Von Marcos Buser
Titelbild: Sickerwasser im Bergwerk und „Versuchsendlager“ Asse (Foto: Bundesamt für Strahlenschutz, aus: https://www.kontextwochenzeitung.de/wirtschaft/62/radioaktive-zeitbombe-aus-karlsruhe-840.html)
Am 26. April 2016 fand im Anschluss an die Jahresversammlung der Schweizerischen Energie-Stiftung eine kontradiktorische Veranstaltung über die Entsorgung radioaktiver Abfälle statt, an der Markus Fritschi (Nagra) und Anne Kathrin Leuz (ENSI) auf der einen Seite, und Marcos Buser (Zürich) und Martin Ott, Landwirt, Rheinau (Zürich), auf der Anderen teilnahmen. In seinem Eingangsstatement distanzierte sich Marcos Buser vom heute in der Schweiz verfolgten Konzepts des geologischen Tiefenlagers. Eine umfassendere Begründung dafür folgt nun mit diesem Blogbeitrag in drei Teilen.
Teil 1: Wenn geologische Tiefenlager versagen
Seit einem Jahrzehnt mehren sich Meldungen über schwere Havarien in den bestehenden Endlagern und über Probleme bei den geplanten Endlagerprojekten. Im Jahr 2008 berichteten Printmedien erstmals darüber, dass im ehemaligen Versuchsendlager Asse bei Wolfenbüttel in Niedersachsen Wasser in das Grubengebäude eindrang und dass diese Zuflüsse seit 1988 der Öffentlichkeit verschwiegen wurden. Im Anschluss an diese Vorfälle übernahm das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz 2009 (heute: Bundesamt für kerntechnische Entsorgung) die Leitung des Projektes. Seither werden das Sanierungsprojekt der Grube und die Rückholung der in Stahlfässern und Betongebinden eingelagerten schwach- und mittelaktiven Abfälle in einem aufwendigen Planungsverfahren vorbereitet. Aufschlussreich am Fall der Asse ist die Tatsache, dass die an der Salzflanke des Bergwerks eintretenden Wasserzuflüsse bereits in einem geologischen Gutachten im Jahr 1979 präzis vorhergesagt wurden. Eine anderthalb Jahrzehnte später durchgeführte Habilitationsschrift an der Universität Kiel bestätigte die Herkunft der eintretenden Tageslaugen. Die beiden Wissenschaftler dieser Studien wurden von Betreibern und Behörden unter massiven Druck gesetzt, verleumdet und stigmatisiert.[1] Das hinderte die Nuklearindustrie nicht, das Endlager Asse als Vorzeigebergwerk für die Endlagerung radioaktiver (und chemo-toxischer) Abfälle zu bezeichnen, nicht nur in Ländern wie der Schweiz, sondern auch seitens von internationalen Organisationen. [2] Auch im zweiten deutschen Endlagerbergwerk ERAM Morsleben spielten sich ähnliche Vorfälle ab. Und zeitlich etwas weiter weg liegt das Scheitern des Endlagerprojektes in Lyons, Kansas (USA) – dort hatten die Planer übersehen, dass das Umfeld des Lagerstandorts durch Erdöl- und Erdgas-Prospektionsbohrungen bereits so durchbohrt war, dass an ein Endlager nicht gedacht werden konnte. [3]
Alle diese Misserfolge hätten das Konzept der Tiefenlagerung in speziell angelegten Bergwerken in einigen hundert bis 1000 m Tiefe nicht auf die Probe gestellt, wären nicht neue Fälle dazugekommen, welche die Schwierigkeiten der Umsetzung ebendieses Konzeptes aufzeigen. 1980 bohrte die Firma Texaco von einer Plattform auf dem flachen Peigneur-See in Louisiana versehentlich das darunter liegende Salzbergwerk der Diamond Crystal Salt Company an. Innerhalb von wenigen Stunden ging das Bergwerk in einem apokalyptischen Schauspiel mit Geysir-Fontänen verloren und verschlang dabei Millionen von Kubikmetern Schlamm und Gesteine aus den angrenzenden Geländen des Sees (Figur 4).[4] Dieses Ereignis gab den Ausschlag dafür, dass die Atomindustrie die Gefahr der Intrusion in Endlager erkannte und über die Markierung von Lagerstandorten nachzudenken begann, allerdings ohne die Problematik der rasanten Technikentwicklung und der damit einhergehenden Ausweitung der Untergrundnutzung zu erkennen. Schon alleine diese Entwicklung wirft ein schlechtes Licht auf die Philosophie des Endlagerbergwerks in wenigen hundert Metern Tiefe.
Konnte man bis zu diesem Punkt damit argumentieren, dass die Sicherheitsprobleme dieser Anlagen davon ausgingen, dass alte Bergwerke in Endlager umfunktioniert und die natürlichen Schutzvorrichtungen damit massgebend geschwächt worden waren, kann dieses Argument seit den schweren Unfällen im neu errichteten Endlager für langlebige radioaktive Abfälle „Waste Isolation Pilot Project WIPP“ in New Mexico nicht mehr in Anspruch genommen werden. Die Unfallserie zeichnete sich bereits ein Jahrzehnt vor den ersten konkreten Ereignissen ab, weil Sicherheitsstandards laufend herabgesetzt wurden. Ab dem Jahr 2014 mehrten sich die Unfälle: ein Brand eines Ladefahrzeugs setzte die Anlage kurzfristig ausser Betrieb. Knapp 10 Tage nach diesem Ereignis explodierte ein eingelagertes Fass mit langlebigen radioaktiven Stoffen und kontaminierte ein Drittel der Anlage so schwer, dass diese über Jahre geschlossen werden musste. Ein Ereignis im 17ten Betriebsjahr, das laut Risikoanalyse alle 200’000 Jahre erwartet wurde. Schliesslich kam es im Jahr 2017 stellenweise zu Niederbrüchen der verankerten und gesicherten Decke. Diese Unfallserie in einer weltweit als Leuchtturmprojekt präsentierten Anlage schürte Zweifel an der grundsätzlichen Konzeption eines Kavernen-Endlagers in 500 m Tiefe.
In den letzten Monaten traten weitere Schwierigkeiten des Tiefenlagerkonzeptes in Erscheinung: die nordischen Projekte in Schweden und Finnland, die wegen ihrer Standorte in geklüfteten und durchlässigen kristallinen Gesteinen ohnehin Fragen zur Langzeitsicherheit aufwerfen, sehen sich mit dem Entscheid des schwedischen Umweltgerichtshofs konfrontiert, der die lange gepriesene Langzeitsicherheit der Kupferkanister als noch nicht erwiesen betrachtet (Blog vom 28.01.2018).[5] Praktisch zum selben Zeitpunkt wurde auch bekannt, wie die französische Andra die Entscheide der Sicherheitsbehörden bezüglich dem Lagerprojekt in Bure gezielt zu beeinflussen versucht (Blog vom 4. März 2018). [6] Gerade dieses letzte Projekt lieferte auch Schlagzeilen, was den Umgang mit Opposition und Protest angeht. Im Ergebnis jedenfalls sehen sich also alle laufenden und umgesetzten Projekte der Endlagerung radioaktiver Abfälle mit grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Und dies ganz zu Beginn des Planungs- bzw. Lagerungsprozesses.
Wenn Probleme eines Konzeptes in dieser Deutlichkeit zu Tage treten, müsste eigentlich erwartet werden, dass die zuständigen Planer und Sicherheitsbehörden eine grundsätzliche Überprüfung des Konzeptes der Endlagerung in Bergwerken in einigen hundert Metern Tiefe vornehmen würden. Aber keine der Institutionen, die an diesen Programmen beteiligt ist, ob nun Planer, Prozessführer oder Sicherheitsbehörden, traute sich bisher, dieses heisse Eisen in einer internationalen vergleichenden Analyse anzupacken. In den einzelnen Ländern wird kategorisch an den bisher verfolgten Konzepten und Projekten festgehalten. Für den internationalen Blick fühlt sich niemand zuständig – und die Internationale Atomenergieagentur oder die Atomenergieagentur der OECD hüten sich, die in allen Ländern der Welt aufgetretenen Probleme der Endlagerung umfassend aufzugreifen und systematisch zu analysieren. Die auch im Entsorgungsbereich bis anhin immer wieder umgesetzte Methode des „trial and error“ (Versuch und Irrtum) lässt Fehlschläge und das Scheitern von ganzen Projekten explizit zu. Vorbeugende Massnahmen zur Verhinderung von Fehlschlägen werden mit diesem Vorgehen aber grundsätzlich untergraben.
Einschneidend ist die Methode des „trial and error“ bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle deswegen, weil die begangenen Fehler kaum mehr korrigierbar sind. Obschon bei der Projektierung versprochen, wird die Bergung von Abfällen bei missglückten Projekten nur selten erwogen.[7] So wird die Reversibilität der Entscheide – sprich die Rückholbarkeit der Abfälle – zunehmend zur Worthülse. Die verantwortlichen Institutionen haben sich nämlich bisher schwer mit der Umsetzung des Reversibilitätsprinzips getan. Nicht nur im Fall der Asse, bei dem die Bergungsarbeiten zwar vorgesehen sind, aber nur langsam vorankommen. Schwerer wiegt der Fall des WIPP, bei dem immer noch falsch konditionierte Abfälle in Fässern in den Untergrundstollen stehen. Stollen, die irgendwann einmal zusammenbrechen werden und bei dem der sogenannte „Einschlussprozess“ der Abfälle weitgehend chaotisch erfolgt. Die Bergung der Abfälle ist in diesem Fall mit der heutigen Technik faktisch nicht mehr möglich. Hinzu kommen Widerstände von Experten-Kollegien und Administrationen gegen Bergungsprojekte, wie das Beispiel der Untertagedeponie Stocamine im Elsass zeigt. Der Widerstand der zuständigen französischen Behörden, die technisch einfache Bergung 44’000 t Sonderabfälle aus der stillgelegten Anlage vorzunehmen, dürfte allerdings andere Gründe haben.[8] Jedenfalls wurde damit die Glaubwürdigkeit des Rückholbarkeitskonzepts weiter untergraben. Denn wie wollen die verantwortlichen Entsorger und Institutionen unter diesen Voraussetzungen das Versenken radioaktiver Abfälle im Untergrund noch glaubhaft vertreten, wenn sie nicht gewillt sind, die Bergung von Abfällen aus dem Untergrund bei vergleichsweise einfachen Fällen zu gewährleisten?
Eine Schwierigkeit ganz anderen Ausmasses liegt in der Verletzbarkeit von Lagern im Einflussbereich des Menschen. Mensch und Umwelt müssen nicht nur vor einem Endlager geschützt werden, genauso wichtig ist es, das Lager vor dem Zugriff durch den Menschen zu schützen. Die ausserordentlich rasch sich entwickelnde Technik hat die Ressourcensuche im Tiefuntergrund massiv beschleunigt. Die Untergrundnutzung in Tiefen von mehreren tausend Metern oder der Bau von Infrastrukturen in hunderten von Metern Tiefe ist heute Stand der Technik. Von Untergrundbohrungen in den obersten 1000 m inklusive deren Ablenkung aller Art bis hin zu horizontalem Vortrieb nicht zu sprechen. Für das amerikanische Endlager WIPP schätzte der ehemalige Programmleiter, Wendell Weart, die Schutzdauer des Lagers gegenüber den Erdöl- und Erdgasbohrungen in der Umgebung auf 100 Jahre![9] Aus diesen Überlegungen sind die Intrusionsproblematik und die technische Entwicklung der Untergrundnutzung zwingend in eine Analyse der Langzeitsicherheit von Endlagerbergwerken mit einzubeziehen. Dass Grundbucheinträge – wie in der Schweiz vorgesehen – einen längerfristigen Schutz gegenüber Intrusion gewährleisten könnten, wird durch bisherige historische und archäologische Erfahrungen unumschränkt widerlegt.
Eine weitere Problematik tritt bei der Umsetzung von Konzepten zu Projekten in Erscheinung. Im Beispiel WIPP wurden die Organisationsstrukturen „vereinfacht“ und geschwächt, so dass die finanziellen Ressourcen gekürzt und die Kontrolle der Anlage ausgedünnt wurden. Mit fatalen Folgen. Allein die Kosten des radiologischen Unfalls von 2014 könnten 2 Milliarden Dollar übersteigen. Andere Schwierigkeiten traten etwa in der Schweiz bei der Umsetzung des EKRA-Konzepts auf, das von den zuständigen Planern und mit dem Segen der Behörden zunehmend ausgehöhlt werden (siehe Blog-Beitrag der letzten Woche).
Schliesslich sei auch darauf hingewiesen, dass die heutigen „Partizipationsprozesse“ bei der Standortsuche in erster Linie dazu dienen, eine scheinbare Teilnahme der Bevölkerung aufzuziehen, bei der die betroffenen Regionen aber nichts Substantielles zur Sicherheit zu sagen haben.[10] Die Führung der autoritär geführten Standortsuchprogramme orientiert sich weiterhin am Ziel, den Schachtkopf an der Oberfläche raumplanerisch zu verankern – „getting the shaft“ war und ist das Programm, das die Standortsuchprogramme immer ausgezeichnet hat.[11] In der Schweiz wie anderswo.
Der ungünstige Verlauf von Endlagerprojekten im Laufe der letzten 20 Jahre hat mich zum Überdenken des heute verfolgten Kurses der Untertagelagerung geführt. Wenn ein Projekt nach dem anderen schwerwiegende Sicherheitsprobleme hat und bestehende Schwachstellen von Projekten nicht vertieft ausgeleuchtet werden, weder von nationalen Agenturen und Sicherheitsbehörden noch vor ihren internationalen Dachorganisationen (IAEA, NEA/OECD, usw.), dann ist es erforderlich, diesen Problemen nachzugehen und sie zu analysieren, selbst wenn die gesamte Konzeption des „Tiefenlagers“ dabei hinterfragt werden muss. In den letzten Jahrzehnten ist deutlich geworden, dass das gegenwärtige Konzept eines „Tiefenlagers“ für hochaktive Abfälle auch Schwächen hat und bei der Umsetzung viele Probleme nach sich zieht: das unterschiedliche Abfallinventar mit unterschiedlicher Wärmelast für das Wirtgestein; die Entwicklung der Abfälle in der Zeit (insb. bestrahlte Uranium-Pellets mit den darin vorkommenden Radionukliden); die grossen Behälter für die Lagerung des abgebrannten Brennstoffs; die bedeutenden Herausforderungen bei der Platzierung schwerer, langer und stark strahlender Behälter; ebenso die bisher in der Praxis nicht nachgewiesene Bergbarkeit dieser Lagerbehälter; die Sicherheitsprobleme mit grossen Kavernenquerschnitten; die Schädigungen des Gesteins hinter den aufgefahrenen Stollenwänden; die Entwicklung dieser geschädigten Zone bei thermischer Last und die damit zusammenhängenden Risiken bei Wasserzufluss; die Stabilisierungstechniken und -materialien von Stollen; die längerfristige Verformung der unterirdischen Anlageteile, insbesondere was die vorgesehene Betonauskleidung der Lagerstollen angeht; die Verfüllungstechniken der Stollen und die hierzu vorgesehenen Materialien; sodann die Korrosionsprobleme von Lagerbehältern; die langfristige Wirkung von Strahlung; die Gasproduktion korrosiver Materialien wie Stahl, Eisen, und die für das „Tiefenlager“ entstehenden Sicherheitsprobleme, usw., usw. usf. Viele dieser Probleme werden von den verantwortlichen Institutionen nicht an die Hand genommen bzw. bagatellisiert. Nur einzelne dieser Fragen zu den Schwächen der Bauwerkkonzeption des Tiefenlagers für hochaktive Abfälle wurden in der Schweiz von der zuständigen Nagra nach Intervention durch die Sicherheitsbehörden oder von Expertenkommissionen aufgenommen (z.B. Korrosion Stahlbehälter, Gasbildung) und werden nun untersucht. Andere werden nicht einmal thematisiert (z.B. Risikoanalysen über verschiedene Betriebszustände, langfristige Wirkung von Strahlung auf die Versprödung der Behältermaterialien). Eine zentrale Schwachstelle des Bergwerks-Konzepts in 500 m Tiefe – das Eindringen (Intrusion) durch künftige Generationen und die Verletzung der Schutzfunktion von Tiefenlagern – ist offenbar als Forschungsfeld völlig uninteressant. Dieses Problem wurde bisher vollkommen unterschätzt, da es um Technikfolgeabschätzung geht, und nicht um klassische Naturwissenschaften. Dazu fehlt die Expertise.
Der konkrete Umgang mit den aufgezeigten Problemen und der Mangel an einer offenen wissenschaftlichen Diskussionskultur führt in der Konsequenz dazu, dass an der verfolgten Endlagerkonzeption in rund 500 m Tiefe gezweifelt werden muss. Ein kontrollierter, wissenschaftlichen Qualitätsstandards genügender Umsetzungsprozess mit Fehlerbereinigungen und Korrekturen ist mit dem heutigen Vorgehen nicht sichergestellt. Nagra und Behörden sperren sich dagegen, die vielen offenen Fragen in einem offenen Forschungs- und Entwicklungsprogramm anzugehen. Aus allen oben dargelegten Gründen distanziere ich mich heute darum vom offiziell verfolgten Schweizer Endlagerkonzept.
Ein weiterführendes Modell im Umgang mit dem radioaktiven Legat tut dringend Not. Mit der dualen Strategie steht ein Prozess zur Diskussion, der eine kohärentere Strategie im Umgang mit diesen Abfällen anstrebt und über diesen Weg Remedur für die oben aufzeigten Probleme bringen könnte. Dieser Prozess ist nicht allein technischer Natur. Prozessführung und gesellschaftliche Teilnahme sind ebenbürtige Bestandteile dieser Strategie. Auf der technischen Ebene sind es vor allem Vorgehensfragen, die zur Debatte stehen. Die generellen Ziele im Umgang mit dem radioaktiven Legat – Verbringung der Abfälle in den Tiefuntergrund oder die verbesserte Umsetzung einer technischen Behandlung (z.B. via Mehrfachbarrierenkonzept und besseren Behältermaterialien bzw. Immobilisierungstechniken) – werden grundsätzlich nicht in Frage gestellt, sofern sich solche für das bestehende Abfallinventar überhaupt als umsetzbar erweisen. Ein längerfristiges „Hüten“ der Abfälle über tausend oder tausende von Jahren im direkten Einflussbereich der Gesellschaft ist in keinem Fall akzeptabel.
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