In der letzten Woche haben sich die Ereignisse um Stocamine überschlagen. Zunächst meldeten diverse Medien den Beginn «der Arbeiten für eine erste Betonbarriere» in der Untertagedeponie Stocamine.[1] Verschiedene, mehr oder weniger zur gleichen Zeit publizierte Artikel in den angesehenen nationalen Zeitungen «Le Monde» und «Le Monde Diplomatique» zeigten das Ausmass der Problematik der Tiefenlagerung hochtoxischer Abfälle in seiner gesamte Breite auf.[2] Zudem berichte Radio France International am 10 Mai in einer Direktberichterstattung über diese Entwicklung.[3] Insbesondere wurden auch die Zusammenhänge zwischen der Entsorgung der chemo-toxischen Abfälle im Salzbergwerk Stocamine bei Wittelsheim (Mulhouse) und jener der radioaktiven Abfälle im Projet Cigéo bei Bure (Haute-Meuse) und die grundlegenden Fragen der Akzeptanz und der Glaubwürdigkeit von solchen Projekten thematisiert. Dabei spielen natürlich die bislang gebrochenen Versprechungen zur Reversibilität der Entscheidungen und zur Rückholbarkeit der eingelagerten Abfälle aus der Anlage in Stocamine eine grosse Rolle. Wie soll Glaubwürdigkeit für Tiefenlagerprojekte hergestellt werden, wenn das Wort in der Vergangenheit derart dreist gebrochen wurde?
Grossen Anteil an dieser Entwicklung haben die seit vielen Jahren geäusserten Zweifel an den tatsächlich im Tiefuntergrund des Salzbergwerks eingelagerten hochtoxischen Chemie-Abfälle. Nachdem sich diese Zweifel zur Gewissheit gewandelt hatten, schaltete sich die Justiz ein. «Stocamine ist immer noch Gegenstand einer strafrechtlichen Untersuchung des regionalen Umweltpols der Staatsanwaltschaft Straßburg, die die genaue Art der vergrabenen Abfälle betrifft»[4], berichtete Agence France Presse am 9 Mai. Im Vordergrund der Abklärungen durch die OCLAESP[5] genannte Justizdienststelle standen zunächst infektiöse Spitalabfälle sowie Abfallgebinde mit flüssigen Kohlenwasserstoffen.
Seit längerer Zeit verdichten sich nun aber auch Gerüchte, dass es sich bei weitem nicht um die einzige Überraschung handeln könnte. Auch die Armee soll hier Abfälle eingelagert haben, und zwar Bestandteile der Demontage atomarer Gefechtsköpfe der französischen «force de frappe». Anfang der 1990er Jahre betrieb die französische Armee verschiedene solche Waffensysteme: etwa die ballistischen Gefechtsköpfe Pluton, Hades und S3. «Die Pluton-Rakete war ein nukleares Kurzstrecken-Ballistiksystem, das von einer Raketenabschussrampe auf einem Raupenfahrgestell abgefeuert wurde», klärt uns dazu ein Eintrag auf Wikipedia auf.[6] «Diese Ausrüstung bildete die nukleare taktische Abschreckung … der französischen Armee während des Kalten Krieges zwischen Mai 1974 und 1993», erfahren wir dazu weiter. Weitere ballistische Gefechtsköpfe waren die Systeme «Hades» oder «S3D».[7] 1996 erfolgte der Entscheid, auch das 30 Gefechtsköpfe umfassende «Hades» genannte terrestrische Waffensystem in Zusammenhang mit der neuen geostrategischen Situation nach Ende des kalten Kriegs zurückzubauen, ebenso die 18 strategischen Gefechtsköpfe «S3D».[8] Die entsprechenden atomaren Militärstützpunkte wurden also aufgelöst. Im Falle des Systems «Hades» betraf dies etwa «fünfzehn Radfahrzeuge mit jeweils zwei Startrampen».[9] Die Demontage fand also zu einem Zeitpunkt statt, in dem das Projekt Stocamine kurz vor der Eröffnung stand: der letzte Gefechtskopf des «Hades»-Systems wurde 1997 zurückgebaut.[10] Unter hohen Sicherheitsbedingungen, wie dies auch Figur 1 zeigt.
Was genau in den Lagerkammern im Salzbergwerk liegen soll, dazu gibt es bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Unbestritten sind aber Beobachtungen, dass Paletten mit der Aufschrift «armée française» in grosser Anzahl in den Galerien von Stocamine gesichtet wurden. Dass Paletten der französischen Armee in einer Sondermülldeponie 550 m unter der Oberfläche zu einer Zeit auftauchen, wo die Demontage dieser Gefechtsköpfe erfolgte, ist jedenfalls erklärungsbedürftig. Umso mehr auch Bilder aus dem Rückbauzentrum von Pierrelatte im Rhonetal in einer Publikation auftauchen, die Einsackanlagen (?) und Big-Bags mit Abfällen zeigen. Der Text dazu: Demontage von Pierrelatte.[11] Die Fragen liegen also auf der Hand: wurden Big-Bags mit Abfällen aus der Demontage von Nukleargefechtsköpfen – wie die in Figur 1 gezeigten – in Stocamine eingelagert? Es werden Antworten erwartet.
Figur 1 : Rückbau in Pierrelatte. Zeitraum des Rückbaus der «Hades»-Gefechtsköpfe (oben), Big-Bags mit unbekanntem Inhalt (Mitte) ; Absackungseinrichtungen ? (unten rechts). Text : «Demontage von Pierrelatte» (Auszüge aus Seiten 99-101), siehe Mongin, Dominique, ohne Datum. La Direction des Applications Militaires (CEA/DAM) au coeur de la dissuasion nucléaire française – de l’ère des pionniers au programme Simulation. CEA, Direction des applications militaires. P. 100-101. https://www.cea.fr/presse/Documents/actualites/direction-applications-militaires-cea-dissuasion-nucleaire-france.pdf (17.05.2022)
[1] Bärbel Nückles, Französische Justiz beschäftigt sich weiter mit Deponie Stocamine / La justice française continue de s’occuper de la décharge de Stocamine, Badische Zeitung 11 Mai 2022; L’Alsace. La Collectivité Européenne d’Alsace contre-attaque, https://www.alsace20.tv/VOD/Actu/Choix-de-la-redac/Faut-il-enfouir-definitivement-milliers-tonnes-dechets-site-Stocamine-ou-extraire-KH5fAGaeVk.html;
[2] Cédric Gouverneur, Déchets radioactifs, angle mort de la relance nucléaire, Le Monde Diplomatique, Mai 2022, p. 18-19 ; Véronique Parasote, Enfouir, désenfouir et toujours différer, Le Monde Diplomatique, Mai 2022, p. 18-19
[3] Radio France Internationale, 10 mai 2022, https://rfi.my/8PBg.G
[4] Agence France Presse. Stocamine: début mardie des travaux préalables à la fermeture, Mediapart. 9 mai 2022.
[5] Zentralstelle zur Bekämpfung von Umwelt- und Gesundheitsschäden,, https://www.gendarmerie.interieur.gouv.fr/notre-institution/nos-composantes/au-niveau-central/les-offices/office-central-de-lutte-contre-les-atteintes-a-l-environnement-et-a-la-sante-publique-oclaesp (17.5.2022)
[6] Missile Pluton, https://fr.wikipedia.org/wiki/Missile_Pluton (17.5.2022).
[7] Pensée mili-terre, Centre de doctrine et d’enseignement du commandement, Histoire et doctrine d’emploi de l’armement nucléaire tactique français (1959-1996), https://www.penseemiliterre.fr/histoire-et-doctrine-d-emploi-de-l-armement-nucleaire-tactique-francais-1959-1996-2-2_244_1013077.html (17.5.2022)
[8] France TNP 2010, Désarmement nucléaire: l’engagement concret de la France, le démantèlement de la composante sol-sol, https://www.francetnp.gouv.fr/IMG/pdf/06-FR-Albion.pdf (17.5.2022); Drouhaud, Pascal, 2006. La dissuasion nucléaire de la France et l’environnement international, Guerres mondiales et conflits contemporains 2006/3, p. 127-140, https://www.cairn.info/revue-guerres-mondiales-et-conflits-contemporains-2006-3-page-127.htm (17.5.2022);
[9] Sénat français, 1996. Dissuasion nucléaire: missiles Hades. Question écrite n°. 14768 du 4 avril 1996 de M. Roger Husson (Modelle – RPR)
[10] Observation de la D<issuasion, Bulletin mensuel, juin 2020, https://www.frstrategie.org/sites/default/files/documents/programmes/observatoire-de-la-dissuasion/bulletins/2020/77.pdf (17.05.2022).
[11] Mongin, Dominique, sans date. La Direction des Applications Militaires (CEA/DAM) au coeur de la dissuasion nucléaire française – de l’ère des pionniers au programme Simulation. CEA, Direction des applications militaires. P. 100-101. https://www.cea.fr/presse/Documents/actualites/direction-applications-militaires-cea-dissuasion-nucleaire-france.pdf (17.05.2022)
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