(Bild: Riffkalk an der Gisliflue)
Von Walter Wildi, André Lambert und Marcos Buser
Das Riff
Am 25. November 2019 hielt Dr. Michael Schnellmann (Nagra) vor der Geologischen Gesellschaft Zürich einen Vortrag mit dem Titel «Neue Einblicke in den Untergrund: Was die aktuellen Untersuchungen der Nagra über die geologische Entwicklung der Nordschweiz verraten». Und die wohl markanteste geologische Neuigkeit: In der Tiefbohrung Bülach wird der für die Lagerung hoch radioaktiver Abfälle als Wirtsgestein vorgesehene Opalinuston mehr oder weniger direkt durch Riffkalke überlagert!
Ein fossiles Korallenriff in Bülach, etwa 170 Millionen Jahre alt, geologisch im Mittleren Braunen Jura (Mittlerer Dogger) gelegen!
Abbildung 1: Bülach vor 170 Millionen Jahren (oder fast . . .)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Timor_Coral_Reef.jpg
Für die Bevölkerung von Bülach muss es ein erhebendes Gefühl sein zu wissen, dass sie über einem Korallenriff wohnt! Auch für alle an Erdgeschichte interessierten Geologen und andere Personen, ist dies eine äusserst interessante und recht unerwartete Information. Für die nukleare Entsorgung gemäss «Sachplan geologische Tiefenlager» sieht es allerdings etwas anders aus, und für die Nagra ist die Sache wohl eher peinlich.
Riffkalk und nukleare Sicherheit
Im Hinblick auf die Sicherheit des geologischen Tiefenlagers bedeutet die Entdeckung der Nagra, dass in Bülach das Wirtsgestein direkt mit einer das Tiefengrundwasser leitenden Gesteinsformation in Verbindung steht, einem Grundwasserleiter und -träger. Anstelle der im Bohrgesuch (Nagra NSG 17-02, S. 5) dargestellten «Tongesteinsabfolge Brauner Jura», welche als Element des sog. „Einschlusswirksamen Gebirgsbereichs“ der natürlichen Barriere im Dach des Opalinustons (also der Oberen Rahmengesteine) zur Langzeitsicherheit hätte beitragen sollen, findet sich nun ein Grundwasserleiter. Dieser könnte nukleare Schadstoffe aus dem Lager über rasche Fliesswege in die Umwelt verbreiten. Damit dürfte die ganze Zone, in welcher Riffkalke vorkommen, sowie die hydraulisch damit verbundene Umgebung, als möglicher Standort für ein Tiefenlager wegfallen.
«Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» (deutsches Sprichwort)
Die Nagra begründete ihr Sondiergesuch (NSG 17-02) damit, dass sie in Bülach die von ihr erwartete mergelige Schichtabfolge erbohren will, welche den Schutz des geologischen Tiefenlagers garantieren wird (siehe hierzu Abb. 2, das Prognoseprofil). Allerdings hegten die Nagra-Geologen aufgrund der seismischen Signatur bereits gewisse Zweifel, schrieben sie doch (op. cit. S.6): «Es gibt Hinweise, dass die in der Sondierbohrung Weiach 1 beobachtete Gesteinsabfolge des ‚Braunen Doggers‘ nicht repräsentativ für das ganze Standortgebiet NL sein könnte. Einerseits zeigen reflexionsseismische Analysen des ‚Braunen Doggers‘ im östlicheren Teil des Standortgebiets NL eine etwa N-S streichende „Schwellenzone“, welche bisher nicht erbohrt wurde und welche möglicherweise mächtigere quarzsandige oder kalkarenitische Barrenkörper beinhalten könnte (. . .). Andererseits kommt es westlich der Sondierbohrung Weiach 1 zu einem Faziesübergang vom ‚Braunen Dogger‘ zu seinen westlichen Äquivalenten (. . .). Dabei ist momentan nicht auszuschliessen, dass sich die bis über 5 m mächtige Sandkalkabfolge des Sissach-Members der Passwang-Formation, wie sie in der EWS-Bohrung Tegerfelden-2 oder in Aufschlüssen im Bereich der West-Lägern beobachtet wurde (. . .), bis in das Standortgebiet ausdehnt (vgl. Beilage A2-3 in Nagra 2014b, Dossier II). Der Spatkalk der Hauptrogenstein-Formation könnte ebenfalls von Westen her bis in den westlicheren Teil des Standortgebiets auftreten.»
Aber es kam schlimmer: Die Bohrung traf auf mächtige Riffkalke (das erbohrte Profil ist im Moment der Redaktion dieses Beitrags noch nicht publik). War dies voraussehbar? Die Antwort lautet klar: Ja, der Ausschnitt aus einem seismischen Profil welches der Referent in seinem Vortrag vom 25.11.2019 projizierte (Abb. 3), zeigt in einem Ost-West-Profil zwei Zonen mit der typischen Riffsignatur. Davon ist allerdings im Prognoseprofil (Abb. 2) nichts zu sehen.
Abbildung 2: Prognoseprofil aus dem Sondiergesuch Bülach (NSG 17-02). Die erbohrten Riffkalke finden sich im Braunen Jura. Sie sind im Prognoseprofil in keiner Weise dargestellt.
Aus diesem Umstand kann man schliessen, dass die Nagra wichtige in der Seismik enthaltene geologische Information nicht in ihr Gesuch für eine Tiefbohrung in Bülach einfliessen liess. Sie bohrte in einem gewissen Sinn «mit verbundenen Augen». (In der Ölindustrie nennt man dies «wildcut drilling»). Erst ein zweiter Blick auf die seismischen Profile, nach Abschluss der Tiefbohrung, brachte wohl die Einsicht.
Abbildung 3: Aus dem Vortrag vom 25.11.2019 (ergänzt für «Riffkalke» und «tektonische Verwerfung?» und «Opalinuston»): «Faziesübergang im „Braunen Dogger“ des Standortgebiets Nördlich Lägern.
Links: 2D-Seismik-Daten mit „Beckenzone“ (Westen) und „Schwellenzone“ (Osten) im „Braunen Dogger“ (Bereich zwischen Markerhorizonten BMa und nTOp; Meier & Deplazes 2014). Die Lage der Seismiklinie ist in der mittleren Figur durch eine gestrichelte Linie dargestellt.
Mitte: Verlauf eines seismischen Markerhorizonts in der 3D-Seismik (Zweiweglaufzeit, Reliefschattierung), der die Morphologie der „Schwellenzone“ nachzeichnet. Der orange Punkt markiert die existierende Bohrung Weiach-l. Der fette rote Punkt zeigt die Lage der laufenden Bohrung Bülach-l. Die weiteren roten Punkte markieren die Lage von Bohrplätzen für mögliche weitere Bohrungen.
Rechts: Bohrkernfoto der „Riff-Fazies“, welche in der „Schwellenzone“ mit der Tiefbohrung Bülach erbohrt wurde.»
Diese Blindheit hat in der Nagra Tradition. Bereits vor 40 Jahren, im Rahmen des Projekts «Gewähr», zäumte die Nagra das Pferd am Schwanz auf und bestimmte konzeptlos Bohrstandorte, ohne diese wirklich geologisch begründen zu können. Dies die Kurzgeschichte:
In der Folge des Bundesbeschlusses zum Atomgesetz von 1978, plante die Nagra als Teil des Projektes «Gewähr» zwölf Tiefbohrungen in das kristalline Grundgebirge der Nordostschweiz abzutiefen, auf der Suche nach einem geeigneten Wirtgestein und Standort für den Bau und Betrieb eines geologischen Endlagers für hoch radioaktiven Abfall. Das Grundgebirge wurde damals als besonders stabil und mit zunehmender Tiefe als wenig wasserführend betrachtet. Die Standorte wurden ohne seismische Abklärung festgelegt; der damalige Chefberater der Nagra (ein ehemaliger «Shell-Mann») war der Ansicht, dass man seismische Profile auf dieser Tiefe unter den Salzschichten der Trias nicht interpretieren könne. Von den Zwölf Bohrungen wurden schliesslich einzig sieben wirklich durchgeführt, nachdem in einzelnen Sondierungen sehr viel Wasser floss und im Mai 1983 in der Bohrung Weiach (und etwas später in Riniken) nicht etwa kristalline Gesteine, sondern permeable Sedimentgesteine eines tiefen Permo-Karbontrogs angebohrt worden waren (Nagra 1986). Diese Resultate (Wasserführung des Grundgebirges und Ausdehnung des Permokarbon-Troges) bedeuteten schliesslich das Ende des «Gewähr»-Projektes im kristallinen Grundgebirge.
Ein peinliches «Detail»: Die Existenz, die Lokalisierung und die ungefähre Tiefe des Permokarbon-Troges war damals der Oelindustrie, namentlich der Shell-Kompanie bereits bekannt und war auch publiziert worden, namentlich durch P.A. Ziegler (1982), auch er ein «Shell-Mann» (Lemcke 1973, Ziegler 1978, 1982; wir beschrieben diese Geschichte in einem Report der Energiestiftung, Buser & Wildi 1984). Aber die Nagra hatte kein Vertrauen in diese auf seismischen Aufnahmen beruhenden Dokumente.
Zur neuen Paläogeographie
Bis anhin nahm man allgemein an, dass Opalinuston als Ablagerungsgestein in einem zumindest mehrere Zehner (ev. mehr als 100 m) tiefen Meer abgelagert wurde. Darauf folgte in der westlichen Schweiz, im westlichen Jura und dem westlichen Mittelland, die Bildung einer seichten Plattform, die «Raurakische Plattform». Im nur wenige Meter tiefen Meer, lagerten sich oolithische Kalke (Ooide: Kalkkügelchen von etwa 1 – 2 mm Durchmesser) und Spatkalke (Kalke bestehend aus Seelilientrümmern) ab, die «Hauptrogenstein-Formation». Korallenriffe bildeten sich im Flachmeer und am Rand der Plattform. Korallenriffe bildeten sich im Flachmeer und am Rand der Plattform. Eines der östlichsten Vorkommen dieser Formation liegt im Faltenjura an der Gisliflue, im Nordosten der Stadt Aarau (Abb. 4). Weiter östlich fiel der Meeresgrund ab und vorwiegend mergelige Sedimente, die sogenannten Parkinsoni-Schichten, lagerten sich in diesem «argovischen» oder «schwäbischen» Meer ab.
Abbildung 4 a: Gisliflue mit Gipfelfels aus Hauptrogenstein und Korallenriffen; Blick von Norden, nahe Thalheim.
b: Einzelkoralle von etwa 2 cm Durchmesser aus dem Korallenriff der Gisliflue (Wildi & Lambert 2019, Abb. 47.)
Die Abb. 5 zeigt diesen Übergang von der Plattform zum offenen Meeresbecken im Schnitt, und Abb. 6 zeigt die bis anhin postulierte Paläogeographie im Mittleren Dogger, sowie die Lokalisierung der Tiefbohrung Bülach. Diese Bohrung belegt die Existenz einer Meeresplattform, oder einer «Insel», im Osten der Raurakischen Plattform. Es handelte sich im Dogger um eine Schwelle, welche vermutlich durch tektonische Bewegungen gebildet wurde. Darauf weisen etwa die gebrochenen seismischen Reflektoren unter dem Riff von Bülach (Abb. 3 a) hin (siehe auch die Publikation von Wildi et al. 1989).
Abbildung 5: Schematischer Schnitt durch das Jurameer in der Zeit, als im westlichen Jura der Kalk des Hauptrogensteins im seichten Wasser gebildet wurde. Gleichzeitig entstanden im tiefen Wasser im Ostteil des Aargauer Juras die Mergel der sogenannten „Parkinsoni-Schichten“ (Wildi & Lambert 2019, Abb. 48)
Abbildung 6: Die geographischen Verhältnisse im mittleren Dogger, vor 170 Millionen Jahren, als im westlichen Jura der Hauptrogenstein in einem flachen Meer (dem „Keltischen Meer“) gebildet wurde. Im östlichen Kanton und in der Ostschweiz bildeten sich im tieferen Meer die Mergel der sogenannten „Parkinsoni-Schichten“ (Wildi & Lambert 2019, Abb. 8). Der rote Stern bezeichnet die Lokalisierung von Bülach; die Ausdehnung dieser neu entdeckten Karbonatplattform (Insel?) in östlicher oder nordöstlicher Richtung ist nicht bekannt.
Folgerung: Ohne Ausschlusskriterien geht’s nicht
Wie erwähnt bedeutet die Entdeckung der Nagra im Hinblick auf die Sicherheit des geologischen Tiefenlagers, dass in Bülach das Wirtsgestein direkt mit einer auch Tiefengrundwasser leitenden Gesteinsformation in Verbindung steht, einem Grundwasserleiter und -träger. Damit dürfte die ganze Zone in welcher Riffkalke vorkommen, sowie die hydraulisch damit verbundene Umgebung, als möglicher Standort für ein Lager wegfallen. Die Ausdehnung der Riffkalke (und eventuell anderer Kalke mit ähnlichen Eigenschaften) steht noch offen. Das Standortgebiet Lägern Nord wird dadurch noch weiter eingeschränkt.
Bezüglich der Region Zürcher Weinland ist zurzeit keine Aussage möglich. Im Gebiet Bözberg besteht, auch gemäss Nagra, bezüglich der Oberen Rahmengesteine die offene Frage ihrer mehr oder weniger kalkigen Ausbildung (NTB 08-04, Kap. 5.5.2.3.): „Der grösste Teil des Standortgebiets Bözberg befindet sich im Bereich der westlichen, kalkigen Fazies des Mittleren und Oberen Doggers, …“. Das bedeutet: Selbst wenn dort keine Kalkriffe vorhanden sein sollten, muss mit erhöht durchlässigen kalkreichen Schichten im Dach des Opalinustons gerechnet werden. Keine gute Perspektive . . .
Mit der Tiefbohrung Bülach hat die Nagra die Grundkenntnisse der Schweizer Geologie einmal mehr bereichert (wir danken!). Der nuklearen Entsorgung hat sie mit der «Wildcut»-Bohrung jedoch einen Bärendienst erwiesen. Einmal mehr zeigt die Genossenschaft, dass sie oft ohne Konzept und teilweise mit falschen Prioritäten vorgeht; dies wirft Fragen bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit auf.
Die Nagra selbst sieht dies anders. Für sie ist ein geologisches Tiefenlager im Untergrund von Bülach, mit einem Abstand von 50 m zum nächsten Grundwasserträger, und einer geringen Distanz zu der in der Seismik erkennbaren tektonischen Störung, absolut denkbar. Der Projektkoordinator der Nagra zu den Resultaten von Bülach (https://www.nagra.ch/de/news/news-detail/bohrresultate-entsprechen-den-erwartungen.htm): «Die Bohrresultate entsprechen den Erwartungen» . . . . und: «Die Resultate bestätigen, dass sich die Region Nördlich Lägern für ein geologisches Tiefenlagers eignet.» Tja . . .
Diese Aussagen bestätigen, was die Nidwaldner Bevölkerung im Rahmen des Projekts Wellenberg in den Jahren 2000-2001 bereits begriffen hatte: Gesetze, Verordnungen und Grenzwerte reichen nicht, um die Wahl eines geeigneten Standortes zu garantieren. Wird gebohrt, sondiert und gemessen, so sind klare Ausschlusskriterien notwendig, um sicherzustellen, dass die richtigen Schlüsse aus den Resultaten gezogen werden. Im Kanton Nidwalden setzten damals die Bevölkerung, die Regierung und die von ihr eingesetzte Kantonale Fachgruppe Wellenberg die Definition von Ausschlusskriterien durch. Diese wurden schlussendlich durch die Aufsichtsbehörde HSK (heute: ENSI) festgelegt (https://www.nzz.ch/article7OBOA-1.479692).
Deshalb: Einzig die Einhaltung solcher Kriterien bietet die Sicherheit, dass «kranke» Standorte (wie etwa Bülach) nicht einfach gesund gerechnet werden.
Bibliographie
Buser, Marcos, Wildi Walter (1984): Das „Gewähr“-Fiasko, Materialien zum gescheiterten Projekt „Gewähr“, Schweizerische Energie-Stiftung, S. 33.ff.
HSK 2005: Entsorgungsnachweis: Etappe auf einem Langen Weg. Historischer Abriss der bisherigen Entscheidungen und Tätigkeiten im Hinblick auf die geologische Tiefenlagerung der hochaktiven Abfälle in der Schweiz. Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen, Würenlingen, 20 S. hsk-an-5262_entsorgungsnachweis_etappeaufeinemlangenweg
Lemcke, K. 1973: Zur nachpermischen Geschichte des nördlichen Alpenvorlandes. Geologica Bavarica 69.
Lemcke, K. 1974: Vertikalbewegungen des vormesozoischen Sockels im nördlichen Alpenvorland vom Perm bis zur Gegenwart. Eclogae geol. Helv 67/2, 121-134.
Nagra 1986: Sondierbohrung Weiach, Geologie. Technischer Bericht NTB 86-01, Nagra, Wettingen.
NZZ 25.09.2001: Transparenz durch Ausschlusskriterien. https://www.nzz.ch/article7OBOA-1.479692
Wildi, W., Funk, H.P., Loup, B., Amato, E. & Huggenberger, P. 1989: Mesozoïc subsidence history of the European marginal shelves of the alpine Tethys (Helvetic realm, Swiss Plateau and Jura). Eclogae geol. Helv. 82/3, 817-840.
Wildi, W. & Lambert, A. 2019: Erdgeschichte und Landschaften im Kanton Aargau. Aarg. Natf. Ges., Aarau 183 S.
Ziegler, P.A. 1978 : North-Western Europe: tectonics and basin development. – Geologie Mijnbow, 57, 589 – 626 .
Ziegler, P.A. 1982 : Geological Atlas of Western and CentralEurope. – Shell Internat. Petroleum Maatschappij B.V., Elsevier, Amsterdam.
Kommentar verfassen