Marcos Buser, André Lambert & Walter Wildi
Strommangel
Seit der Aufkündigung der Verhandlungen für ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union am 26. Mai 2021 durch den Bundesrat[1], rauscht es im Blätterwald der Schweizer Presse. Der Hauptgrund: Mit dieser Kündigung fällt auch die Aussicht auf ein Stromabkommen[2] weg und damit einer Art Versicherung gegen einen Blackout infolge Strommangel im Winter. Anfang Januar wurde dann das Rauschen jäh durch ein mittleres mediales Erdbeben abgelöst: ALPIQ hatte um das Jahresende erwogen, beim Bund um ein Darlehen von mehr als einer Milliarde CHF zu ersuchen, um die hohen Kosten für den Einkauf von Strom auf dem freien Markt decken zu können[3]. Der direkte Grund hierfür: Ein (einmal mehr!) verlängerter Ausfall des Kernkraftwerks Leibstadt und dessen vereinbarten Stromlieferungen an ALPIQ, aber auch an die BKW[4] und v.a. an den Hauptaktionär AXPO[5]. Der Strompreis war zu dieser Zeit auf dem Spotmarkt[6] um ein Mehrfaches höher als normalerweise, kurzfristig bis zu 600 EUR/MWh (am 31. Januar 2022 lag er in der Schweiz wieder bei 242,36 EUR/MWh). Die Gründe für diese hohen Preise sind vielfach und reichen von einem eher kalten Winter, über die hohen Gaspreise bis zum zeitweisen Ausfall von bis zu 18 Kernkraftwerken (von insgesamt 56) in Frankreich[7].
An der Quelle der Krise stehen also einmal mehr Pannen in Kernkraftwerken.
Über einen Punkt ist man sich in unserem Land wohl einig: Der Strombedarf wird bei der heute angesagten Abkehr von fossilen Brennstoffen und dem auslaufenden Betrieb der Kernkraftwerke (mit oder ohne Verlängerung der Betriebszeit) in den kommenden Jahren steigen. Folglich gilt es, die Produktion entsprechend anzukurbeln. Die diesbezügliche offizielle Antwort findet sich in der «Energiestrategie 2050»[8] des Bundes und basiert im Wesentlichen auf Anstrengungen zur rationellen Energienutzung und der Förderung nachhaltiger, dezentralisierter Stromproduktion mit Priorität auf Photovoltaik, Wasserkraft und Wind. Und auch wenn diese Entwicklung nur langsam greift, gibt es doch Anzeichen für eine Beschleunigung[9].
Interessant ist demgegenüber die Reaktion zweier bürgerlicher Parteien:
- SVP-Präsident Marco Chiesa will einen grossen Teil der vorausgesagten Stromlücke (24 von 40 Terawattstunden) baldmöglichst durch neue Kernkraftwerke stopfen.[10]
- Die FDP möchte das gesetzliche Verbot für den Bau neuer Kernkraftwerke wieder aufheben und hofft auf Rettung durch den dereinstigen Bau von Kernkraftwerken der «neuen Generation».[11]
Wie wirklichkeitsfremd die Vorschläge der beiden Parteien sind, zeigt die Feststellung, dass sich heute weltweit kein Reaktor auf dem Markt befindet, welcher den aktuellen Ansprüchen an Realisierbarkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit und realistischen Bau-, Betriebs- und damit Stromkosten entspricht. Der zurzeit durch Frankreich angepriesene EPR-Reaktor illustriert diese Feststellung drastisch. Der in Finnland 19 (!) Jahre nach Baubeschluss endlich netztaugliche EPR „Olkiluoto III“ kostete mit umgerechnet rund 11 Milliarden CHF letztendlich annähernd das Vierfache des ursprünglich budgetierten Betrags. Schlimmer noch: Der erste in Taishan (China) in Betrieb genommene EPR-Reaktor wurde im Juni 2021 mit schweren Brennstoffschäden aufgrund von Störungen in der Kühlwasserzirkulation wieder vom Netz genommen.[12] Auch Reaktoren der «neuen Generation» erscheinen keine am Horizont und dürften (falls überhaupt) selbst bei erhöhten Entwicklungsanstrengungen frühestens in etwa zwei Jahrzehnten industriereif sein. Ein Kernkraftwerk mit einem Reaktor dieser «neuen Generation» könnte damit nach einer allfälligen (heute unwahrscheinlichen) Annahme des FDP-Antrages durch das Volk, frühestens in 40 bis 50 Jahren (Jahre 2060 bis 2070) ans Netz gehen. Die Vorstösse der beiden Parteien sind daher bestenfalls ideologische und Ablenkmanöver, welche kaum Beachtung verdienen. Das Problem des Strommangels werden sie auf jeden Fall für die kommenden Jahrzehnte nicht lösen.
Nukleare Entsorgung
Der zitierte Zeitungsartikel zu Herrn Chiesa’s Aussagen im Tagesanzeiger vom 22.11.2021 präsentiert auch die Resultate einer kleinen Meinungsumfrage (3002 befragte Personen) zur Frage «soll die Schweiz auf die AKW-Technik zurückkommen»? Das Resultat ist eindeutig: 69% der befragten Personen verneinen die Frage, u.a. wegen der Abfallfrage, aber auch unter Einbezug der Gründe «Kosten und GAU-Risiko sprechen dagegen». Damit scheint die Frage der Zukunft der Kernenergie in der Schweiz heute an die Abfallfrage gekoppelt.
In der Nuklearen Entsorgung ticken aber die Uhren gemächlich. Nehmen wir den aktuellen Zeitplan der Nagra, so sieht dieser bis zur Erteilung der Rahmenbewilligung für ein geologisches Tiefenlager folgenden Ablauf vor (Abbildung 1):

Abbildung 1 : Ablauf der Etappen seit 2008 (Start des „Sachplans geologische Tiefenlager“) gemäss Nagra-Planung bis zur Erteilung der Rahmenbewilligung für ein geologisches Tiefenlager [13] (“Entscheid Standortwahl”).
Für die nachfolgenden Phasen der Standorterkundung untertage kann man sich am «Sachplan geologische Tiefenlager»[14], bzw. an der Nachführung des Zeitplans gemäss Entsorgungsprogramm 2016[15] orientieren (Abbildung 2). Gemäss diesem Zeitplan wären die Abfälle ab 2064 (SMA, schwach und mittel aktive Abfälle), bzw. 2074 (HAA, hoch radioaktive Abfälle) eingelagert und die Lager in der Beobachtungsphase. Die Langzeitbeobachtung der verschlossenen Lager würde ab 2118, bzw. 2126 einsetzen.

Abbildung 2: Zeitplans gemäss Entsorgungsprogramm 2016 (Referenz: Fussnote 15).
Heute sieht die Nagra offensichtlich nicht mehr prioritär den Bau von zwei geographisch voneinander getrennten Lagern, sondern eher von einem sogenannten Kombilager mit SMA und HAA-Lagerstollen am selben Standort vor[16]. Abbildung 3 stellt den entsprechenden Zeitplan dar. Ginge es nach diesem Plan, so wäre mit dem Verschluss des Lagers um 2025 zu rechnen.

Abbildung 3: Zeitplan der Nagra bis zum Verschluss eines Kombilagers für alle Abfallkategorien [17]
Nun hat die Erfahrung gezeigt, dass die Zeitpläne der Nagra und des Bundes bis heute nie eingehalten wurden (oder scheiterten), sondern, dass in der Praxis mindestens doppelt so viel Zeit bis zum Abschluss einer Phase notwendig sind.[18]
Wie dem auch sei: Promotoren neuer Kernkraftwerke werden sich damit abfinden müssen, dass die Frage der nuklearen Entsorgung noch mindestens bis ins nächste Jahrhundert auf dem Tisch liegen wird. Oder eben halt noch viel länger. Denn das Zeitalter der Ungewissheiten, dem sich die Experten mit zunehmendem Interesse widmen, steht erst am Anfang.[19] Und bekanntlich haben die bisher ermittelten Ungewissheiten nicht nur die bisherigen Zeitpläne ins Wanken gebracht, sondern auch die zugrundeliegenden Konzepte. Das EKRA-Konzept der überwachten Tiefenlagerung und der Möglichkeit zur Rückholung der Abfälle war eine erste Antwort auf die um die Jahrtausendwende schreienden Planungsmissstände. Man muss deshalb aufgrund der vielen heute offenen Fragen und Ungewissheiten damit rechnen, dass auch in der Zukunft massgebende Konzeptanpassungen und -Neuausrichtungen erfolgen werden. Unter diesen Voraussetzungen weiterhin auf eine Technik zu setzen, die weder ausgereift noch finanziert ist, kann nur noch als totale Absage an rationale Argumente und in diesem Sinne als Verblendung bezeichnet werden.
Fussnote
[1] https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-83705.html
[2] https://www.nzz.ch/finanzen/keine-alternative-zum-stromabkommen-mit-der-eu-ld.1658311
[3] https://www.tagesanzeiger.ch/alpiq-gesuch-um-staatshilfe-es-ging-um-ueber-eine-milliarde-677566464239
[4] https://www.bkw.ch/de/ueber-uns/aktuell/medien/medienmitteilungen/verlaengerte-revision-des-kernkraftwerks-leibstadt-belastet-ergebnis-der-bkw
[5] https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-kosten-der-verlaengerten-revision-im-kkw-leibstadt-sind-groesser-als-erwartet-ld.1664485
[6] https://www.rte-france.com/eco2mix/les-donnees-de-marche
[7] https://www.la-croix.com/Economie/Nucleaire-defauts-constates-recents-reacteurs-dEDF-2021-12-16-1201190535
[8] https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/energie/energiestrategie-2050.html
[9] https://www.landbote.ch/solardaecher-ueber-autobahnen-sollen-akws-ersetzen-742894751503
[10] https://www.tagesanzeiger.ch/svp-fordert-bau-neuer-akw-530362879315
[11] https://www.tagesanzeiger.ch/spektakulaerer-kurswechsel-fdp-spitze-will-neue-akw-wieder-zulassen-778426186968
[12] https://www.sortirdunucleaire.org/Decryptage-par-la-CRIIRAD-des-incidents-sur-le
[13] https://www.nagra.ch/de/wo-entsorgen
[14] Bundesamt für Energie, 2008 (Revision vom 30. November 2011) : Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil.
[15] https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/kernenergie/radioaktive-abfaelle/sachplan-geologische-tiefenlager.html
[16] https://www.nagra.ch/de/faktenblatt-kombilager
[17] (https://www.nagra.ch/de/standortsuche, 01.02.2022)
[18] Buser, M. 2011: Erfahrungswerte bei der Planung und Umsetzung des Sachplans und des Realisierungsplans geologische Tiefenlager und Planungsgrundlagen für das weitere Vorgehen, https://pubdb.bfe.admin.ch
[19] Nagra, 2022. Gespräch mit Journalisten 24.01.2022, https://youtu.be/0ZTDPwziNHU); Eckhardt, A., 2021. Sicherheit angesichts von Ungewissheit. Ungewissheiten im Safety Case. Transens. 7. Februar 2021. https://www.transens.de/veroeffentlichungen-zur-freigabe/veroeffentlichungsdetails?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=21130&cHash=2a7203583460a0ac84523307fd530b2a