Figur Standortwahl: Suche nach einer Stecknadel im Urwald
(Carrières de Lumière, Les Baux en Provence)
In unserem Beitrag vom 13. März 2017, wie auch in unserem Blog vom 19. September 2016 unter dem Titel „Über Ethik und Irreführung: Wissenschaftler als Risikofaktoren im Sachplanverfahren“[1] zeigten wir, dass die durch die Nagra geplanten Sondierbohrungen, die Lösung des Problems der sicheren und dauernden Entsorgung der radioaktiven Abfälle kaum näher bringen werden. Wir stellten dieser Positivplanung – mit einem zum Vornherein bekannten Ergebnis – ein offenes Standortsuchverfahren entgegen, das in einer wissenschaftlich umfassenden Art und Weise ausgeführt wird. Hier nochmals die auf den heutigen Stand aufdatierten Argumente:
Ein Suchverfahren mit geordneten geologischen Untersuchungen
- Standortwahlprozess: Der Standortwahlprozess muss ein offener Prozess sein. Dies bedeutet, dass er keine Positivselektion erlaubt, bei dem am Schluss ein oder zwei Standorte – der „Beste“ oder die „beiden Besten – übrigbleiben. Ein offener Prozess ist nämlich ein Ausschlussverfahren, das über Eignungskriterien gesteuert wird. Werden diese Eignungskriterien nicht erfüllt, ist es möglich, dass sich kein Standort findet, der den Anforderungen genügt. Andererseits kann dieser Prozess auch zu mehr als einem positiven Resultat führen. Das Ziel der Untersuchungen ist es also, die Eignung von Standorten mit Hilfe vordefinierten Kriterien abzuklären. Dies geschieht in einer bestimmten Ordnung.
Im Folgenden wird diese Abfolge kurz beschrieben:
- Definition von Eignungs-Kriterien: Dieser Schritt wurde im laufenden Verfahren erfüllt (Sachplan Konzept Anhang I). Die Kriterien des Sachplans entsprechen Selektionskriterien, die seit Jahrzehnten weitgehend anerkannt sind.
- Im Anschluss an die Definition der Eignungskriterien: Definition von Auschluss-Kriterien (Killer-Kriterien), bei denen eindeutig ungünstige geologische Situationen definiert sind, die zwingend zu einem Ausschluss eines Wirtgesteins oder Standorts führen müssen: bisher wurde dieser zentrale methodische Schritt im Sachplanverfahren nicht angewendet und gilt somit als nicht erfüllt.
- Definition eines geordneten Untersuchungsprogramms, welches in klar definierter Abfolge ausgeführt wird:
- Erkundung höffiger Gebiete mit 2D-Seismik und Auswertung;
- darauf beruhend, Auswahl eingeengter Gebiete, die zusätzlicher Erkundung mittels 3D-Seismik bedürfen, Durchführung der 3D-Seismik und Auswertung;
- aufgrund der Ergebnisse aus der Seismik und durch Rückgriff auf die Ausschluss-Kriterien: Schwachstellenanalyse der Standorte, bei denen die einzelnen Schwachstellen der Standorte spezifisch benannt werden;
- gezielte Ausarbeitung eines Bohrprogramms aufgrund der Auswertung der 2D- und 3D-Seismik und aufgrund der geologischen Wissenslücken und Probleme, die aus der Schwachstellenanalyse resultieren
- Durchführung der Bohrungen, Auswertung aller Daten im Rahmen einer Synthese, Anwendung der Ausschlusskriterien, Wahl der Standorte oder Abbruch des Verfahrens.
- Weiterführende Untersuchungen im Rahmen von Feldarbeiten.
Dies ist in der Essenz das Vorgehen eines wissenschaftlich fundierten Standortauswahlverfahrens. Dieser Prozess wurde im Sachplan bis heute bei weitem nicht erfüllt. Im Verlaufe der bisherigen Etappen des Sachplans fand zwischen den verschiedenen beteiligten Akteuren ein Feilschen um die Anwendung eines wissenschaftlich akzeptierbaren Vorgehens statt, das auf einen Jahrmarkt gehört, nicht aber zu einem fundierten und korrekt geführten Verfahren (siehe unten).
- Zur Verfahrensführung: ein Standortsuchverfahren ist strukturiert durchzuführen. Die Nagra hat im bisherigen Auswahlverfahren Standorte vorgeschlagen, die eine Vielzahl von Schwachstellen aufweisen. Aufgrund der Intervention der Kantone im Jahr 2016, musste das ENSI unter Berufung auf das Kriterium „bautechnische Machbarkeit“ die Nagra zurückpfeiffen und den Fächer der „vorgeschlagenen“ Standorte wieder öffnen. Die Nagra musste das Schwindel-Szenario der Aktennotiz AN11-711 korrigieren und wurde also im Nachgang dazu verknurrt, auch das Gebiet „nördlich Lägern“ vertieft zu untersuchen.
Bei mehreren Gelegenheiten versuchte die Nagra seit Jahren, das Verfahren abzukürzen. Und jedensmal wurde sie zurückgepfiffen und musste nachbessern, was zu massiven Zeitverzögerungen und massiven Mehrkosten führte. Zur Erinnerung: 1 Jahr Nagra kostet heute 50 bis 60 Millionen Franken. 1 Jahr Verzögerung im Programm ergibt gleichzeitig Kosten von mindestens 50 Millionen Franken für die Zwischenlagerung der Abfälle im Zwilag. Andere Anlagen, das ENSI usw. nicht miteingerechnet.
Im Jahr 2010 musste die Nagra aufgrund der Intervention der Eidg. Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) und der Kantone die 2D-Linien verdichten. Sie verschätzte sich gewaltig im Zeitaufwand für diesen Arbeitsschritt. Später versuchte sie die 3D-Seismik zu umgehen und wurde umgehend von den Kantonen und danach vom ENSI zurückgepfiffen. Auch hier musste ab 2015/2016 nachgebessert werden. Die Auswertungsarbeiten sind gegenwärtig im Gang. Eine Schwachstellenanalyse der Standorte wurde von der Nagra bis anhin nicht durchgeführt. Dafür liegen seit Jahren Vorschläge für Sondierbohrgesuche in der Schublade, die nun – ohne den Prozess geordnet ausgeführt zu haben – den Behörden, den Kantonen und den Regionen unterbreitet werden, wohl in der Hoffnung, der Untersuchungsweg könne wieder abgekürzt werden. Und dies vor dem Hintergrund der Situation der grossen Elektrizitätskonzerne, die an allen Enden sparen müssen und den Perspektiven des weiterhin düsteren Elektrizitätsmarktes. Das Sachplanverfahren hat aber nichts mehr mit einem wissenschaftlich korrekt geführten Prozess zu tun. Hier ist Abhilfe erforderlich, und zwar sowohl im Bereich der Strukturen der nuklearen Entsorgung, wie auch der Finanzierung des Entsorgungsprogramms. Und zwar bevor der Suchprozess weitergeht und noch mehr Zeit und Geld in unnützen Aktionen verschleudert werden.
- Zu den Ausschlusskriterien: Vor der Festlegung der Bohrstandorte und des Untersuchungsprogramms müssen die Ausschlusskriterien für den Standort festgelegt werden. Wie die Erfahrung aus der Vergangenheit zeigen (Projekt „Anhydrit“, Projekt „Gewähr“ und „Wellenberg“ lassen grüssen!), läuft ein Projekt, in welchem diese Kriterien nicht im Voraus definiert sind, Gefahr, vorzeitig zu scheitern. Zudem muss die Einhaltung der Kriterien durch ein kompetentes, unabhängiges, durch die Standortregion anerkanntes Gremium von Fachleuten beurteilt werden.
- Zur Seismik: Die Standorte der Sondierbohrungen müssen aufgrund der Resultate der 2D- und danach der 3D-Seismik festgelegt werden. Einzig auf diese Weise können sie gezielt optimierte Resultate liefern. Dies trifft hier wiederum nicht zu. Die Resultate der 3D-Seismik sind heute noch nicht bekannt.
- Zur Schwachstellenanalyse: Die Standorte unterscheiden sich, was die Problempunkte angeht. Jura Ost und Lägern Nord liegen über dem Permo-Karbon-Trog. Keine Bohrung ist auf dieses Problem angesetzt. Der Opalinuston der Standorte „Bözberg“ und „nördlich Lägern“ ist teilweise abgeschert und stellenweise verdickt. Wir vermissen eine Analyse dieser Schwachstelle. In allen Standortregionen stellt sich die Frage nach Trog-Randstörungen, z.B. im Zürcher Weinland die Wildenbucher Flexur, die Marthaler Flexur, weiter westlich die Mandacherstörung usw. Auch hier wird das Bohrprogramm nicht auf diese Probleme ausgelegt. Offene Fragen bestehen auch bezüglich der glaziären Eintiefungsrinnen im „Weinland“ – die auch noch zu bearbeiten und zu klären sind. Usw.usf.
- Sondierbohrungen sind nicht administrative Instrumente zu Auflagen gemäss Kernenergieverordnung (KEV § 58 -59), wie dies die Nagra darstellt. In Tat und Wahrheit müssen sie viel mehr der Lösung offener Probleme und der Beantwortung offener Fragen dienen. Die wichtigsten dieser Fragen sind aus unserer Sicht folgende:
- Wirtsgestein: Wie drückt sich die alpine Deformation des Opalinustons am Lagerstandort aus (Frakturierung, interne Zerscherung, Verfaltung)? Welches sind die Konsequenzen auf die Barriereneignung, die Dimensionierung der Bauten, den Lagerbau und die Lagerstabilität? Zur Beantwortung dieser Frage muss das Wirtsgestein am Lagerstandort selbst, also nicht an Standorten in der weiteren Umgebung untersucht werden. Keine der durch die Nagra vorgeschlagenen Sondierbohrungen erfüllt diese Anforderung.
- Ressourcen: Welches ist das Ressourcenpotential am Lagerstandort und in dessen Umgebung: Geothermie, Kohlenwasserstoffe (Kohle, Gas, Tightgas), mineralische Rohstoffe? Die Antworten auf diese Fragen liegen (abgesehen von den mineralischen Rohstoffen) im Permokarbon-Trog im Untergrund des Lagerstandorts. Zur Erkundung muss der Trog am Lagerstandort durchbohrt und in der nähern Umgebung untersucht werden. Diese Forderung wird durch die vorgeschlagenen Sondierbohrungen nicht erfüllt. Nach Abschluss des Sondierprogramms der Nagra bleiben die Fragen also zentrale offen, die für eine Eignungsbewertung eines Standortes unerlässlich sind.
- Eintiefungsgeschichte: Wie wirkt sich die glaziale Eintiefungsgeschichte auf die Sicherheit des Standorts aus? Zur Beantwortung der Frage ist eine hinreichend belastbare Geschichte der Gletschervorstösse und –rückzugsstadien notwendig, um mögliche Auswirkungen künftiger glazialer Eintiefungen vorherzusehen. Auch diese Erkundungsarbeiten des Untergrundes sind nicht definiert.
Wann lernen Atomindustrie und Behörden aus dem Jahrzehnte langen Scheitern?
Es bleibt die Frage, warum die Projektverantwortlichen von Industrie und staatlichen Institutionen nicht auf das Jahrzehnte lange Scheitern der Standortwahlverfahren reagiert haben? Was sind die tieferen Gründe dafür, dass bei diesen Akteuren kein Lernprozess erfolgt ist und jedesmal wieder mit einem in derselben Weise fehlerhaften Prozess nach Standorten gesucht wird? Wir werden dieser Frage in Zusammenhang mit der Diskussion über Strukturreformen in den nächsten Beiträgen nachgehen.
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