Wissenschaftsgeschichte: Von nuklearer Entsorgung und Plattentektonik
Am Ende der 1960-er Jahre begannen in der Schweiz erste Anstrengungen, auf der Suche nach einem Lagerstandort für schwach radioaktive Abfälle. Eile herrschte keine, denn die Abfälle wurden vorderhand (ab 1969) in Versenkungsaktionen im Nordatlantik „entsorgt“. Im Jahr 1969 ging der Atomreaktor von Beznau 1 ans Netz.

Einer der Autoren dieses Beitrags war ab 1970 als Werkstudent mit der geologischen Aufnahme von Sondierbohrungen (Wandflue Leibstadt) und Stollen (Gipsbergwerk Felsenau) beschäftigt. Er war an der ETH Zürich in Ausbildung. Hier sprach man von alpinen Decken und Geosynklinalen (Abbildung 1), einem Begriff der die Ausdünnung und Verdickung der kontinentalen Erdkruste bei der Bildung von Meeresbecken und ihrer Inversion zu Orogenen (Gebirgsbildung) umschrieb. Alfred Wegener hatte zwar seit den 1920er Jahren die Kontinentalverschiebung postuliert, aber diese Theorie wurde in der offiziellen Geologie eher als Poesie, denn als Teil des Fachwissens unterrichtet. Die Schweizer Geologen hatten eben die „Fernschubhypothese“ von H. Laubscher (1961) verdaut, nach welcher die Sedimentdecke des Faltenjura aus den Alpen zusammengeschoben worden war, ohne das Mittelland und den unter diesem und dem Jura liegenden alten europäischen Socken mit zu verfalten.
Doch dann fassten klevere Geologen und Geophysiker die Beobachtungen in Ozeanen, an Kontinentalrändern und in aktiven Bergketten zu einer umfassenden Theorie zusammen, der heute allgemein anerkannten Theorie der Plattentektonik (Dewey & Bird 1970, Pitman & Talvany 1972, Le Pichon et al. 1973). Diese Theorie (und heutiges Paradigma, d.h. vorwiegende Schulmeinung) postuliert ein dynamisches Modell von Erdplatten mit kontinentaler und ozeanischer Lithosphäre. Beim Auseinanderdriften der Platten steigt an den ozeanischen Rücken Magma auf und bildet neue ozeanische Lithosphäre (solide Erdkruste und oberer Erdmantel). Treffen zwei Platten aufeinander, so sinkt eine der beiden unter die andere Platte ab (Subduktion). An der Naht zwischen den beiden bildet sich ein Orogen, also ein Faltengebirge. Dieses neue Paradigma erklärt die meisten an der Erdoberfläche und in Bohrungen beobachteten, oder durch geophysikalische Methoden gemessenen geologischen Erscheinungen (Abbildung 1). Die Bildung der Alpen, aber auch die Öffnung des Rheintalgrabens und die Verfaltung der Sedimentschichten unter dem Pariser Becken (Loup & Wildi 1994) erklären sich durch die Kollision zwischen der afrikanischen und der europäischen Platte.

Direkt aus den Erkenntnissen der Plattentektonik entstand der von den USA initierte Subseabed disposal program plan (Sandia Labs. 1980, Buser & Wildi 1981). Dieses Programm sah vor, radioaktive Abfälle im Zentrum der durch das Auseinanderdriften der Kontinente entstandenen Ozeanböden zu lagern, indem man die Abfallbehälter in die weichen Sedimente einsinken liess. Das Projekt war eine direkte Folge der neuen Lehrmeinung. Das Projekt hatte allerdings ein kurzes Leben, denn schon bald stiessen die Wissenschaftler auf Spuren welche besagten, dass die Klimawechsel in den vergangenen zwei Millionen Jahren mehrfach zu starken Schwankungen der Meeresströmungen geführt hatten und dadurch auch zur Abtragung solcher ozeanischer Sedimente. Es bestand also die Gefahr, dass einmal vergrabene Abfälle wieder an die Oberfläche gelangen. Mit der US-amerikanischen Gesetzgebung (Nuclear Waste Policy Act) von 1982 wurde das Sub-seabed disposal project eingestellt (Bala 2014).
Im Jahr 1979 wurde das „Projekt Gewähr“ zur Lagerung der radioaktiven Abfälle im tiefen kristallinen Sockel unter dem Schweizerischen Mittelland oder dem Jura lanciert. Wie oben im Zusammenhang mit der Fernschubhypothese dargestellt, wurde dieses sogenannte Grundgebirge als äusserst stabil und tektonisch ruhig angesehen, entstanden durch Gebirgsbildungen aus Geosynklinalen während der Periode des Paläozoïkums, v.a. vor etwa 470 bis 280 Millionen Jahren (z.B. Ziegler 1982). Doch auch dieses Bild sollte ins Wanken geraten. Spezialisten der alten Gebirge die Zentraleuropa aufbauen, hatten die Theorie der Plattentektonik rasch integriert und zeigten mit Hilfe unterschiedlicher Argumente, von der Verteilung von alten Gletscherablagerungen, über die Verteilung von fossilen Pflanzen und Anzeichen der Position der magnetischen Pole, dass der ganze alte Sockel Europas einem heterogenen Puzzle ehemaliger Kontinentalplatten und Ozeanböden entspricht, zusammengewürfelt im Verlaufe, und vor allem am Ende des Paläozoïkums (z.B. Fluck et al. 1980, Zonenshain et al. 1985, Matte 1991). Und so erklärt sich auch die Entstehung des stark verformten Permokarbontrogs unter dem östlichen Jura. Wiederum ging eine alte Lehrmeinung in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte ein.
Durch diese Entwicklung in der Kenntnis der Erdgeschichte Europas wird auch die Fernschubhypothese von 1961 wieder etwas relativiert, bzw. mit bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts erwogenen Elementen wieder angereichert. Dies betrifft den Einbezug des tiefen geologischen Untergrundes in die Jurafaltung (sog. Sockeltektonik). Diese Frage stellt sich seit geraumer Zeit jedem im Jura tätigen Geologen (z.B. Wildi 1975 für die Mettauer Störung; Wildi et al. 1991 für die Faille du Vuache, am Westende des Genfer Beckens). Dies wird nun durch die neuesten seismischen Untersuchungen im Rahmen des Entsorgungsprogramms bestätigt (z.B. Naef, H. & Madritsch, H. 2014).
Dieser kurze geschichtliche Abriss über die wechselnden Paradigmen in den Geowissenschaften könnte beliebig weiter geführt werden. Die Ausführungen zeigen aber bereits, dass Wissenschaftler im Verlaufe ihrer Berufslaufbahn nicht nur mit neuen wissenschaftlichen Resultaten, sondern auch mit neuen Grundtheorien konfrontiert sind. Diese ändern ihr wissenschaftliches Weltbild und können zu einer ganz neuen Betrachtungsweise ihnen längst bekannter Fakten und Daten führen. Im vorliegenden Fall entwickelte sich die Geologie seit Anfang der 1970-er Jahren bis heute, in ungeahnter Weise. Als wäre es eine neue Wissenschaft.
Was sich im vorliegenden Fall nicht grundsätzlich geändert hat, das ist die Problematik der Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Die Abfallmengen hochradioaktiver Abfälle sind wegen strategisch-politischen Entscheiden (keine Wiederaufarbeitung) sowie der Verlängerung der Laufzeiten allerdings angestiegen. Die Stahlgefässe in denen diese Abfälle verpackt werden sollen wurden vor 40 Jahren konzipiert. Auch die verwendeten Verfestigungstechniken organischer Stoffe und die daraus resultierende Gasproblematik ist noch dieselbe wie vor 40 Jahren. Einzig die geplante geologische Lagerformation migrierte hierzulande vom tiefen geologischen Sockel in den z.T. weniger tektonisch verformten und besser zu erkundigenden Opalinuston. Und die Erdkruste der Nordostschweiz wurde instabiler, zumindest in unserer Wahrnehmung.
Was wir daraus lernen können und müssen:
- Wissenschaftler müssen sich des ständigen, tiefen Wandels ihrer Wissenschaft bewusst sein.
- Sie müssen mit diesem leben und sich bei jedem Wandel fragen, was dies für die von ihnen behandelte Problematik bedeutet.
- Wissenschaftler müssen auch vorausschauen und sich fragen: Wohin könnte der Weg der Kenntnisse führen. Denn in geologischen Aspekten der Tiefenlagerung, ist in den kommenden Jahren viel Neues zu erwarten. Der tiefe geologische Untergrund ist ein noch sehr wenig bekanntes Feld. Und die Konzepte der Erschliessung des Untergrundes und der Lagerauslegung werden sich überhaupt erst entwickeln müssen.
- Wissenschaftler müssen deshalb nach robusten Lösungen suchen, diese ständig hinterfragen und bei Bedarf auch bereit sein, Korrekturen im Sinne der Sicherheit zu unternehmen. Im schlimmsten Fall kann dies der Neuanfang von Programmen bedeuten.
Darum sollte unsere Gesellschaft auch die Schaffung weiterer Sachzwänge mit Langzeitcharakter meiden. Seit mehr als 40 Jahren laufen die AKW auch in der Schweiz ohne atomares Klosett. Zeit also, die Grundfrage des Betriebs von Atomkraftwerken neu zu stellen und die Produktion von neuen Abfällen zu beenden!
Referenzen
Aubouin, J. 1965: Geosynclines, 335 p., 67 figs., Elsevier.
Bala, A. 2014: Sub-Seabed Burial of Nuclear Waste: If the Disposal Method Could Succeed Technically, Could it also Succeed Legally?, Boston College Environmental Affairs Law Review, Volume 41, Issue 2, Article 6.
Buser, M., Wildi., W. (1991) Wege aus der Entsorgungsfalle, Schweizerische Energie-Stiftung, SES-Report 12.
Dewey, J. F. & Bird, J. 1970: Mountain Belts and the New Global Tectonics. Journal of Geophysical Research. vol. 75, p. 2635 – 2647.
Fluck, P., Maass, R. & Von Raumer J.F. 1980: The Variscan units east and west oft he Rhine Graben, in Cogné, J. & Slansky, M. eds. Geology of Europe, Paris, Int. Geol. Congress, Colloque C6, 112 – 131.
Laubscher, H. 1961: Die Fernschubhypothese der Jurafaltung. Eclogae geol. Helv. 54, 221 – 281.
Le Pichon, X., Francheteau, J. & Bonnin, J. 1973: Plate Tectonics. Elsevier, 300 p.
Loup, B., Wildi, W. 1994: Subsidence analysis in the Paris Basin: a key to Northwest European intracontinental basins ? Basin Research, 6, p. 159-177.
Matte P. 1991: Tectonics and plate tectonics model for the variscan belt of Europe. Tectonophysics, 126, 329-374.
Naef, H. & Madritsch, H. 2014 : Tektonische Karte des Nordschweizer Permokarbontrogs. NAGRA, NAB-14-17, Wettingen.
Pitman, M. & Talwani, W.C. 1972: Sea-Floor Spreading in the North Atlantic. Geol. Soc. Am. Bull. 83: 619-646.
Wildi, W. 1975: Die Mettauer Ueberschiebung im Aargauischen Tafeljura (Nordschweiz). Eclogae geol. Helv. 68/3, 483-489.
Wildi, W., Blondel, T., Charollais, J., Jaquet, J.M. & Wernli, R. 1991: Tectonique en rampe latérale à la terminaison occidentale de la Haute-Chaîne du Jura. Eclogae geol. Helv. 84/1, 265-277.
Ziegler 1982: Geological Atlas of Western and Central Europe. Shell & Elsevier Amsterdam, etc.
P. Zonenshain, M.I. Kuzmin & M.V. Kononov 1985: Absolute reconstructions of the Paleozoic oceans, Earth Planet. Sci. Lett. 74 / 103 -116.
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