In unseren drei letzten Blog-Beiträgen stellten wir die wissenschaftliche Planung bei Standortsuchprozessen den Positivplanungen der Atomindustrie gegenüber. Dabei zeigten wir die Schwachstellen solch vorgegebener Planungen auf. Zugleich stellten wir fest, dass dieses Vorgehen strukturellen Vorgaben folgt und deutlich macht, wie schwach die Atomaufsicht in der Schweiz ist. Im heutigen Blog stehen daher die Hintergründe der Aufsichtsmisere in der Atomindustrie unseres Landes im Vordergrund unserer Betrachtung. Als Erstes werfen wir einen vergleichenden Blick auf die Erfahrungen nach der Katastrophe von Fukushima.
Der Bericht der japanischen Parlamentskommission
Die Frage, wie es zur Katastrophe von Fukushima kam, wurde auch im japanischen Parlament gestellt. Es verfügte am 7. Oktober 2011, dass die Ursachen der Katastrophe durch eine Kommission unabhängiger Wissenschaftler und Rechtsanwälte untersucht werden sollten. Die Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission (NAIIC) – die Unabhängige Untersuchungskommission zum Atomunfall von Fukushima – nahm ihre Arbeit im Spätherbst 2011 sofort auf. Sie legte ihren Bericht bereits im Frühjahr 2012 dem japanischen Parlament vor. Mitglieder der Kommission waren namhafte Wissenschaftler aus den Fachbereichen Medizin, Chemie und Seismik, ferner verschiedene Rechtsanwälte, ein Wissenschaftsjournalist, sowie weitere verdiente Akademiker. Die englische Zusammenfassung des Berichts ist im Internet aufgeschaltet.[1]
Dieser Bericht ist deshalb so aufschlussreich, weil sich das Mandat nicht auf die Untersuchung des Unfalls und dessen Ursachen beschränkte, sondern auch die Entscheidungs- und Bewilligungsprozesse mit einbezog. [2] Dem entsprechend klar waren die Folgerungen der Kommission zu diesem Themenkreis : Die japanische Nuklearindustrie hätte die Behörden gekapert: „regulatory capture“ ist der dafür verwendete Fachausdruck – in der politischen Fachliteratur seit Jahrzehnten bekannt. Der Untersuchungsbericht kritisierte zudem, die japanischen Behörden hätten lautstark die Meinung vertreten, dass „die Sicherheit von Atomanlagen garantiert“ sei, was dazu führte, dass sie jegliche Massnahmen vermieden oder umgingen, die dieses rosige Bild hätten in Frage stellen können.[3] Wesentliche Faktoren für das menschliche Versagen wurden dem Lobbying der Nuklearindustrie zugeschrieben, sowie den engen Beziehungen zwischen Betreibern und Regulatoren. Letztere liessen es an Unabhängigkeit und Transparenz fehlen. Der Bericht kam zum Schluss, dass die Beziehungen zwischen Betreibern und Aufsicht weit entfernt waren von dem, was bei einer funktionierenden Sicherheitskultur zu erwarten sei. Effektiv sei die Aufsicht über die Industrie nicht mehr gewährleistet gewesen.[4] Harte Befunde und Folgerungen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen lassen — Befunde, die auch von der Internationalen Atomenergie-Agentur im Bericht des Generaldirektors von 2015 bestätigt wurden:
Gewisse Faktoren, die zum Unfall in Fukushima geführt hätten, träfen nicht allein für Japan zu. Die hinterfragende Grundhaltung und die Bereitschaft, aus Erfahrungen zu lernen, seien Schlüsselelemente einer Sicherheitskultur – zwingend für jeden, der im Nuklearbereich arbeite.[5] Regelwerk und Prozeduren seien in manchen Fällen nicht mit der internationalen Praxis im Einklang gewesen. Zudem sei es grundlegend, dass eine Aufsicht unabhängig ist, über Autorität und technische Kompetenz verfügt und einer starken Sicherheitskultur verpflichtet ist.[6] Die Sicherheitsbehörden müssten daher die Sicherheitskultur stärken und kontinuierlich bestehende Annahmen oder Entscheide immer wieder überprüfen.[7]
Wie sehr sich doch diese Aussagen von den Äusserungen des ENSI-Direktors Hans Wanner unterscheiden, der – wenige Tage nach einer hitzigen Diskussion mit einem der Blog-Autoren im Direktionszimmer des ENSI im Juli 2012 – zur Rolle der Aufsicht schrieb: „Wir gehen, wie ich schon verschiedentlich dargelegt habe, von der ersten Arbeitshypothese“ – der grundsätzlich sicheren Kernkraftwerke – „aus, die wir in einem laufenden internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten untermauern.“[8]
Wahrnehmung der Katastrophe von Fukushima durch das ENSI und Selbstreflexion
Die Katastrophe von Fukushima hinterliess auch beim ENSI tiefe Spuren. Der Unfall wurde im Verlauf der Jahre in verschiedenen Berichten analysiert[9] und die Befunde zur Sicherheitskultur der japanischen Nuklearindustrie ebenfalls hart gespiegelt. So liest man in diesem Bericht etwa, was der Bericht der unabhängigen Kommission des japanischen Parlaments bereits festgestellt hatte. Die aufgezeigten Mängel der japanischen Sicherheitskultur seien eklatant und bekannt gewesen,[10] und die Strukturen viel zu komplex. [11] Die Aufsichtsbehörde hätte sich durch mangelnde Unabhängigkeit ausgezeichnet und es sei zu Verflechtungen zwischen Nuklearindustrie und Aufsicht gekommen. [12] Zudem hätte der Betreiber sein eigenes Handeln nicht hinterfragt, um die Sicherheitskultur zu verbessern[13]; Rollen und Verantwortlichkeiten in der Aufsicht seien unklar gewesen und es hätten bürokratische Praktiken geherrscht.[14] Ferner hätte die Aufsicht die Erdbeben- und Tsunamigefahr unterschätzt sowie kritische Analysen oder Warnungen von Experten und Organisationen ignoriert.[15] Das Dokument ist eine nüchterne, aber vernichtende Analyse der Zustände in der japanischen Atomwirtschaft sowie der sie kontrollierenden Behörden, auch wenn die Befunde als Hypothesen vorgetragen werden.
Interessant an diesem Bericht ist aber noch anderes: Zum einen stützt er sich öfters auch auf Medienberichte ab, etwa der New York Times und des Tages-Anzeigers, was zeigt, dass mediale Berichte beim ENSI durchaus den Wert von belastbaren, robusten Recherchen und Dokumenten haben! Zum anderen aber sind einzelne Aussagen dieses Berichtes durchaus bemerkenswert (Kästchen 1).
Offenbar war es den Autoren der ENSI-Studie nicht ganz geheuer, ein solches Dokument mit einer derart offenen Kritik und derart klaren Aussagen auf der eigenen Web-Seite zu platzieren. Immerhin haben sich in Sachen Aufsichtskultur im Laufe der Jahre doch gewisse Erkenntnisse im Aktionsplan niedergeschlagen, wie der Aktionsplan Fukushima 2015 zeigt (Tabelle 1). [16]
Die Berichte des ENSI über die Aufsichtspraxis der Jahre 2015 und 2016 zeigen, dass sich das ENSI – oder zumindest eine seiner Sektionen – über seine Rolle in der Aufsichtskultur Gedanken macht.[17] Inwieweit diese effektiv bei Schweizer Kernanlagen in die Tat umgesetzt werden, wird weiter unten und in späteren Beiträgen zur Organisationsstruktur und zur Sicherheitskultur dargelegt.
Wie steht es um die KKWs und die Entsorgung in der Schweiz?
Wir haben in den Beiträgen der letzten Monate zu den Kernkraftwerken Beznau und Leibstadt verschiedene Missstände festgestellt, die nicht zum Bild einer korrekt funktionierenden Aufsichtskultur passen, aber sehr wohl der Aufsichtsphilosophie des ENSI-Direktors entsprechen. Die Informationspolitik und die fehlende Transparenz – etwa zum Dryout Problem im KKW Leibstadt oder den Einschlussproblemen beim KKW Beznau 1 – sind inakzeptabel, wenn bedacht wird, welche Risiken auf dem Spiel stehen. Die gerne zitierten Verhaltensnormen der ‚kritischen Selbstreflexion‘ und der ‚hinterfragenden Grundhaltung‘ werden nicht – oder nicht im erforderlichen Mass – gelebt. Es ist uns bewusst, dass das ENSI unter einem enormen Druck seitens der Kernkraftwerkbetreiber steht: Diese sind daran interessiert, dass die Anlagen unter dem Damoklesschwert der defizitär operierenden Atomindustrie baldmöglichst wieder angefahren werden. Aber genau an diesem Punkt passiert das, was das ENSI selber im Falle der Katastrophe von Fukushima schlussfolgernd feststellt (siehe Kästchen 1): „Solche Mechanismen und äussere Bedingungen können eine starke Wirkung entfalten und dazu führen, dass als im Nachhinein offensichtlich unübersehbar erscheinende Tatsachen, im Vornhinein nicht erkannt, verdrängt, rationalisiert oder wegdiskutiert werden.“ Genau an diesem Punkt möchten wir einhaken: Wenn die Aufsichtsbehörde überhört, verdrängt oder wegdiskutiert, müssten mit aller Dringlichkeit Prozeduren und Mechanismen eingeführt werden, die dies verhindern oder zumindest erschweren.
Resistenz und Selbstzensur
Bei der Entsorgung der atomaren Abfälle besteht eine ausgeprägte Resistenz seitens der NAGRA und der Bundesbehörden gegenüber einer offenen Bearbeitung und Prüfung des Standortwahlverfahrens. Führung und Koordination des Programms durch das Bundesamt für Energie sind nicht gewährleistet. Das wissen alle relevanten Akteure, auch das ENSI. Dennoch fühlt sich niemand dafür zuständig, diesen Missstand zu beseitigen. Man lässt eine überforderte Struktur weiter bestehen, beanstandet diese zwar im stillen Kämmerlein und wäscht seine Hände in Unschuld.
Desgleichen weigern sich ENSI und die zuständigen Kommissionen seit Jahren, den Aufforderungen der Kantone, der Regionen und unabhängiger Experten zu folgen, endlich ein Verfahren für ein wissenschaftlich offenes Suchverfahren umzusetzen und die Ausführung der erdwissenschaftlichen Untersuchungen einem seit Jahrzehnten bekannten Vorgehensprozess unterzuordnen.[18] Ausschlusskriterien (Killerkriterien) für die bevorstehenden Sondierungen gibt es keine. Das chaotische Suchverfahren der NAGRA ist ebenfalls nicht Gegenstand von Interventionen. Immer sind es äussere Institutionen, die Druck auf die Aufsicht ausüben und sie zu Korrekturen bewegen. Die letzte Intervention war jene der Kantone und bezog sich auf die vorschnellen Einengungsvorschläge der NAGRA für die Standortwahl von Endlagern.
Eine Antwort auf solche Kritik bleibt regelmässig aus. Die Beanstandungen werden von den zuständigen Institutionen und Administrationen nicht an die Hand genommen. Gespräche werden verweigert. Eine Entscheidungsfindung durch seriöse Prüfung aller Argumente wird ersetzt durch eine autoritäre Anordnungspraxis. Begründungen sind bei dieser autoritären Praxis nicht vorgesehen. Experten und Wissenschaftler, die fundierte Kritik einbringen, werden ausgeschlossen und verleumdet. So säubert man das Spielfeld von Störenfrieden.
Wie will das ENSI als Aufsichtsbehörde denn Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn es eben diese Praktiken nicht geisselt und rigoros beendet, die es doch selber bei der Analyse von Fukushima angesprochen hat? Wir zitieren nochmals die zentrale Erkenntnis des ENSI: „Solche Mechanismen und äussere Bedingungen können eine starke Wirkung entfalten und dazu führen, dass als im Nachhinein offensichtlich unübersehbar erscheinende Tatsachen, im Vornhinein nicht erkannt, verdrängt, rationalisiert oder wegdiskutiert werden.“ Dies ist die Erkenntnis, die auch von Forschern für das irrationale Verhalten des Menschen gespiegelt werden. [19]
Darum: Es ist zwingend, Strukturen und Prozeduren zu schaffen, um institutionelle Korsetts dieser Art aufzubrechen. Verdrängungsprozesse müssen geknackt, Selbstzensur durch übergeordnete Prozeduren korrigiert werden. Das Gefangensein in Sachzwängen (lock-in) kann nicht wirksam werden, wenn die Selbstzensur innerhalb von Institutionen durch einen entsprechenden Prüfprozess unterbunden wird. Eine unabhängige Qualitätskontrolle muss diesen Prüfprozess sicherstellen Hier muss angesetzt werden, wenn die bestehenden institutionellen Probleme eines geschlossenen, autoritären und fehleranfälligen Systems gelöst werden sollen. Mit bequemen Ausreden, die Welt sei nun einmal schlecht, lassen sich keine Verbesserungen erzielen.
Wir brauchen ein „Denken ohne Geländer“ [20] , um einer tatenlosen Unterwerfung unter herrschende Missstände und dem Handeln im Dienste von Partikularinteressen wirksam die Stirn zu bieten.
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