Heute, 15. Januar 2022 hat gemäss geschriebener Presse[1] SVP-Präsident Marco Chiesa eindringlich vor einer «Strom-Katastrophe» gewarnt: «Der Bundesrat müsse sofort handeln, um die drohende Mangellage mit verheerenden Folgen für die Schweiz abzuwenden . . . . Die von linken Ideologen entwickelte Energiestrategie 2050 sei gescheitert. Führende Vertreter der Wirtschaft, des Bundes und der Wissenschaft seien sich einig, dass eine Strom-Mangellage die grösste Bedrohung für die Schweiz sei und bereits in zwei oder drei Jahren Realität sein könnte. . . Die SVP hatte bereits im November 2021 ein Positionspapier zur Energiepolitik vorgestellt. Demnach sollen Wasser- und Kernkraft weiterhin die Hauptpfeiler der Schweizer Stromversorgung bilden. Die Stromproduktion müsse zudem sicher, umweltschonend, günstig und möglichst unabhängig vom Ausland sein. Besonders die Winterproduktion müsse ausgebaut werden.»
Unbestreitbar ist: In der Elektrizitätsversorgung stimmt etwas Grundlegendes nicht. Zur Erinnerung:
- Am 20. Dezember 2019 ging das Kernkraftwerk Mühleberg vom Netz.
- Im Mai 2021 stellte der Bundesrat die Verhandlungen für ein Rahmenabkommen mit der EU (und damit der Möglichkeit für ein Stromabkommen) ein.
- Im Jahr 2021 stand das Kernkraftwerk Leibstadt während 195 Tagen für Unterhaltsarbeiten still.
- Darauf fuhren die BKW einen Verlust von 70 Millionen Franken ein, da sie bereits fixe Lieferverträge hatte und den dazu benötigten Strom auf dem inzwischen teuren freien Markt einkaufen musste.[2]
- Gegen Ende Jahr musste ALPIQ aus demselben Grund beim Bund um ein Darlehen bitten, um einen Liquiditätsengpass zu überwinden.[3] Man darf sich füglich fragen, warum nicht primär die Aktionäre gebeten wurden, weitere Kredite einzuschiessen.
- Im AKW-Land Frankreich standen gleichzeitig Ende Jahr 16 der 56 Reaktoren wegen Reparaturen und Unterhalt still. Frankreich importierte Strom – teils auch den ach so verhöhnten Kohlestrom aus Deutschland.[4]
- Und zu all dem gesellt sich ein neuer Aufschub der Inbetriebnahme des EPR’s von Flamanville von mehreren Monaten ins zweite Trimester 2023, oder gar Anfang 2024 [5]. In der Endabrechnung rechnet EDF nun mit Gesamtkosten von 12,7 Milliarden Euros. Der Rechnungshof, der «Cour des Comptes», beschaffte dabei 6.7 zusätzliche Milliarden, darunter 4.2 Milliarden Kapitalkosten.
- Im Jahr 2022 werden in Deutschland die letzten Kernkraftwerke vom Netz genommen. Bis 2038 folgen die Kohlekraftwerke.[6]
Auf die leichte Schulter kann man diese Situation sicher nicht nehmen, und dies umso weniger, als der Bau von Produktionsanlagen für Photovoltaik und Windenergie in der Schweiz nur schleppend voran kommt (was in Anbetracht der im Vergleich zu Europa kleinen Abnahmepreise der produzierten Elektrizität nicht erstaunt).
So könnte es künftig durchaus zu einer zunehmenden Auseinandersetzung in den politischen Energieagenden kommen, der SVP-Strategie «Wasserkraft und Kernenergie» auf der einen Seite und der «Energie-Strategie 2050» des Bundes[7], basierend auf einer breiten Palette von erneuerbaren Energiequellen (u.a. auch Ausbau der Wasserkraft), Energiesparmassnahmen, Ausbau der Stromnetze, u.a.m.
Dass Herr Chiesa und seine SVP auch weiterhin auf Kernenergie setzen, ist sachlich kaum zu halten: Einerseits altern die bestehenden Anlagen. Sie werden, wie das Kernkraftwerk Leibstadt längst demonstriert hat, anfällig auf Störungen und gehen ohne wenn und aber ihrer definitiven Stilllegung entgegen. Andererseits existiert heute in den westlichen Industrieländern auf absehbare Zeit kein realistisches Angebot für neue Kernreaktoren, weder für die 3. Generation (z.B. EPR) und schon gar nicht für die sogenannte 4. Generation (diverse Typen von Brutreaktoren), mit den zu erwartenden Sicherheits-Standards und der unterstellten reduzierten Abfall-Produktion. So erinnert denn die Forderung der SVP etwa an die Parolen bei den laufenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich, wo alle Kandidaten in voller Verblendung auf neue EPR’s setzen, welche entweder zu spät kommen, zu unsäglich hohen Kosten und zu Risiken führen, die kaum bekannt sind (sofern diese Reaktoren überhaupt ans Netz gehen).
So wird der Schweiz wohl einzig der Weg über eine zielstrebige Förderung der «grünen» Energien (incl. Wasserkraft) und deren rationellen Nutzung übrigbleiben; ein realistischer Weg, der nun endlich umgesetzt werden muss[8]. Dass zudem auch eine viel engere Zusammenarbeit mit unsern Nachbarn erfolgen sollte, kann man nur erhoffen.
[1] Tagesanzeiger vom 15.01.2022 https://www.tagesanzeiger.ch/chiesa-warnt-eindringlich-vor-strom-katastrophe-630306369069
[2] https://www.bkw.ch/de/ueber-uns/aktuell/medien/medienmitteilungen/verlaengerte-revision-des-kernkraftwerks-leibstadt-belastet-ergebnis-der-bkw
[3] https://theworldnews.net/ch-news/liquiditatsengpass-bei-stromkonzern-alpiq-bat-den-bund-um-finanzielle-hilfe
[4], 5 https://www.ouest-france.fr/environnement/nucleaire/soudure-combustible-de-nouveaux-retards-pour-l-epr-de-flamanville-qui-coutent-cher-51336424-73b4-11ec-bc95-d3e60ba15147
[6] https://energiewinde.orsted.de/energiepolitik/kohlekraftwerke-karte-ausstieg-datum
[7] https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/politik/energiestrategie-2050.html/
[8] https://www.nzz.ch/schweiz/neuer-stausee-im-wallis-soll-stromknappheit-im-winter-verringern-ld.1663691
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