Dass die von der Nagra im Januar 2015 vorgenommenen Einengungsvorschläge an Überraschungslosigkeit kaum zu überbieten sind, darin sind sich fast alle Beobachter in der Entsorgungsszene einig. Die ausgewählten Regionen „Zürcher Weinland“ und „Bözberg“ entsprechen genau jenen Standortgebieten, die in der ominösen Aktennotiz AN 11-711 der Nagra vom November 2011 „obsiegen“. Trotzdem kann man sich fragen, warum die Nagra die Standortregion „Nördlich Lägern“ schon weg „engte“, obschon sie während Jahren bei jeder Gelegenheit versichert hatte, sie würde auch diese Region in die Etappe 3 weiterziehen. Auch in diesem Fall gibt die Aktennotiz AN11-711, die laut Nagra ausschliesslich zur Ermittlung der Kosten erarbeitet wurde, Antwort. Denn wenn sich die Kassen der Atomgesellschaften noch viel rascher leeren als bisher angenommen, muss auch die Nagra – flexibel wie sie immer ist – auf Teufel komm raus sparen. Und so überspringt man gerne die teuren und zeitaufwendigen Einengungsschritte und kommt gleich direkt zur Sache.
Dadurch wird das Einengungsverfahren zum Politikum, das die Kantone, insbesondere die beiden Hauptaktionäre der Axpo, die Kantone Zürich und Aargau, unter Zugzwang setzt. Denn die Kantone haben immer wieder verlangt, dass das Einengungsverfahren auf vergleichbaren und robusten Untersuchungen beruhen muss, also auf den Ergebnissen gleichwertiger Seismik- und Bohrkampagnen. So ist es nicht erstaunlich, dass die Kantone den Einengungsvorschlag der Nagra vom Januar 2015 hinter den Kulissen hinterfragen und die geologischen Untersuchungen wieder auf die drei Standorte für HAA ausgedehnt sehen möchten.
Daran hätte man freilich früher denken müssen. Das Konzept des Sachplans vom 2. April 2008 selber sieht nämlich derartiges nicht vor. Es hält lediglich fest, dass die geologischen Kenntnisse in Etappe 3 „falls nötig“ – d.h. falls Feldarbeiten dennoch notwendig würden – im Hinblick auf die Rahmenbewilligungs-Gesuche einen vertieften sicherheitstechnischen Vergleich ermöglichen sollten.[1]
Nichts weniger und nichts mehr also. Im Klartext: Nochmals Modell-Rechnungen und falls unbedingt erforderlich, weitere geologische Daten aus Bohrungen, mit der man die Modelle wieder füttern und daran weiter an der „Langzeit-Sicherheit“ „schräubeln“ kann. Bis der Standort endlich passt.
Dass ein solches Vorgehen jeglicher wissenschaftlichen Seriosität spottet, lässt sich auch aus dem Konzept des Sachplans und der im Anschluss an das Konzept publizierten offiziellen Stellungnahmen und Dokumente lesen. Denn, dass es in der Schweiz keinen geeigneten Standort geben soll, insbesondere für ein Endlager für HAA, daran zweifeln die offiziellen Stellen nicht im Mindesten. In den offiziellen Dokumenten findet sich kein einziges Szenario, bei dem der Sachplanprozess aufgrund der fehlenden Eignung des Untergrunds scheitern könnte. Ein wirklich Ergebnis offenes Verfahren ist gar nie angedacht worden. Was aber, wenn sich wirklich kein Standort eignet? Was sind die Konsequenzen, wenn das Inventar zu stark gast und die Idee der Entgasungsanlage sich als nicht realisierbar erweist? Wo sind Plan B und Plan C, insbesondere für den Fall, dass in der Schweiz ein Lager und in Europa ein Export der schweizerischen Abfälle nicht möglich sind? Was sind die Kostenfolgen solcher Szenarien auf den Stillegungs- und Entsorgungsfonds? usw.
Dennoch dürfen auch diese unbequemen bis erschreckenden Fragen nicht davor abhalten, den Standortwahlprozess wissenschaftlich sauber zu führen. Wir haben die Konsequenzen von unseriösen Standortwahlprogrammen in aller Deutlichkeit vor Augen, wenn wir an die Deponierung von konventionellen Abfällen denken – etwa an die Sondermülldeponien Bonfol oder Kölliken, um nur die bekanntesten Sanierungsfälle zu nennen.
Zeit also, das Vorgehen bei den letzten noch verbleibenden Standorten wirklich Ergebnis offen zu gestalten und in diesem Sinne endlich ein wissenschaftlich tragfähiges Vorgehen umzusetzen. Konkret bedeutet dies, dass die in Anhang I des Sachplankonzeptes definierten Kriterien so angewendet werden, das ein sachlich korrekt ablaufender Eingrenzungsprozess möglich wird. Dies heisst auch, dass für alle Kriterien verbindliche Schwellenwerte definiert werden, bei denen ein Standort aus dem Suchprozess fällt, wenn er diesen Wert überschreitet. Erfüllt ein Standort einen dieser Kriterien nicht, fällt er als nicht geeignet aus dem Einengungsprozess. Im schlechtesten Fall kann dies bedeuten, dass alle Standorte aus dem Selektionsprozess fallen.
- Die Definition solcher Ausschluss-, „No-go“- oder „Killer“-Kriterien an den Standorten „Zürcher Weinland“ und „Bözberg“ soll exemplarisch an 4 Beispielen erläutert werden. Nicht geeignet wären Standorte mit folgenden Charakteristiken:
- Glaziale Tiefenerosion: Nachweis, dass aufgrund geologischer Evidenzen innerhalb der letzten Million Jahre Eintiefungen unter eine Sicherheitsmarge von 300 m über dem Lagerniveau erfolgt sind.
- Tektonische Verhältnisse, insbesondere aktive oder reaktivierbare Störungszonen im Nahfeld des Endlagers, durch seismische und mikroseismische Messkampagnen nachzuweisen.
- Grund- und Thermalwässer, etwa artesisch gespannte Grund- und Thermalwässer, die entlang von Störungszonen in höher gelegene Gesteinsschichten transportiert würden, Nachweis aufgrund von Bohrungen in Störungszonen und Schichten oberhalb des Wirtgesteins
- Rohstoff- und Nutzungskonflikte: Nachweis, dass ober- und/oder unterhalb des Endlagers abbauwürdige Rohstoffe vorkommen, die bei Ausbeutung zu Setzungen des Wirtgesteins beziehungsweise zur Unterschreitung der Sicherheitsmarge von 300 m über dem Endlager (Kalk- und Mergelabbau) oder zur Durchörterung des Wirtgesteins (Bohrungen) führen würden.
Die Untersuchungen der Etappe 3 gehören gezielt auf bekannte Schwachstellen im geologischen Untergrund der beiden Standorte angesetzt. Überstehen die Standorte diese Selektion, kann zum Bau der Testbereiche fortgeschritten werden. Im gegenteiligen Szenario ist Schluss – mit dem Risiko, dass keiner der beiden verbleibenden Standorte den Sicherheitsanforderungen genügt, muss in einem Ergebnis offenen Prozess explizit gerechnet werden.
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