Eine Kurzgeschichte der Nuklearindustrie
Friedrich Dürrenmatt beschrieb in seinem Turmbau eine Bibliothek, in der das Erlebte eines jeden Menschen und sämtlicher Gesellschaften die je diesen Planet bewohnt hatten, minutiös aufgezeichnet und aufbewahrt worden war. Die Fülle an Information war natürlich erdrückend, denn sie umfasste jede Bewegung, Regung und Empfindung, die sich seit Menschengedenken im menschlichen Soziotop ereignet hatte. Im Ergebnis entstand ein totales, aber auch total unhandhabbares Archiv, das kaum etwas von der Entwicklung der Menschheit erzählt und preisgegeben hätte. Eine gewaltige Masse an unnützer Information.
Auch die sehr bescheidene kleine Geschichte der Anfänge der nuklearen Entsorgung der Schweiz kann da mit einer statthaften Informationsfülle aufwarten. In einigen Jahrzehnten sammelt sich viel und selbst einiges an Interessantem in menschlichen wie sachlichen Belangen an. Wie in der Dürrenmattschen Universalbibliothek des Seins verschwimmen die grossen und substanziellen Linien des Geschehens aber meistens in der Detailfülle der Ereignisse. Eine Geschichte des „Kleingedruckten“ mag, so interessant dies auch für Spezialisten sein mag, die wesentlichen Erkenntnisse des Geschehens nicht heraus zu filtern. Die wesentlichen Züge und Linien eines Geschehens lassen sich nämlich nur aus genügend grosser Distanz erkennen.
In unserem kleinen Rückblick geht es deshalb nicht darum, alle Stationen und Rückschläge, alle Debatten und Vereinbarungen, die Wissenschaft mit ihren Verdiensten und Rückschlägen oder die strukturellen Rahmenbedingungen und Prozesse in dieser langen Ereigniskette der Entsorgung radioaktiver Abfälle in der Schweiz zu würdigen. Hier sollen nur wenige und wirklich zentrale Stationen oder Fixpunkte des Geschehens erscheinen, damit die Umrisse dessen, was sich abspielte, besser sichtbar werden.
Die militärischen Anwendungen der Kernspaltung wurden im Verlaufe des 2. Weltkrieges und in den unmittelbar darauf folgenden Jahren entwickelt. Dies betrifft sowohl die Kernwaffen, als auch Kernreaktoren zum Antrieb von Unterseebooten und Überwasserschiffen. Die militärische Reaktortechnologie wurde in der Folge auf den zivilen Bereich übertragen und angepasst, wobei sich die amerikanische Industrie mit ihren mit Uranbrennstoff betriebenen und mit Wasser gekühlten Reaktoren eine dominante Position sicherte. Trotzdem ging im Jahre 1954 als erstes der zivile russische Reaktor von Obninsk in Betrieb. Dies war der Anfang der Nuklearindustrie.
Als Folge dieser Entwicklungen findet in den industrialisierten Länder seit den späten 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine heftige Debatte um die sogenannte „friedliche Nutzung der Kernkraft“ ab. Diese Debatte war vorerst eher theoretischer Art, mit den zwei internationalen Konferenzen „Atom für den Frieden“ von 1955 und 1958 in Genf. Sie spitzte sich aber im Jahr 1979 als Folge des Unfalls im Kernkraftwerk von Three Mile Island (TMI), wo sich eine teilweise Schmelze des Reaktorkerns ereignete, erheblich zu. In dieser Debatte wurde insbesondere in Frage gestellt, ob ein sicherer Betrieb der Kernreaktoren überhaupt garantiert werden kann. Die Sicherheitskonzepte, die Ausrüstung der Kernkraftwerke zur Bewältigung von Notfällen und die Überwachung der Werke wurden darauf wesentlich verstärkt. In den USA hatte der Unfall von TMI praktisch ein Moratorium in der Bewilligung neuer Anlagen zur Folge.
Die Reaktorexplosion von Tschernobyl im Jahre 1986 führte zu einer grossen Anzahl von Todesfällen und Verstrahlungen, insbesondere unter den sogenannten „Liquidatoren“ des Unfallreaktors, zwang tausende von Einwohnern zur Evakuierung und verursachte radioaktive Ausfälle über ausgedehnten Flächen Europas. Auch wenn diese Katastrophe im kollektiven Bewusstsein tiefe Spuren hinterliess, so waren die Konsequenzen für die Nuklearindustrie relativ beschränkt, handelte es sich doch in Tschernobyl „nur“ um einen mit Graphit moderierten Reaktor russischer Konzeption. Die Entwicklung des EPR (Europäischer Druckwasserreaktor), mit klassischer Reaktortechnologie und verstärkten Sicherheitsmassnahmen, kann als eine der Konsequenzen dieses Unfalls angesehen werden. Allerdings fällt die Bewertung dieser Reaktorlinie mittlerweile auch sehr ernüchternd aus.
Anders die Situation nach der Zerstörung von vier kommerziellen Reaktoren im japanischen Fukushima am 11. März 2011. Diese Reaktoren amerikanischer Konzeption erlitten bei einem schweren Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami Kernschmelzen. Die Bevölkerung wurde früh evakuiert, sodass nur wenige Menschenleben zu beklagen waren; grosse Landflächen wurden aber auch hier durch radioaktiven Ausfall unbewohnbar. Etwa 40 kommerzielle Kernreaktoren weltweit (von insgesamt etwa 440 Kernreaktoren) entsprechen weitgehend den in Japan zerstörten Reaktoren, und über hundert weitere sind ähnlicher Konzeption. Dieser Umstand führte weltweit zu einem Erwachen des Risikobewusstseins und zum Überdenken der Zukunftspolitik bezüglich der Verwendung der Kernkraft. So beschloss beispielsweise Deutschland die Ausserbetriebnahme der Kernkraftwerke aktiv voran zu treiben. Die Schweiz beschloss die Nicht-Erneuerung der bestehenden Werke. Dieser sogenannte „Atomausstieg“ – eigentlich ein Auslaufen einer unrentablen Produktionslinie – bedeutet aber bei weitem nicht das Ende der Sorgen um die nukleare Sicherheit, sondern ein Weiterleben mit bestehenden Risiken und die Verpflichtung, die Bevölkerung so gut wie irgend möglich vor diesen zu schützen, bzw. die Quellen der Risiken zu beseitigen. Dies betrifft den Endbetrieb der Anlagen, deren Rückbau und die dauernde Sicherung der radioaktiven Abfälle: Bei einer theoretischen Laufzeit von 50 Jahren rechnet die Nagra damit, dass aus den fünf in der Schweiz betriebenen Reaktoren etwa 7300 m3 hoch radioaktive Abfälle zu entsorgen sind. Dazu kommen 93’000 m3 schwach und mittel radioaktive Abfälle, davon 33’000 m3 aus Medizin, Industrie und Forschung.
Wie die Schweiz nuklear wurde
In der Schweiz (v.a. an der ETH und der Universität Basel) wurde die Atomforschung bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und während dem 2. Weltkrieg gefördert. Die Bombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki vom 6. und 9. August 1945 bedeuteten aber ein Erdbeben in dieser Forschungswelt. Peter Hug (1987) schreibt hierzu (S. 71): „ Schon wenige Tage nach den Atombombenabwürfen wurde in Bern die Aussicht auf die militärische Nutzung der Atomenergie konkretisiert. Den Anstoss dazu gaben zwei Briefe an den Vorsteher des Eidg. Militärdepartements (EMD), Bundesrat Karl Kobelt . . . Der erste stammte vom Chef Ausbildung der Armee, Oberstkorps-kommandant Hans Frick und datierte vom 15. August 1945, der zweite kam am 20. August aus der Feder von Otto Zipfel, dem Delegierten für Arbeitsbeschaffung und bereits verdientem Förderer der Atomtechnologie.“ Aus diesen Anstössen entstand (offiziell im Jahr 1946) die weitgehend durch das EMD dominierte „Studienkommission für Atomenergie“, dank der die Atomforschung aus dem freien zivilen Bereich in den geheimen militärischen Bereich überging; eine schweizerische Atombombe gab es trotzdem nie. Die militärische Option wurde aber erst in den 80-er Jahren begraben. Im Jahr 1953 konnte die Schweiz erstmals über Belgien und Grossbritanien eine „gewichtige“ Menge von 10 Tonnen Uranerz kaufen, und ohne Uran „läuft nichts“.
Zur frühen zivilen Entwicklung der Kernkraft wäre viel zu erzählen. Aber ernst wurde es erst in eben diesem Jahr 1953, als Walter Boveri die Gründung einer „Reaktor AG“ zur Entwicklung eines Reaktors ankündigte. Diese private Gesellschaft vereinigte Kapital aus Industrie, Elektrizitätswirtschaft, Banken, Versicherungen und Finanzgesellschaften; der Bund erteilte eine Subvention. Die Reaktor AG baute in Würenlingen den Forschungsreaktor „Diorit“, wurde aber durch Walter Boveri und Paul Scherrer mit dem Ankauf des amerikanischen „Saphir“ Forschungsreaktors in skurriler Weise überrundet. Auch der Einstieg in die kommerziell nutzbaren und genutzten Reaktoren erfolgte ungeordnet. Im Jahr 1960 bewilligte das Parlament einen Kredit von 50 Mio Franken zum Bau und Experimentalbetrieb von Leistungsversuchsreaktoren. Darauf gründete die Schweizerische Grossindustrie die „Nationale Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnologie“ (NGA) und machte sich an den Bau eines gasgekühlten Reaktors welcher mit metallischem Uran betrieben werden sollte. Dieser Reaktor wurde in Lucens in Felskavernen installiert. Er ging im Jahr 1968 in Betrieb und ans elektrische Netz und erlitt am 21. Januar 1969 eine teilweise Schmelze des Reaktorkerns. Die Felskavernen wurden darauf wieder zugemauert; damit endete die Geschichte der Entwicklung eines schweizerischen Reaktors.
Unterdessen hatten die Elektrizitätsgesellschaften bereits in den USA eingekauft: Im Jahr 1969 ging in Böznau das erste Kernkraftwerk mit einem Druckwasserreaktor von Westinghouse ans Netz; ein zweiter Reaktor desselben Typs folgte zwei Jahre später und das Kernkraftwerk von Mühleberg, mit einem Siedewasserreaktor von General Electric im Jahr 1972. Im Jahr 1969 begann die Projektierung des Kernkraftwerks von Gösgen, welches im Jahr 1979 ans Netz ging, gefolgt im Jahr 1984, 12 Jahre nach Projektbeginn, durch das Kernkraftwerk Leibstadt.
Bibliographie