Marcos Buser & Walter Wildi
- Zum Rahmen des Expertenberichts
In den letzten zwei Jahrzehnten sind einige wichtige Entwicklungen im Umgang mit radioaktiven Abfällen in Gang gekommen. Zum einen zeigte das Beispiel Schweiz, dass grundlegende Anpassungen der Konzeptionen bei der geologischen Tiefenlagerung der Abfälle dringend notwendig wurden und eine schrittweise, experimentell gestützte und reversible Vorgehensweise zwingend erforderlich ist. Zum anderen zeigte sich, wie wir in unserem demnächst folgenden Beitrag zu einer Reise nach Schweden und Finnland aufzeigen werden, dass die Umsetzung eines konkreten Lagerprojektes sehr viel anspruchsvoller ist, als es Papierlösungen vermuten lassen. Es braucht also eine Rückkoppelung zwischen Projektumsetzung und Konzeption, welche den Fehlern und Erfahrungen bei der Umsetzung von Projekten Rechnung trägt.
Das zwischen 1999 und 2002 entwickelte EKRA-Konzept gehört zu den historisch gesehen wichtigsten und vor allem weitsichtigsten Konzeptionen im Umgang mit dem radioaktiven Legat und stiess wohl auch deshalb auf grosse gesellschaftliche Resonanz und Akzeptanz. Die ersten konzeptionellen Abklärungen gehen allerdings zeitlich viel weiter zurück – bis in das Jahr 1957. Die amerikanische Nationalen Akademie der Wissenschaften leuchtete damals die verschiedenen möglichen Endlagerungsstrategien aus und stellte das Bergwerkkonzept in ausgedienten Salzminen aus aussichtsreiche Endlageroption vor NAS (1957); gegen Ende der 1970-er und zu Beginn der 1980-er Jahre folgten die Planungen der schwedischen SKB, welche die Grundlage der von den meisten Atomenergie nutzenden Staaten heute verfolgten Endlagerkonzepte ist und auf einem speziell zu diesem Zweck hergerichteten Bergwerk beruht KBS (1978a, b); schliesslich fügte das EKRA-Konzept (EKRA 2000) diesen Konzeptionen weitere zentrale Elemente in der Form von Testbereichen und Pilotanlagen bei, die eine Überprüfung der Standorteigenschaften und die längerfristige Überwachung des Lagers mit Option auf Rückholbarkeit vorsieht. Konsequenterweise verwendete der EKRA-Bericht nicht mehr den Terminus „Endlager“, sondern führte den Begriff des „geologischen Tiefenlagers“ ein. Damit übernahm EKRA eine Forderung nach einer langfristigen Kontrolle der geologischen Lager, die schon von anderen Autoren gestellt worden war (Hammond 1979, Heierli 1979) und auch in den entsprechenden französischen Gesetzen unter dem Begriff „réversibilité“ Eingang gefunden hatte.[1] Auf diese Weise wurden nicht nur die Überwachung sondern auch die Umkehrbarkeit der Entscheide – und damit die Bergbarkeit der Abfälle – zentrale Bestandteil dieser weitblickenden Konzeption.
Das EKRA-Konzept wurde in der Schweiz von allen wichtigen Handlungsträgern begrüsst und floss damit auch in die zu diesem Zeitpunkt laufenden parlamentarischen Beratungen zum neuen Kernenergiegesetz (KEG) vom 21. März 2003 ein. Mit diesen beiden genannten Anforderungen wich das Konzept wesentlich von der vorher geltenden Regelung gemäss «Bundesbeschluss vom 6. Oktober 1978 zum Atomgesetz» ab, welche in Artikel 3 die «dauernde, sichere Entsorgung und Endlagerung» mit direktem Verschluss des Lagers nach der Einlagerung der Abfälle vorsah.
- Zustandekommen und gesetzliche Ausgangslage
Die Expertengruppe Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle (EKRA) wurde im Jahr 1999 durch Bundesrat Leuenberger ins Leben gerufen. Sie nahm ihre Arbeiten in der Folge einer mehrjährigen Debatte um die Fragen der Strategie zur Eliminierung der radioaktiven Abfälle, und insbesondere zur Überwachung der radioaktiven Abfälle (Hütekonzept versus Endlagerung, Buser 1988) auf. Dabei behandelte die EKRA die Frage sowohl aus wissenschaftlich- technologischer, struktureller wie auch aus gesellschaftlicher Sicht (EKRA 2000, 2002). Nach Konsultationen und Diskussionen mit zahlreichen Akteuren aus der Wirtschaft, der Administration und Aufsichtsbehörde, der Entsorgerorganisation und NGO’s kam sie kurz nach der Jahrtausendwende zu einem breit akzeptierten Konzept, dem sogenannte «EKRA-Konzept».
Die Umsetzung des EKRA-Konzepts ist komplexer und in jeder Hinsicht anspruchsvoller, als jenes der ursprünglich angestrebten direkten Endlagerung. Dies betrifft sowohl wissenschaftlich – technische, als auch institutionelle, rechtliche, organisatorische und im weiteren Sinn gesellschaftliche Aspekte. Sie hat auch höhere Kosten zur Folge. Im Gegenzug soll die angestrebte geologische Tiefenlagerung mit einer langfristigen Lagerüberwachung und der Rückholbarkeit der Abfälle die von der Gesellschaft geforderten Garantien für die Langzeitsicherheit der Lagerung bieten und kommende Generationen weder mit den Risiken einer radioaktiven Verschmutzung, noch mit jener einer eventuellen teuren Sanierung der Abfalllager belasten.
In der Schweiz ist bekanntlich die Nationale Genossenschaft für die Entsorgung radioaktiver Abfälle (Nagra) mit der Entsorgung betraut. Das technische Konzept der Nagra beruht seit den 1970-er Jahren auf dem durch die Schwedische KBS (Svensk Kärnbränslehantering AB) für kristalline Gesteinen entwickelten Modell, basierend auf der Isolation der radioaktiven Stoffe durch hintereinander geschaltete technische und geologische Barrieren (Multibarrieren-Konzept, Buser & Wildi 2015). Nach dem Scheitern der kristallinen Option übertrug die Nagra das von der schwedischen SKB übernommene Konzept auf den Opalinuston (NAGRA 2002), was weitreichende Folgen in Sachen Langzeitsicherheit mit sich bringt. Eine weitere Änderung betraf die Platzierung der Kanister mit abgebrannten Brennelementen, die in horizontaler statt vertikaler Position eingebracht werden sollten. Dabei ist vorgesehen, dass die robusten Abfallkanister von einer Schicht von Bentonit (vulkanisches Tonmineral) umgeben in mit Spezialzemente gesicherten Stollen eingelagert und diese verschlossen werden. Die massive Verstärkung der Stollen mit Ankern und Spritzbeton ist eine Folge der Standsicherheitsprobleme, die auch beim Auffahren der diversen Stollen im Forschungslabor des Mont-Terri (Kanton Jura) auftraten. Der Opalinuston in welchem diese Stollen angelegt sind, bildet hierbei das langfristig wichtigste Schutzdispositiv (Barriere).
Vertreter von Nagra und auch jene der Aufsichtsbehörde (Ensi) zeigten sich in informellen Gesprächen nie darüber begeistert, dass das Endlager gemäss EKRA zuerst zu einem überwachten geologischen Tiefenlager werden sollte. Sie störten sich etwa daran, dass durch die Lagerüberwachung der technische sichere Verschluss nicht sofort realisiert werden könne und zusätzliche Überwachungsmassnahmen mit Langzeitcharakter erforderlich wurden.
Aufgrund der gesetzlichen Vorlage publizierte das Ensi im Jahr 2009 seine «Richtlinie G03: Spezifische Auslegungsgrundsätze für geologische Tiefenlager und Anforderungen an den Sicherheitsnachweis», welche das neue Konzept gemäss KEG umsetzt (ENSI 2009). Kernenergiegesetz, Kernenergieverordnung und die Ensi-Richtlinie G03 definieren ein Pilotlager, in welchem ein repräsentativer Satz von Abfall ausserhalb des Hauptlagers eingelagert wird und welches der Langzeitüberwachung dient. Damit kann das Hauptlager mit dem Hauptteil der Abfälle nach dem Abschluss der Einlagerung der Abfälle und einer Beobachtungsphase verschlossen werden. Gemäss Richtlinie G03 gilt: «Störfälle im Pilotlager dürfen die Betriebs- und Langzeitsicherheit des Hauptlagers nicht beeinträchtigen und umgekehrt.» Um diese Auflage zu respektieren, muss das Pilotlager hydraulisch vom Hauptlager isoliert sein und über einen eigenen Zugang durch das Wirtgestein verfügen. Zur Illustration publizierte die EKRA (2000) eine schematische Skizze der Umsetzung dieser Forderung (Abbildung 1).
Abbildung 1: Anordnung der verschiedenen technischen Elemente des geologischen Tiefenlagers im Schnitt (nach EKRA 2000, damals «geologisches Langzeitlager») mit Testlager (heute: Testbereich[2]), Hauptlager und Pilotlager. Das Pilotlager zur Langzeitüberwachung der radioaktiven Abfälle ist hydraulisch vom Hauptlager isoliert. (p.s. die Reinzeichnung der obigen Figur erfolgte im Jahr 1999 unter Aufsicht von Frau Dr. Anne Eckardt, z.Zt. Präsidentin des Ensi-Rates, durch einen Zeichner/eine Zeichnerin von Basler & Hofmann, Zürich).
Die Nagra kümmerte das sich abzeichnende Kernenergiegesetz vom 1. März 2003 allerdings wenig. Bereits im Entsorgungsnachweis 2002 „zügelte“ sie das Pilotlager ins Hauptlager und brachte es auf diese Weise unter ihre Kontrolle (Abbildung 2). Die Sicherheitsbehörden nahmen diese grundlegende Änderung hin und der Bundesrat segnete das Projekt 2006 ab. Die Frage, wer für das ins Hauptlager gezügelte Pilotlager verantwortlich sein sollte, war damit implizit beantwortet: die Nagra. Mit einem Schlag brachte die Nagra das ungeliebte Pilotlager unter ihre Obhut und Kontrolle. Eine Diskussion mit der EKRA erfolgte nicht! Und die Sicherheitsbehörde schwieg.
Abbildung 2: Nagra-Tiefenlager für hochaktive Abfälle im Entsorgungsbericht 2002 (Nagra 2002, NTB 02-02, S. 56): das Zügeln und Kapern des Pilotlagers.
Im Jahr 2008 wurde das EKRA-Konzept im Rahmen der Überprüfung des Entsorgungsprogramms der Entsorgungspflichtigen wieder aktuell (Nagra 2008). Auch die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) wurde dazu aufgerufen, das Entsorgungsprogramm zu überprüfen. In ihrem 2011 erschienenen Bericht formulierte sie Empfehlungen zum weiteren Umgang mit dem EKRA-Konzept, darunter auch die Notwendigkeit, die Lagerkonzepte grundsätzlich zu überprüfen und dabei das „gesamte Spektrum von machbaren Konzeptionen“ einzubeziehen (KNS 2011). Allerdings verzichtete die KNS darauf, detaillierter auf technische Fragen einzugehen. So verblieb das Pilotlager auch weiterhin im Hauptlager, so wie das die Nagra bereits 2002 vorgeschlagen hatte (Nagra 2008). Bis heute. Keine der offiziellen Institutionen hielt es für notwendig, der Nagra zu widersprechen und eine gesetzeskonforme Umsetzung des EKRA-Konzeptes zu verlangen. Auch auf der heute auf Internet aufgeschalteten Lagerskizze (https://www.Nagra.ch/de/fuerhaa.htm , besucht am 6.6.2019) ist das zur Langzeitüberwachung der radioaktiven Abfälle vorgesehene Pilotlager nicht vorschriftsgemäss hydraulisch isoliert vom Hauptlager. Eine grundsätzliche Überprüfung der Lagerkonzepte unter Einbezug eines breiten Spektrums von machbaren Konzeptionen, steht ebenfalls aus. Umfassende Risikoanalysen über die gesamten Etappen des Lagerprozesses wurden vom ENSI nicht eingefordert. Auch der Lagerzugang via Rampe ist – wie von allem Anfang zu erwarten war – derselbe (Abbildung 3). Damit ist das Konzept der geologischen Tiefenlagerung weder dem Kernenergiegesetz noch der Richtlinie G03 gemäss umgesetzt.
Abbildung 3: Auslegung eines geologischen Tiefenlagers für hoch und mittel radioaktive, langlebige Abfälle gemäss Nagra (https://www.Nagra.ch/de/fuerhaa.htm , besucht am 6.6.2019). Testbereich (4) und Pilotlager (3) und das Lager für mittel aktive langlebige Abfälle (LMA, 2) liegen auf demselben Stockwerk wie das Hauptlager (1). Die verschiedenen Lagerbereiche können sich bei einem Störfall (Überflutung, Feuer, Explosion) gegenseitig beeinflussen. Damit entspricht die Auslegung nicht den gesetzlichen Vorschriften.
- Die Expertise Basler & Hofmann (2018)
Vor dem oben beschriebenen Hintergrund realisierten nun Peter Jost, Lorenza Sabbadin und Matthias Sommer von Basler & Hofmann (2018) im Auftrag des Ensi eine Expertise mit dem Titel «Verschlussmassnahmen in Krisensituationen». Konkret geht es darin um die Frage der Risiken im Zusammenhang mit der Offenhaltung des Tiefenlagers im Rahmen der Lagerüberwachung und um eventuelle Massnahmen zur Begrenzung der Risiken.
Zum Ziel der Studie schreiben die Autoren in der Zusammenfassung (S. 1): «Der Fokus der Studie liegt auf den untertägigen Bauwerksteilen des HAA-Lagers während der Einlagerungs- und Beobachtungsphase und fokussiert auf Situationen, in welchen keine aktive Kontrolle mehr durch den Betreiber oder den Staat über das Lager ausgeübt werden kann. Ein Kontrollverlust durch einen Störfall während des Betriebs oder bedingt durch terroristische Aktivitäten wird hierbei nicht betrachtet.» Konkret geht es auch darum, „Erkenntnisse für die Revision der Richtlinie ENSI-G03 zu gewinnen.“ (S.3)
Nach einer Beschreibung des Tiefenlagers, einer Szenarienanalyse, der Charakterisierung des Kontrollverlustes und dessen Auswirkung auf das Lager folgen Überlegungen zu verschiedenen möglichen Massnahmen und Empfehlungen. Die Autoren fassen ihre Schlussfolgerungen wie folgt zusammen (S. 1, 2):
«Die vorliegende Studie kommt zum Schluss, dass mit dem aktuellen Lagerkonzept der Nagra schon viel erreicht ist, um negative Auswirkungen auf das Tiefenlager im Fall eines Kontrollverlustes zu reduzieren. Weitere Optimierungen sind aus Sicht der Autoren dieser Studie möglich, entsprechende Massnahmen sind im Kapitel 4.4 aufgeführt. Das grösste Potential zur Risikominimierung liegt nach Ansicht der Studienautoren jedoch in einer kritischen Hinterfragung des Prozesses bis zum Verschluss des Hauptlagers. Die Wahrscheinlichkeit eines Kontrollverlustes über das Lager wird grösser, je länger das Projekt bis zum Verschluss des Lagers dauert. Massgebend für die Dauer ist dabei die Beobachtungsphase, welche mehrere Jahrzehnte oder gar über 100 Jahre dauern kann. Die Autoren dieser Studie empfehlen, eine sorgfältige Abwägung aller Chancen und Risiken der geplanten Beobachtungsphase vorzunehmen unter Berücksichtigung der Risiken eines möglichen Kontrollverlustes über das Lager während dieser Phase. Sollte der Nutzen der Beobachtungsphase nicht eindeutig belegt werden können, empfehlen sie auf die Beobachtungsphase zu verzichten und das Lager möglichst bald nach Abschluss der Einlagerung zu verschliessen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind im Hinblick auf die Standortwahl des Tiefenlagers auch unter dem Gesichtspunkt eines potentiellen Kontrollverlustes über das Lager in der Zukunft adäquat. Die darüber hinaus gehenden Rahmenbedingungen für die weitere Projektentwicklung berücksichtigen nach Ansicht der Autoren die Möglichkeit eines Kontrollverlustes über die Abfälle jedoch nur am Rande. Eine kritische Betrachtung und Diskussion dieses Themas gerade auch im Hinblick auf die Baubewilligung könnte zu einer sicherheitsgerichteten Optimierung des Verfahrens zur Realisierung eines Tiefenlagers beitragen.»
- Mängelliste
Der Expertise von Basler&Hofmannn (2018) kann gutgeschrieben werden, dass sie versucht, den Ablauf der Prozesse während und nach der Einlagerung der radioaktiven Abfälle zu analysieren und eventuelle Risiken für das geologische Tiefenlager zu identifizieren. Sie schlägt sodann mögliche technische und begrenzt auch organisatorische Lösungen zur Minimierung der Auswirkungen eines Kontrollverlusts auf. Hingegen ist die Studie mit vielen, auch grundlegenden Lücken und Fehlern behaftet, welche die Resultate weitgehend relativieren und die Studie als Ganzes fundamental in Frage stellen. Hier sollen einige dieser Punkte aufgezeigt werden.
4.1 Verwendung nicht publizierter Schlüsseldokumente für die Expertise
Das Konzept der Lagerauslegung der Nagra ist gemäss Expertise von Basler&Hofmann im Bericht „Nagra (2016): Vorhaben ‚HAA-Lager’ – Anforderungen, Rahmenbedingungen und modellhafte Umsetzung im Rahmen der Kostenstudie 2016, Nagra unpubl. Interner Bericht“ niedergelegt.
Dieses Konzept stellt ein Schlüsseldokument für die Expertise dar und ist aufgrund der Vorgaben an die Überprüfbarkeit – und somit der Anforderung an die Transparenz – zwingend öffentlich zu halten. Die Offenlegung von wissenschaftlichen Dokumenten müsste eigentlich nach bald 50 Jahren der Diskussionen um das Publikationsgebot definitiv ad acta gelegt werden können, indem Berichte der Nagra nach deren Fertigstellung automatisch publiziert und damit zugänglich gemacht werden. Dies wird als schwerer Mangel an der heutigen Publikationspraxis angesehen und färbt dementsprechend auch auf den Bericht von Basler&Hofmann ab.
4.2 Genereller Kontext und Systemgrenzen
Die Studie von Basler & Hofmann beschränkt sich entsprechend dem Ensi-Auftrag auf die Einlagerungs- und die Beobachtungsphase des Tiefenlagers, d.h. gemäss Autoren auf ca. 65 Jahre Betriebszeit (siehe Abbildung 4). Die sogenannte „Betrachtungsphase 0“ zwischen Standortwahl und nuklearer Baubewilligung des Tiefenlagers – also weitere 50 Jahre – ist nicht Gegenstand der Risikobetrachtung. In diesem Zeitraum liegen die hochaktiven Abfälle nämlich in verschiedenen Anlagen über Tage (z.B. Zwischenlager).
Abbildung 4: Zeitplan der Nagra aus dem Entsorgungsprogramm 2016
Die Studie fokussiert auf mögliche Kontrollverluste durch gesellschaftliche Krisensituationen und beruft sich mehrmals auf ein Vortragsmanuskript von Georg Klubertanz, Peter Hufschmied und Erik Frank aus dem Jahr 2007, welches Fragen des Selbst-/ und Schnellverschlusses eines geologischen Tiefenlagers nachgeht. Die Betrachtung möglicher gesellschaftlicher Zusammenbrüche erfolgte laut diesen Autoren jedoch nur „oberflächlich“ und mündete gerade nur in der Feststellung, dass solche Krisensituationen jederzeit möglich sind (Klubertanz et al. 2007, S.3). Interessant ist deshalb, dass die Ingenieure von Basler&Hofmann das Krisenszenario genau auf den Zeitpunkt des Verschlusses des Lagers im Jahr 2090 setzen (siehe Abbildung 4) und dann die Frage stellen, ob eine Langzeitbeobachtung unter dannzumal herrschenden Voraussetzungen überhaupt sinnvoll ist (S. 10). Die Studie erkennt die hauptsächliche Schwachstelle dieses Ansatzes selber, indem sie feststellt: „Eine Betrachtung der Oberflächenanlage wäre im Rahmen einer umfassenden Gesamtstudie zu den Risiken eines Kontrollverlustes angezeigt, welche auch bei Kernkraftwerken und speziell beim ZWILAG das Thema eines möglichen Kontrollverlustes in Krisensituationen betrachten müsste“ (S. 10). Eine Empfehlung an das ENSI, gerade diese grössten Risiken möglichst rasch zu analysieren und die strategischen und betrieblichen Konsequenzen zu ziehen, erfolgt aber nicht.
In der Tat sind diese Risiken von einer ganz anderen Dimension. Sie werden aber von unserer Gesellschaft offensichtlich völlig ausgeblendet. Solange nichts passiert, lebt man in der besten aller Welten. Das Vorsorgeprinzip, wonach die Minderung derart grosser Risiken für eine Gesellschaft absolute Priorität haben müsste, scheint vergessen. In Zusammenhang mit der Forderung des Blog-Autoren zur Sicherstellung einer bedeutend besser gesicherten und risikoärmeren Zwischenlagerung in Kavernen unter Tage, meinte die Nagra noch im Frühjahr 2019, ein solches Ansinnen sei „unbegründet“.[3] Man muss sich schon fragen, wie es überhaupt möglich ist, dass derart offensichtliche Gefahrenquellen über Tage in dieser Art und Weise ignoriert werden. Um gleichzeitig gesellschaftliche Krisensituationen in einem Tiefenlager zu bekräftigen, während dem hinter den Kulissen Laufzeitverlängerungen für den verbleibenden Reaktorpark auf 60 Jahre vorbereitet werden. Die Widersprüche sind derart offensichtlich und markant, dass man sich schliesslich auch fragen muss, ob nicht völlig andere Gründe hinter der hier angedachten Vorschlag stecken: nämlich unter dem Vorwand „dramatisierter“ Risiken unter Tage das Monitoringprogramm im Tiefenlager die Beobachtungsphase zu kürzen, die gesetzlich installierten Kontrollinstrumente zu schwächen und damit die Entsorgungskosten wo auch immer zu senken.
4.3 Erfahrung aus bestehenden Untertage-Deponien für radioaktive und Sonderabfälle
Wie in einer rezenten Publikation dargestellt (Buser & Wildi 2018), zeichnen sich nämlich Untertagedeponien für Sonderabfälle und radioaktive Abfälle weltweit v.a. durch schwere Unfälle und ihre Havarien aus. Falsche Einschätzung der geologischen Verhältnisse und damit verbundene Wasserinfiltration, oder Wassereinbrüche, Brand auf Grund einer fehlerhaften Einlagerungspraxis, hanebüchene Sicherheitskulturen u.a.m. waren Paten dieser Misserfolge, sodass heute weltweit unseres Wissens keine derartigen Anlagen langfristig als sicher betrachtet werden können. Die Fällen häufen sich und eine Vielzahl heute noch betriebener Tiefenlager für chemotoxische und radioaktive Abfälle sind als heisse Kandidaten für ein Fortschreiben dieser Unfallgeschichte zu betrachten. Diese Fakten hätten in der Studie von Basler & Hofmann (2018) eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Und vor allem eine Folgerung verdient: dass eine solche Situation dringend hätte ausgeleuchtet werden sollen.
Stattdessen hält die Studie diesbezüglich vor allem fest (S. 13): «Kurzfristige Kontrollverluste ausgelöst durch Störfälle (z.B. einen Brand im Tiefenlager oder einen Wassereinbruch im Bereich der Zugangsbauwerke) können zwar ebenfalls eintreten, sind aber im Zuge der Störfallanalysen zu adressieren.» Wie oben aufgezeigt ist diese Abgrenzung nicht haltbar, sind es neben offensichtlichen Führungsmängeln und Defiziten in der Sicherheitskultur, gerade solche Ereignisse die zum Verlust der Kontrolle und zur Aufgabe der Anlagen führen.
4.4 Falsche Lagerauslegung und weitere Auslegungs-Defizite
Die Studie von Basler&Hofmannn (2018, Abb. 3) geht von der falschen, d.h. nicht gesetzeskonformen Lagerauslegung der Nagra aus (Abb. 5).
Abbildung 5: In der Studie von Basler&Hofmann (2018) verwendete Lagerauslegung. Diese aus einem internen Bericht der Nagra (2016) übernommene Auslegung ist nicht Gesetzeskonform und steht aus im Widerspruch zu den Anforderungen von KEG, KEV und Ensi-Richtlinie G03.
Dies betrifft insbesondere die Anordnung des Pilotlagers, welches weder hydraulisch vom Hauptlager isoliert ist, noch über einen eigenen Lagerzugang durch das Wirtgestein verfügt. Diese Fragen werden im Bericht erwähnt (z.B. S. 20). Trotzdem wird die gesetzlich geforderte Lagerauslegung nicht als Grundlage der Expertise ausgewiesen.
Die vorliegende falsch gewählte Ausgangslage hat zur Folge, dass die Studie von Basler & Hofmann das Pilotlager als solches (d.h. mit seinem höchst eigenen Abfallinventar) und in seiner Funktion kurz- wie auch langfristig funktionierende Überwachungsanlage nicht einbezieht. Dies kann in mancher Hinsicht zu falschen Schlüssen führen, sowohl bei den zu betrachtenden Risiken, als auch dann, wenn es um Massnahmen zum Schutz der verschiedenen Lagerteile geht.
Hinzu kommen weitere Auslegungsfragen des Tiefenlagers, die zumindest hätten aufgelistet werden müssen. Etwa das Beispiel „Rampe“ und die zu beherrschenden Zuflüsse bei der Querung grundwasserführender Horizonte (z.B. Malm) sowie eine Evaluation der Sicherheit über die verschiedenen Betriebszustände, die seit dem Jahr 2011 einer Beantwortung bedarf und in Buser (2018, S. 155-160) ausgiebig beschrieben wird. Betrachtet man die unterschiedlichen Risiken welchen ein geologisches Tiefenlager einerseits durch den Zugang über einen fahrbaren Stollen (sogenannte Rampe) und andererseits durch vertikale oder geneigte Minenschächte ausgesetzt ist, kann man daran zweifeln, dass die undifferenzierte Betrachtung in der Expertise einen Sinn macht. In Tat und Wahrheit liegt heute noch keine umfassende Sicherheitsanalyse zu diesen unterschiedlichen Bauwerken vor.
Oder Beispiel „Lagerstollen“, mit den langen, parallel angeordneten „Spaghetti“-ähnlichen Stumpen-Stollen. Man kann Zweifel anzubringen, ob eine solche Anlage überhaupt langzeitsicher gebaut beziehungsweise sicher betrieben werden kann. Sicherheitsrelevante Fragen sind etwa: wie wirken sich die Spannungsumlagerungen beim Vortrieb der mehrere hundert Meter langen Stollen auf die Verformung der umliegenden Anlageteile aus? Welche Sicherungsmassnahmen sind erforderlich, insbesondere zur standsicheren Auskleidung der langen Stollen? Wie reagiert eine solchermassen zementstabilisierte Anlage auf die Spannungsumlagerungen in einem elastischen Lagermilieu? Welche Rolle spielen die Temperaturpulse durch das Einbringen der heissen Abfälle und wie reagiert das starre zementierte Konstrukt? Was bedeutet eine solche Entwicklung für die EDZ (Excavated Damaged Zone = durch den Stollenausbruch entstandene Schadenszone) um die Stollenwände? Lassen sich unter solchen Voraussetzungen dichte Abschluss-Pfropfen herstellen? Die Autoren der Studie (S. 20) schreiben zwar, der Kollaps eines Lagerstollens sollte keinen negativen Einfluss auf die geologische Barriere eines benachbarten, bereits verfüllten Lagerstollens haben, doch sie belegen diese Aussage nicht. Was passiert z.B., wenn Wasser in die EDZ einfliesst und was bedeutet dies für die Gesamtstabilität des Systems? Wenn Wasser die Hauptgefährdung des Lagers darstellt (S. 21), müsste auch beantwortet werden, was ein solcher Fall für Folgen während des Baus der Anlage hätte (S. 19 der Studie wirft diese Frage zumindest auf) etc. Solche Sicherheitsfragen gehören beantwortet, und zwar in einer offenen Analyse und einem offenen Diskurs.
Schliesslich verweisen die Autoren auf die Komplexität der Anlage und den daraus resultierenden widersprechenden Anforderungen (S. 19) und folgern richtigerweise, dass eine Gesamtbetrachtung des Systems notwendig ist. Sie schliessen mit dem Satz (S. 20): „Eine solche Gesamtbeurteilung hat durch die Nagra zu erfolgen.“ Eine Begründung fehlt. Wir kommen in Punkt 4.7 der Mängelliste auf diese zentrale Frage zurück.
4.5 Undifferenzierte Behandlung der Abfallform
Die Konditionierung der Abfälle kann die Sicherheit eines Tiefenlagers beeinflussen. Dies kann beispielsweise durch die Gasproduktion im Lager geschehen, sei es durch die Zersetzung von organischen Stoffen in undichten Gebinden von schwach und mittel radioaktiven Abfällen, oder durch katalytische Prozesse beim Kontakt von Wasser mit Stahlkanistern mit hoch radioaktiven Abfällen. Diese Prozesse sind unabhängig von der Lagerauslegung. Hingegen erlaubt die Lagerüberwachung die Feststellung von Lecks und somit bei Bedarf korrigierende Massnahmen. Diesem Umstand, und allgemein der Tatsache, dass Fehler und Pannen bei allen Grossprojekten auftreten und im vorliegenden Fall der Langzeitlagerung radioaktiver Abfälle keine Toleranz erlauben, hätte die Expertise in hohem Masse Rechnung tragen müssen. Auch in diesem Fall müssten diese Fragen im Rahmen von Gesamtbeurteilungen grundlegend neu behandelt werden.
4.6. Versuchter Abschuss der Rückholung und des EKRA-Konzepts
Wie wir einleitend gesehen haben, ist die Rückholbarkeit der Abfälle ein fundamentaler Pfeiler eines Konzeptes für die Verbringung radioaktiver Abfälle unter Tage. Es ist gesetzlich festgeschrieben und wurde seither von niemandem in Frage gestellt. Nicht so die Autoren des Berichtes von Basler und Hoffmann, welche die Rückholung einfach „abschiessen“, zum Teil mit hanebüchenen Argumenten.
Die Autoren des Berichts vertreten vereinfacht gesagt folgende Argumentationslinie (S. 24-25): Da mit schweren gesellschaftlichen Krisen zu rechnen ist (Beispiel im Jahr 2090), sei es am besten, den gesamten Endlagerungsprozess zu beschleunigen. Diese Beschleunigung führe dazu, dass die Rückholbarkeit der Abfälle ohnehin nicht mehr in Betracht zu ziehen sei, weil ja das ZWILAG bereits zurückgebaut wäre, und somit ein Zwischenlager neu erstellt werden müsste: „Schon aus diesem Grund ist die Rückholung ohne grossen Aufwand im Sinne einer ‚schnellen’ Rückholung nicht realistisch.“ (S. 24). „Wenn keine zwingenden Gründe für eine möglichst rasche Rückholung vorhanden wären, sollte zuerst ein neues Entsorgungskonzept bis zur Ausführungsreife gebracht werden, bevor mit der Rückholung begonnen würde.“ (S. 25). Was nichts anderes heisst, dass man auch auf eine erleichterte schnelle Rückholung verzichten muss. Mit solchen Argumentationen versuchen die Autoren der Studie offensichtlich die Rückholung zu torpedieren und zu liquidieren.
Die Argumentationen erreichen ein Mass an Widersprüchlichkeit, die kaum zu übertreffen sind, wie das folgende Beispiel zeigt: „Nach Ende der Einlagerungsphase ist seitens des Projektverfassers vorgesehen, dass ca. 10 Jahre der Beobachtungsphase abgewartet werden sollen, bis das Hauptlager verschlossen wird (siehe Abbildung 9). Während dieser Zeit wird viel bautechnische Erfahrung und Routine verloren gehen, da in diesem Zeitraum die erfahrensten Mitarbeiter pensioniert werden, Mitarbeiter die Stelle wechseln, bewährte Maschinen ihr Lebensende erreicht haben oder Lieferketten abreissen. Ein direkter Verschluss des Hauptlagers bis Oberkante des Wirtgesteins nach Ende der Einlagerungsphase erscheint den Autoren dieser Studie deshalb als erstrebenswert. “ Mit dieser an den Haaren herbeigezogenen apokalyptischen Betrachtungsweise fragt man sich, wie die Autoren der Studie den verlängerten Weiterbetrieb der Kernkraftwerke (60 Jahre und ev. mehr), des ZWILAGs und anderer Zwischenlager überhaupt rechtfertigen können. Vor allem in der Zeit bis zum Einlagerungsende der Abfälle im dannzumaligen Lager im Jahr 2075! Selbst wenn ein Wissensverlust am Ende einer Projektetappe erfolgt, heisst dies noch lange nicht, dass eine Gesellschaft handlungsunfähig wird. Ein gutes technisches Beispiel des Gegenteils sind die Altlastensanierungsprogramme für Siedlungs- und Industrieabfälle. Dass die Welt à priori auch bei schweren gesellschaftlichen Krisen nicht untergehen muss, zeigt der Zusammenbruch der Sowjetunion und seiner Satellitenstaaten aufgrund der Wirtschaftsdepression gegen Ende des 20sten Jahrhunderts klar auf (Welt 2016): Es kam zu keinem ernsthaften Zwischenfall im Bereich der zivilen Atomenergienutzung nach der Auflösung der UdSSR im Jahr 1991. Und dies zur gleichen Zeit, da auch regionale Kriege (z.B. Tschetschenien [1994-1996, 2004-2009], Transnistrien [1992], Georgien und Abchasien [1992-1993], Dagestan [1996] usw.) auf dem ehemaligen Gebiet der Sowjetunion wüteten (Wikipedia 2019.
Das Fazit solcher Argumentationslinien liegt auf der Hand: Die Studie von Basler&Hofmann ist – wie wir auch noch in Zusammenhang mit der Aussage zum Verzicht der Beobachtungsphase (S. 24) sehen werden (Punkt 4.7) – eindeutig auf die Abschaffung der weitsichtigen Planungen des EKRA-Konzeptes angelegt.
4.7 Institutionelle Aspekte und vorgefasste Beschlüsse
Institutionelle Aspekte spielen in der Lagersicherheit im Allgemeinen und in der Frage des Verlusts der Lagerkontrolle eine fundamentale, aber leider unterschätzte Rolle. Auf S. 20 behandelt die Expertise von Basler & Hofmann kurz Fragen der staatlichen hoheitlichen Rolle und den Konsequenzen einer Schwächung dieser Rolle. Nicht behandelt werden die generellen Fragen der Organisation und der Verantwortlichkeiten der Abfallproduzente und des Staates. Insbesondere, wenn auch in Betracht gezogen wird, dass laut Kernenergiegesetz Art. 31 (Ziffer 1) der Entsorgungspflichtige seine Entsorgungspflicht mit dem Einlagern der Abfälle im Tiefenlager und der Sicherstellung der finanziellen Mittel für die Beobachtungsphase und den allfälligen Verschluss beendet hat. Die institutionellen Aspekte aus dieser absurden Rollenteilung sind – von der immer noch unter Verschluss gehaltenen Studie des Jahres 2016 (Buser 2016) – nicht ein einziges Mal in den letzten bald 20 Jahren durchdacht worden. Es ist völlig unsinnig, den Betreiber einer Hochrisikoanlage im Verlauf ihres Betriebs auszuwechseln.
In das gleiche Kapitel gehört die schon unter Punkt 4.4 erwähnte Zuweisung der Gesamtbeurteilung einer Anlage in die Zuständigkeit der Nagra, der auch Artikel 31 KEG fundamental widerspricht. Gemäss ihrem Web-Site (https://www.Nagra.ch/de/auftrag.htm ) hat die Nagra den Auftrag die Sicherheitsnachweise für die vorgeschlagenen Standorte geologischer Tiefenlager zu erbringen. Dieser Auftrag dürfte mit der Annahme der Rahmenbewilligung formell erfüllt sein. Für die Phasen des Lagerbaus, des Betriebs, des Verschlusses und der Überwachung – und somit auch der Gesamtbeurteilung der Sicherheit – ist folglich eine Neuorganisation vorzusehen. Langfristig wird die Verantwortung mit allergrösster Wahrscheinlichkeit durch eine staatliche Organisation wahrgenommen werden müssen. Bleibt die Frage, wann der Übergang von einer teils privatrechtlich-parastaatlichen zu einer vollkommen öffentlich – rechtlichen Übernahme der Verantwortung erfolgen wird.
Die Zeitspanne vom Lagerbetrieb bis zum Lagerverschluss wird in der Expertise von Basler & Hofmann behandelt. Während dieser, heute nicht geregelten Periode, ist die Frage der Projektorganisation und insbesondere der Verteilung der Verantwortungen ein wesentlicher Aspekt der Lagersicherheit. Je nach Organisation verlieren gewisse durch die Expertise ausgewiesenen Risiken an Gewicht, während andere Aspekte an Gewicht gewinnen können. Eine Analyse verschiedener Szenarien wären angezeigt gewesen. Jedenfalls ist diesem Anspruch nicht Genüge getan, wenn die Autoren die „Claim“-Ansprüche der Nagra auf eine umfassende Bearbeitung der Entsorgungsfrage stützen, inklusiv Langzeitsicherheitsfragen, die eigentlich laut Art 31 KEG kaum noch in deren Zuständigkeitsgebiet liegen dürften.
Es ist dicke Post, wenn ein Ingenieurbüro den Bundesrat auffordert, sich darauf vorzubereiten, Notrecht anzuwenden, und dieses bereits delegieren soll: „Andererseits sollten vorgefasste Beschlüsse verabschiedet werden, um auch in sich anbahnenden Krisensituationen möglichst lange handlungsfähig zu bleiben. Der obengenannte Kriterienkatalog sollte beispielsweise durch den Bundesrat verabschiedet und die Entscheide gefällt werden, was bei Eintreten der einzelnen Kriterien zu tun ist. Analog des Ereignismanagements von Krisenstäben stellt die Vordefinition von Entscheidungsketten und das Fällen der notwendigen Entscheide in regulären Zeiten sicher, dass nicht in einer sich abzeichnenden Krisensituation wertvolle Zeit durch das Abwarten von Entscheiden verloren geht. Ausserdem kann damit das Risiko reduziert werden, dass Entscheide nicht getroffen werden aus politischem Kalkül oder durch Verlust der Entscheidungsfähigkeit der Regierung. (S. 22).“ Das Schweizer Parlament dürfte sich an einem solchen Vorgehen und einer solchen Regelung besonders « freuen ». Im Sinne des Vorsorgeprinzips wäre es im jedem Fall sinnvoller, die in den heutigen Zwischenlagern ungenügend geschützten Abfälle baldmöglichst in gesicherte unterirdisch angelegte Zwischenlager zu überführen, um gesellschaftlichen Risikosituationen besser zu begegnen.
Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe eines technischen Ingenieurbüros ist, Empfehlungen zuhanden des Projektanten abzugeben, wie dies zum Schluss des Berichtes erfolgt (S. 25). Wenn schon, hätte eine solche Empfehlung an das ENSI gerichtet werden müssen. Dass das ENSI als Sicherheitsbehörde hier nicht eingreift, ist bemerkenswert!
4.8. Unterschätzung der Rolle der öffentlichen Akzeptanz als Faktor der Langzeitsicherheit
Transparenz und Informiertheit tragen wesentlich zur Akzeptanz von Risikoanlagen bei. Sie bilden die Basis zum öffentlichen Vertrauen für deren Betreiber und für die Aufsicht über die Betreiber. Ohne dieses Vertrauen wird in der Schweiz nie eine Entsorgungsanlage für radioaktive Abfälle gebaut und betrieben werden (EKRA 2002).
Vertrauen in eine Risikoanlage kann nur entstehen und bestehen, wenn Kontrolle und Überwachung die Sicherheit belegen können. Aus diesen Überlegungen entstand sowohl das Konzept und darauf basierend die heutige gesetzliche Regelung im Kernenergiegesetz, welche Überwachung als ein wesentliches Element der Sicherheit festschrieb und diese neben den technischen und natürlichen als eine weitere vollwertige Sicherheitsbarriere anerkennt (Abb. 6).
Abbildung 6: «Massnahmen» (wie etwa die Lagerüberwachung) als sogenannte «aktive Sicherheitsbarriere» für ein geologisches Tiefenlager (EKRA 2000, Abb. 7).
So betrachtet schiessen die Analysen und Empfehlungen der Autoren der Expertise von Basler & Hofmann zu kurz. Ein Massnahmenprogramm umfasst nicht nur technische Regelungen und übergeordnete Massnahmen und Überlegungen mit der Absicht, die Überwachung grundlegend zu schwächen. „Sollten über einen Beobachtungszeitraum von bis über 100 Jahren hinweg die Modellannahmen für den Nachweis der Langzeitsicherheit nicht zuverlässig bestätigt respektive ungewollte Entwicklungen im Tiefenlager zuverlässig erkannt werden können, sollte nach Ansicht der Autoren auf die Beobachtungsphase verzichtet werden“ (S.24). Die Zielsetzung dieser Zeilen ist klar und eindeutig: Gesellschaftliche Krisensituation und unüberprüfbare Modelle werden vorgeschoben, um den Überwachungszeitraum herunter zu fahren und damit auch die Kontrolle des Lagers, damit die Kosten des Experiments gesenkt und das ungeliebte EKRA-Konzept endlich versenkt werden können. Dass das Entsorgungsmodell Schweiz, dass seit rund 50 Jahren einen Fehlschlag nach dem anderen produziert, auf diese Weise nicht weiter kommen kann und wird, sollte auch dem Ensi grundsätzlich zu denken geben.
5. Fazit
Wie aus der obigen Analyse hervorgeht, behandelt die Expertise Basler & Hofmann (2018) Aspekte der Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers entsprechend dem Nagra (2016)-Projekt. Die heute noch von der Nagra vorgesehene Lagerauslegung ist allerdings nicht gesetzeskonform, und nicht allein aufgrund einer falschen Auslegung des Pilotlagers, welches als Anhängsel des Hauptlagers seine Funktionen nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewähren kann. Denn die Expertise von Basler & Hofmann weist eine Vielzahl von Lücken und Schwächen auf, welche die daraus gezogenen Schlüsse und Empfehlungen untergraben. Insbesondere die klar formulierte Absicht, sogar auf die sogenannte Beobachtungsphase[4] zu verzichten, dient mehr der Schaffung eines Ruhekissens für die zuständige Administration, als einer wissenschaftlich und ethisch vertretbaren Massnahme. Mit einem Verzicht auf die Beobachtungsphase und der praktischen Integration des Pilotlagers ins Hauptlager wird auch die Rückholbarkeit der radioaktiven Abfälle torpediert. Damit wären wir wieder beim Konzept der Endlagerung angelangt, welches am Ende des 20. Jahrhunderts über Bord geworfen wurde. Und womöglich steht die Schweiz in der Frage des Umgangs mit ihren radioaktiven Abfällen auch wieder dort, wo auch das „Wellenbergprojekt“ kurz nach der Jahrtausendwende stand: Nämlich vor dem nächsten Absturz.
Der Bericht von Basler&Hofmann fügt nicht nur der Sache an sich grossen Schaden zu. Auch die Autoren haben sich mit ihren Aussagen, die weit über ihrem Kompetenzbereich liegen, viel zu weit aus dem Fenster herausgelehnt, können sie doch in keiner Art und Weise den Sachverstand in historischen und politologischen Wissenschaften beziehungsweise als Risikospezialisten vorweisen. Ist der Bericht eine Rauchpetarde, die gezündet wird, um die Stimmung im Lande auszuloten? Es ist ja nicht das einzige eigenartige Signal, das von den Behörden und der Nagra gegenwärtig ausgesendet wird. Schlussfolgernd kann man der Sicherheitsbehörde jedenfalls nur empfehlen, den von ihr in Auftrag gegebenen Bericht von Basler&Hofmann baldmöglichst und definitiv aus dem Verkehr zu ziehen und – wenn schon – eine Analyse vorzulegen, die nicht nur die gesetzlichen Grundlagen respektiert, sondern auch inhaltlich und fachlich konsistent ist.
Und ein Hinweis ans Ensi: Wäre es nicht besser, wissenschaftlich wie auch gesellschaftlich derart sensible Fragen durch ein interdisziplinäres Team von unabhängigen Sozial-, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren bearbeiten zu lassen und öffentlich zu diskutieren?
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[1] Loi n° 91-1381 du 30 décembre 1991 relative aux recherches sur la gestion des déchets radioactifs, Journal Officiel de la République Française, 1 janvier 1992, Art. 3.1 und 4.
[2] Die Kernenergieverordnung Art. 65 Im Entsorgungsprogramm 2016 tauchte für den Testbereich der neue Begriff „EUU“ (Erdwissenschaftliche Untersuchungen Untertage) auf, was aber bisher nicht in Einklang mit dem EKRA-Konzept beziehungsweise dem Kernenergiegesetz und seiner Ausführungsverordnung gebracht wurde.
[3] Tagesanzeiger, Geologe stellt Schweizer Konzept in Frage, 23. April 2019
[4] nicht zu verwechseln mit der Langzeitüberwachung
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