizient wahrnehmen.
Die Konsequenzen zeigten sich auffallend rasch. Nachdem einer der Blog-Autoren unter Protest aus der KNS zurückgetreten war (aufgrund eines Zusammenspannens und Absprachen zwischen einem Beaufsichtigten und den Behörden), hatte der Bund erreicht, was auch seitens der Stromwirtschaft gewünscht war: Die wichtigste Funktion der KNS – das Vier-Augen-Prinzip – war nun auch aus Sicht der Bundesbehörden eliminiert.
Der Beirat nukleare Entsorgung – das begleitende Gremium[9] – schwieg zu dieser Entwicklung.
Die Kantone – die Arbeitsgruppe Sicherheit und ihre Experten (AG SIKA / KES) – haben inzwischen teilweise die Rolle des Hinterfragens übernommen. Sie sorgten u.a. dafür, dass die Einengung der Standorte durch die Nagra nicht dem Szenario der Aktennotiz An11-711 entsprach (Weinland und Bözberg).
Das zähe Fortschreiten des Sachplanprogramms mit all seinen Misserfolgen und den nowendigen, viel Zeit fressenden Korrekturen – ebenso wie die mangelhafte Altersüberwachung der Werke durch unabhängige Strukturen – sind für die beiden Blog-Autoren Grund genug, zwingend und dringlich zu fordern, das Vier-Augen-Prinzip in der Aufsicht wieder einzuführen. Nur so kann die notwendige Qualitätssicherung der Programme und Entscheide gewährleistet werden. Ebenso muss die KNS massiv aufgewertet und ressourcenmässig verstärkt werden.
Der IAEA als Kernenergie fördernde internationale Organisation fehlt die Glaubwürdigkeit, um derart weitreichende strukturelle Empfehlungen zuhanden des Bundes zu formulieren – insbesondere wenn man die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima bedenkt. Denn in beiden Fällen nahm die IAEA ihre Rolle als vorausschauende und vorsorgende Institution nicht im erforderlichen Masse wahr. In einer Zeit, da sich ein grundlegender Strukturwandel der Strom- und Nuklearwirtschaft anbahnt, ist es im Interesse aller Beteiligten in diesem Land, gut durchdachte Entscheidungen aller verantwortlichen Institutionen sicherzustellen. In diesem Sinne ist das Vier-Augen-Prinzip ein Muss im Nuklearbereich und sollte baldmöglichst durch das Parlament bekräftigt werden.
Stefan Füglister
Man kann die Auseinandersetzung auf eine relativ simple Grundthese reduzieren: Die Atomkraft wurde in der Schweiz auf undemokratische Weise durchgesetzt – ohne Anhörung, Mitsprache, geschweige denn Mitbestimmung der Bevölkerung. Seit Jahrzehnten unterstützten (oder stützten zumindest) die bürgerlichen Parteien die Interessenspolitik der Schweizer Maschinenindustrie und der Stromer. Und das ist noch heute so. Das Resultat ist eine sehr kleine, pronukleare Fachfamilie. Und eine Administration, die durchsetzt ist mit Vertretern der alten Verwaltungskultur, welche das Atomgesetz als Förderungsgesetz handhabten. Dieser Sachverhalt hat sich in das Gedächtnis einer Nation eingeprägt.
Dem Misstrauen ist auf die Kürze nicht mit formalen Korrekturen und veränderten Prozessabläufen beizukommen. Erst das reale Ende der Atomenergienutzung in der Schweiz und ein radikaler personeller Schnitt in der Administration wird es erlauben unabhängig zu forschen und zu handeln.
Stefan Füglister