Blogautoren: Marcos Buser, André Lambert & Walter Wildi
Vom Sachplan zur Standortwahl
Gemäss dem Konzeptteil des «Sachplans geologische Tiefenlager»[1] (2008, Revision vom 30. November 2011, Abbildung 6, siehe auch Abb. 1 unten) befindet sich das Entsorgungsprogramm der Schweiz in Etappe 3. Diese Etappe umfasst die «Standortwahl und das Rahmenbewilligungsverfahren» («2.5 – 4.5 Jahre»), bzw., gemäss Kernenergiegesetz «Vorbereitung und Einreichung Rahmenbewilligungsgesuch» und «Überprüfung und Genehmigungsverfahren».
Der Internet-Site des BFE (konsultiert am 17. März 2020)[2] präzisiert die Aufgaben der Entsorger in Etappe 3 wie folgt: «Tiefbohrungen, Erarbeitung Rahmenbewilligungsgesuch, Festsetzung der Standorte, Erteilung der Rahmenbewilligung, November 2018 bis Ende 2029». Sodann zum weiteren Verfahren: «Genehmigung des Bundesratsentscheids zur Rahmenbewilligung durch das Parlament und evtl. nachfolgende Volksabstimmung, Anfang 2030 bis Ende 2031».
Die Nagra gedenkt diesen Zeitplan wie folgt umzusetzen[3]: «Die Nagra untersucht die drei verbleibenden Standortgebiete Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost vertieft und vergleicht sie abschliessend wieder miteinander. Das Untersuchungsprogramm umfasst die bereits durchgeführten seismischen Untersuchungen sowie Quartäruntersuchungen und Tiefbohrungen. Die Tiefbohrungen sollen das geologische Gesamtbild des Untergrunds in den Standortgebieten vervollständigen. Basierend auf den Resultaten dieser Untersuchungen und dem sicherheitstechnischen Vergleich der Standortgebiete, wird die Nagra zirka 2022 bekannt geben, für welchen Standort oder welche Standorte sie Rahmenbewilligungsgesuche ausarbeiten will. Danach wird sie die Gesuche ausarbeiten und voraussichtlich 2024 einreichen.»
Die Nagra glaubt also, aufgrund der Resultate aus den laufenden Untersuchungen, bis «zirka 2022» einen oder zwei Standorte (ein Kombilager, oder ein Lager für schwach und mittel radioaktive Abfälle SMA und ein zweites Lager für hoch radioaktive Abfälle HAA) vor schlagen zu können. Wie dieser Vorschlag aussehen wird, ist nicht präzisiert. Auf die diesbezügliche Anfrage des Vereins Pro Bözberg an das «Technische Forum Sicherheit» (Frage 147) [4] verweist das BFE auf das Rahmenbewilligungsverfahren. Die Nagra präzisiert: «Die „Auswahl der Standorte für die Vorbereitung des Rahmenbewilligungsgesuchs“ ist als Absichtserklärung der Nagra zu verstehen, für welchen Standort oder welche Standorte sie ein RBG (Rahmenbewilligungsgesuch) einreichen will und sorgt dafür, dass weder Behörden noch Öffentlichkeit von der Wahl im RBG überrascht werden. Die Nagra beabsichtigt einen kurzen Bericht zur Begründung der „Auswahl der Standorte für die Vorbereitung des Rahmenbewilligungsgesuchs“ zu veröffentlichen.» Das BFE ergänzt «dass die Nagra bis Ende 2019 in einem Konzept darzulegen hat, welche Referenzberichte wann fertiggestellt und zur Publikation bereit sein werden». Dieses Konzept liegt Mitte März 2020 noch nicht vor. Zudem ist vom oben erwähnten „sicherheitstechnischen Vergleich der Standortgebiete“ als elementare Grundlage der Standortwahl keine Rede mehr. Es kann doch aber nicht sein, dass die Öffentlichkeit über diese zentrale Analyse nichts erfahren soll!
Abbildung 1: Auszug aus dem Sachplan geologische Tiefenlager (Abb. 6) für die Etappe 3.
Ein riskantes Verfahren
Aus den obigen Ausführungen kann man schliessen, dass die Nagra in zwei bis drei Jahren in einem «kurzen Bericht» – ohne jegliche behördliche Vorgabe dazu! – den Standort oder die Standorte bezeichnen und summarisch begründen wird, für welche sie Gesuche für Rahmenbewilligungen einzureichen gedenkt. Die allfällige Bewilligung des Bundesrats soll im Jahr 2029 vorliegen, und eine Volksabstimmung könnte im Jahr 2031 durchgeführt werden.
Dieser Zeitplan bedeutet in Tat und Wahrheit, dass der Standort (die Standorte) für das (die) geologische(n) Tiefenlager im Jahr 2022 durch die Nagra bezeichnet und aufgrund der langen Fristen bis zu einer definitiven Beurteilung durch Sicherheitsbehörden selbst bei schweren Mängeln kaum mehr geändert werden könnte. Das ENSI wird den Nagra-Vorschlag absehbar und ohne wesentliche Nachforderungen durchwinken, ebenso der Bundesrat im Jahr 2029. In nur zwei Jahren will also die Nagra mit ihrem «kurzen Bericht» das definitive Resultat der Standortwahl präsentieren. Und auf diese Weise will sie im Handstreich vollendete Tatsachen schaffen!
Bei diesem Vorgehen besteht das Risiko, dass die Resultate der Nagra und die daraus abgeleiteten Schlüsse bezüglich der Lagerstandorte und der technischen Konzepte für die Realisierung des Lagers erst im Rahmen der Volksabstimmung zum Rahmenbewilligungsgesuch in etwas mehr als 10 Jahren seriös diskutiert werden. Das Risiko, dass das Volk das Gesuch der Nagra verwirft, ist in diesem Fall gross, wie die Geschichte des Projekts Wellenberg am Anfang des Jahrhunderts gezeigt hat.
Aus dieser Analyse muss man schliessen, das dieses Vorgehen zur Zeit der Formulierung des Sachplans geologische Tiefenlager nicht richtig durchgedacht, oder aber bewusst nicht im Sinne eines bedachten Vorgehens formuliert wurde.
Die Analyse von Radio Jerewan
Anfang 2020 ist die Nagra nach wie vor (und wohl noch einige Zeit) „am Bohren“, wobei sie schon in 2 Jahren die absolut entscheidendste Weichenstellung ihrer Geschichte vornehmen will! Es erinnert an Asterix‘ „Mission Kleopatra“, wo der Architekt „Numérobis“ unter Zeitdruck windschiefe Konstruktionen erstellt, die stets unmittelbar vor dem Einsturz stehen. Denn wie in aller Welt soll die Nagra in nur 24 Monaten den Kraftakt schaffen, die Explorationsergebnisse gewissenhaft auszuwerten, zu interpretieren und in einer umfassenden Geosynthese, die einer scharfen Review standhält, glaubwürdig darzustellen? Zumal diese Synthese primär als solide Basis des nachfolgenden sicherheitstechnischen Vergleichs dienen muss, um die „Standortwahl“ sturmsicher zu verankern! Dafür hat die Genossenschaft weiland „nur“ für den Entsorgungsnachweis (2002) vollgepfropfte vier Jahre gebraucht.
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Waren die Geologen der Nagra damals dümmer? Vielleicht.. Immerhin stoppten Aufsicht und Fachkommissionen das absurde Ansinnen der Nagra, den Entsorgungsnachweis als Mogelpackung für eine Standortwahl zu missbrauchen.
Situation der Standortkantone und Standortregionen
Die detaillierten Berichte zu den Resultaten der laufenden Tiefbohrungen stehen noch aus, und nicht einmal im Ansatz liegt eine geologische Synthese der drei untersuchten Regionen als unverzichtbare Basis für deren sicherheitstechnischen Vergleich vor. Dennoch ist bereits heute absehbar, dass bei strenger Analyse keine der drei untersuchten Standortregionen (Jura Ost = Bözberg, Nördlich Lägern, Zürich Nordost = Zürcher Weinland) die im Sachplan (Anhang 1) definierten und durch das ENSI (2018)[5] präzisierten Standortkriterien einhalten wird. Ausschlusskriterien wie etwa die Ressourcenkonflikte im Falle von Bözberg, Lägern Nord und teilweise auch Zürich Nordost, die reduzierte Mächtigkeit des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs in einem Teil von Lägern Nord, oder das Risiko von Gletschererosion im Zürcher Weinland (u.a.m.) können auch durch zusätzliche Untersuchungen nicht weggezaubert werden. Und so zeichnet sich eine Ausmarchung um das Rahmenbewilligungsgesuch ab, deren Konturen schon jetzt ziemlich klar erscheinen:
- Auf der einen Seite werden Befürworter der Erteilung der Rahmenbewilligung auf die absolute Notwendigkeit einer inländischen Lösung der nuklearen Entsorgung hinweisen und die Vorschläge der Nagra ungeachtet aller Lücken und sicherheitstechnischen Bedenken akzeptieren.
- Auf der andern Seite werden Kritiker darauf hinweisen, dass keinesfalls ein gezinktes Auswahlverfahren akzeptiert werden kann, in dem die von allen Seiten gebetsmühlenartig wiederholte hohle Phrase als Leitmotiv stehen bleibt: „Sicherheit hat oberste Priorität“. Zudem seien Forschungslücken zu schliessen sowie Defizite zu beheben in der Entwicklung des Lagerkonzepts bzw. -projekts, in der Abfallkonditionierung und in der Rückholbarkeit der Abfälle vor Erteilung der Rahmenbewilligung und nicht erst im Zeitpunkt der Baubewilligung.
Die Fronten der Diskussion zum Gesuch um Rahmenbewilligung für ein oder zwei geologische Tiefenlager sind damit bereits heute weitgehend abgesteckt. Aber was bedeutet dies konkret für die Standortkantone, Standortgemeinden und Regionen? Welche Position können und sollen sie wählen, wissend, dass sie nur einmal, nämlich bei der Abstimmung zur Rahmenbewilligung massgeblich in die Entscheidung eingreifen können?
Für die Kantone, namentlich Aargau und Zürich, ist die Situation komplex: Sie haben sowohl die grösste Beteiligung an den Kernkraftwerken und sind potenzielle Standortkantone für die Tiefenlager. Sie haben also eine doppelte Verantwortung in diesem Prozess.
Etwas einfacher ist die Situation für die Gemeinden und Regionen: Sie sind potenziell v.a. durch die Konsequenzen der Standortwahl betroffen und haben damit alles Interesse daran, dass einzig eine genügend langzeitsichere Lösung angestrebt wird. Für sie stellen sich aber auch andere Fragen, wie etwa:
- Welche Organisation wird nach der eventuellen Annahme des Rahmenbewilligungsgesuchs das Lager bauen und betreiben?
- Wer wird die Phasen der Lagerrealisierung (Bau, Betrieb, Verschluss) sicherheitstechnisch überwachen?
- Welche Mitwirkung und Mitbestimmung wird den Gemeinden und der Region während all dieser Phasen zukommen?
All diese Fragen stellen sich schon heute und suchen nach Antworten im Rahmen einer öffentlichen Diskussion.
Fussnoten und Referenzen
[1] BFE 2008 (Revision vom 30. November 2011): Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil. Bundesamt für Energie, Bern.
[2] https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/kernenergie/radioaktive-abfaelle/sachplan-geologische-tiefenlager.html
[3] https://www.nagra.ch/de/standortwahl.htm
[4] https://www.ensi.ch/de/technisches-forum/vorzeitige-standortfestlegung-in-etappe-3/)
[5] ENSI 2018 : Präzisierungen der sicherheitstechnischen Vorgaben für Etappe 3 des Sachplans geologische Tiefenlager. ENSI 33/649.
Erwin Weiss
Bravo. Sehr gute Analyse. Was können wir machen? Zuerst müssen sofort alle AKW’s abgestellet werden um nicht noch mehr Abfall zu produzieren. Nachher wie weiter? Der Müll ist da. Vermutlich wäre ein rückholbares Lager möglich. Aber wo? Keine Gemeinde will diesen Müll