Der vorliegende Beitrag wird aufgrund der Publikation von Dokumenten des BFE eingefügt, bevor auf die Fragen der Lagerplanung eingegangen wird.
„Wer sich mit der Geschichte der Entsorgung radioaktiver Abfälle in der Schweiz befasst, weiss, dass es immer wieder Rückschläge, Verzögerungen und neue Herausforderungen gab“ ist im kürzlich publizierten Jahresbericht 2015 der Arbeitsgruppe des Bundes für die nukleare Entsorgung zu lesen. „So erfuhr auch die Zeitplanung im Zusammenhang mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Überarbeitungen“ lesen wir weiter und „Frühere Zeitpläne muten aus heutiger Sicht optimistisch an.“ Ähnliche Feststellungen werden zu den Kosten und Kostenentwicklungen gemacht. Im Frühling 2015 hat der Bundesrat die aktualisierten Kostenschätzungen für die Entsorgung von radioaktiven Abfällen aus seinem Verantwortungsbereich, das heisst aus Medizin, Industrie und Forschung, zur Kenntnis genommen. Seit der letzten Schätzung haben sich die Kosten mit 1.4 Milliarden Franken fast verdreifacht. Denn auch hier haben sich die zeitlichen Erwartungswerte stark verändert. Tatsächlich haben die Kosten für die Entsorgung der MIF-Abfälle von 300 bis 350 Millionen auf 1’400 Millionen um etwa das Vierfache zugenommen, und zwar unter Berücksichtigung der Teuerung (Teuerung von 106.4% zwischen 2000 und 2015 gemäss Landesindex der Konsumentenpreise und Teuerungsrechner). Die vom Jahresbericht 2015 vorgeschobene Begründung, wonach das gescheiterte Projekt Wellenberg für den Kostenschub verantwortlich sei, ist argumentativ nicht unterlegt.
Wer die nukleare Entsorgung hierzulande (und auch im Ausland) über die letzten Jahrzehnte verfolgt, kommt nicht um ein vernichtendes Urteil über den Willen und die Fähigkeit der zuständigen Institutionen herum, eines der dramatischen Probleme der Menschheit anzupacken und zu lösen. Selbst Alvin Weinberg, einer der Pioniere der Kernenergie, wies in späteren Jahren auf die dramatische Problematik der nuklearen Entsorgung hin.[1] Obschon seit Jahrzehnten von Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Lösung für diese hochgradig gefährlichen Abfälle die Rede ist, haben die verantwortlichen Institutionen kaum reelle Fortschritte bei der konkreten Umsetzung von robusten Entsorgungslösungen erzielt. Alle drei zwischen den 1960er und 1990er Jahren umgesetzten Endlagerbergwerke (Asse, Morsleben, WIPP) sind havariert. Andere Projekte zögern sich hinaus. Die Abfälle – weit über 350’000 t hochradioaktive Abfälle – häufen sich in Zwischenlagern. Die Umsetzungszeitpläne erstrecken sich bis weit ins 22ste Jahrhundert. Die Transmutation als weiterer potentieller Entsorgungspfad wird auch heute noch aufgrund der technischen Schwierigkeiten und hohen Kosten als kaum realisierbar eingeschätzt. Dies ist nüchtern betrachtet die Situation.
Trotzdem halten es die zuständigen Institutionen nicht für erforderlich, über die Bücher zu gehen und die Gründe für die desolate Lage zu ergründen, wie das obige Beispiel des Bundesamts für Energie stellvertretend zeigt. Eine Sicherheitskultur unter Einbezug einer Fehlerkultur, die zwingend von Internationalen Agenturen wie der IAEA bei Kernanlagen Stand der Wissenschaft und Technik sind, wird nicht praktiziert. Nehmen wir das Beispiel Zeitplanung: Ende der 1970er Jahre, als das KKW Kaiseraugst und andere geplante Schweizer KKWs zur Debatte standen und die Befürchtung der Projektanten bestand, das Schweizer Atomprogramm könnte politisch gestoppt werden, publizierten die Stromwirtschaft und die dazugehörende Nagra ein Konzept mit Realisierungsplan für die Standortsuche. 1984 sollte die Standortwahl für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle erfolgen, bis 1985 sollten die Detailprojekte und die Sicherheitsberichte erarbeitet und ab 1985 das nukleare Baubewilligungsverfahren eingeleitet werden (siehe Figur 1).[2]
Die politischen Parteien gaben sich mit diesem Projekt „Gewähr“ und den Auflagen des damaligen Eidgenössischen Verkehrs- und Energie-Departments zufrieden. Diese Auflagen sahen vor, die Werke abzustellen, sollte diese „Gewähr“ nicht fristgerecht erbracht werden. Und da die Werke das rahmenbewilligungsreife Projekt „Gewähr“1985 nicht erfüllen konnten, wurden die Anforderungen an eben dieses Projekt schrittweise reduziert und angepasst (siehe Figur 2).
Das verfälschte Vorgehen und die verfehlten Zeitprognosen wurden damals von den meisten Zeitgenossen hingenommen, auch von der Wissenschaft und den damals tätigen Kommissionen des Bundes. Die Autoren dieses Blogs gehörten zu den ganz wenigen, welche auf die Unmöglichkeit aufmerksam machten, in solch kurzen Fristen ein derartiges Projekt auszuführen und wiesen unter vielen anderen schriftlichen Dokumenten im 1981 publizierten Buch „Wege aus der Entsorgungsfalle“ darauf hin, dass im 20sten Jahrhundert „nicht mehr mit einem hinreichend begründeten Nachweis für die Machbarkeit“ gerechnet werden könne. [3] Die Nagra reichte dann im Jahr 2002 einen sogenannten Entsorgungsnachweis ein[4], der aber noch keinen Standortnachweis darstellte.
Gleiches Szenario im Sachplan geologische Tiefenlager: Von ihrer ersten Sitzung im Januar 2008 wies die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) auf die Unmöglichkeit hin, den Sachplan bis 2016/2018 mit einem rahmenbewillungsfähigen Gesuch abzuschliessen. Unzählige Interventionen und Warnungen später, präzisierte einer der Autoren dieses Blogs die Bedenken und stellte Realisierungszeitpläne auf.[5] Auch diese Zeitplanung erwies sich als robust, Bundesamt für Energie und Nagra zogen 2014 nach. Heute wird ein Realisierungszeitraum für den Sachplan um das Jahr 2030 von den meisten Prozessbeteiligten akzeptiert (Figur 3).
Kein Wort seitens BFE und Nagra über die vielen bewusst überhörten Warnungen. Auch im Jahresbericht 2015 der Arbeitsgruppe des Bundes für die nukleare Entsorgung (AGNEB) und im Beitrag von energeiaplus.com vom Juni 2016 wird mit keinem Wort darauf eingegangen, dass sachlich begründete Warnungen seit langem vorlagen. Die zuständigen Behörden des Bundes und die Nagra gingen einfach darüber hinweg.
Dieses Reaktionsschema lässt sich bei einer Vielzahl von anderen Sachfragen nachzeichnen. Ob nun bei den Kosten der Entsorgung oder bei Fragen der Lagerauslegung, bei Fragen der Qualitätssicherung, der Wahl der Standorte für Oberflächenanlagen oder dem Einengungsprozedere. Bei allen angemahnten Punkten wird das gleiche Verhalten von Behörden und Nagra sichtbar: man übergeht die Einwände und die Warnungen, winkt ab, fährt in der gleichen Art und Weise weiter, stur und unbelehrbar, bis es kein Weiterkommen mehr gibt und die Fehler evident werden.
Aber was soll’s? Parlament, Parteien und Kantone lassen dies zu.
„Dummheit ist lernbar“ (Jürg Jegge 1976)
Dieses Verhaltensschema prägt die gesamte Geschichte der nuklearen Entsorgung seit ihrem offiziellen Beginn im Jahre 1972. Ob nun Wirtgestein Anhydrit oder das kristalline Grundgebirge, das Projekt „Gewähr“, oder das Sachplanverfahren: die Probleme waren stets frühzeitig identifiziert, und die Warnungen wurden mit der gleichen Regelmässigkeit stets zurückgewiesen und verdrängt, wenn sie nicht ins gerade verfolgte Schema passten. Eine Fehlerkultur, die diesen Namen verdient, fehlt im Prozess der nuklearen Entsorgung Schweiz, und dies seit Jahrzehnten.
Zwei Organismen sind seit nunmehr 40(!) und mehr Jahren für diese Fehlplanungen zuständig:
- Die Nagra: Sie hatte stets ein materielles Interesse an „optimistischen“ Planungen, sei es zur Verlängerung der Betriebsbewilligung laufender Kernkraftwerke in den 1980-er Jahren, oder zur Erlangung neuer Rahmenbewilligungen ab 2000. Und natürlich auch zur Beschönigung der effektiven Entsorgungskosten.[6] Die Standortsuche dauert seit 1972, also seit nunmehr 44 Jahren. Die Standortwahl im Rahmen des Sachplanverfahrens dürfte frühestens um das Jahr 2030 abgeschlossen sein. 60 Jahre also wird die Standortsuche Schweiz gedauert haben, und dies im Fall eines positiven Ergebnisses, was heute nicht gesichert ist.
- Das BFE: hier lässt sich (ausserhalb der traditionellen Parteiklüngel-Bindungen) kein materielles Interesse ausmachen. Sachliche Inkompetenz der zuständigen Personen ist in dieser Institution leider weit verbreitet. Beim BFE geht man auch im neu lancierten Sachplanverfahren immer noch davon aus, dass die Führung des Entsorgungsprozesses eine politische Aufgabe sei. Ein Fehlschluss von grosser Tragweite, wie das Scheitern aller vorgehenden Programme aufzeigt.
Ohne Einsicht an höherer Stelle ist davon auszugehen, dass Rückschläge und Verzögerungen genau so weitergehen werden wie bisher. Eine bedrückende Einsicht, wenn man bedenkt, was mit diesen gefährlichen Stoffen auf dem Spiel steht. Darum soll einmal mehr und mit grossem Nachdruck auf die fehlende oder schwach ausgebildete Sicherheits- und Fehlerkultur hingewiesen werden. Nach vielen Jahrzehnten der Misswirtschaft darf gefordert werden, dass es in diesem Bereich endlich vorwärts geht.
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