Zur Erinnerung: Ende eines Industriezyklus
Anfangs März 2016 schalteten wir unseren Beitrag auf zum Thema: „Wie beendet man einen industriellen Zyklus?“ und stellten dazu die Gretchenfrage: „Wie beenden wir in aller Sicherheit den nuklearen Industriezyklus, wissend, dass die Betreibergesellschaften der Kernkraftwerke praktisch pleite sind? Dabei geht es um Fragen der politischen Verantwortung und des Konsenses, der Regulierung, der Organisation des Sektors, der Aufsicht, der fachlichen Kompetenz und natürlich um sehr viel (fehlendes!) Geld. Alles in allem geht es auch darum, weitere Fehlentscheidungen in Sachen Atomtechnologie zu vermeiden, die sodann auf dem Buckel der künftigen Generationen ausgetragen werden. Die Auseinandersetzung der Zukunft wird sich also vor allem um Qualität, Geld und Verantwortlichkeit drehen.“
Ein Schritt weiter
Zwei Monate nach diesen Zeilen ist das Ende des industriellen Zyklus einen weitern grossen Schritt näher gerückt. Am 3. Mai gab die Axpo anlässlich einer Medienkonferenz in Böttstein bekannt, dass der Betrieb des 47 Jahre alten Block 1 des Werks mindestens bis Ende 2016 eingestellt bleibt. Natürlich wird das Ereignis wie immer in blumigen Worten dargestellt[1], trotz den absehbaren finanziellen Ausfällen von mehr als 200 Millionen Franken. Für diese Fälle hat Axpo ja ihre hochbezahlten Kommunikationsfirmen. Aber auch die schönsten Worte können der realen Entwicklung nicht Abbruch tun: im Reaktordruckgefäss des alten Blocks 1 sind Herstellungsfehler der Schmiede nachgewiesen. Die nach Leseart von Axpo „gute Nachricht“ heisst aber nichts anderes, als dass ein fehlerhaftes Produkt gekauft, installiert und über Jahrzehnte betrieben wurde und dass dieses Produkt auch nicht mehr reparabel ist. Die Alterung des Reaktordruckgefässes aufgrund der hohen Neutronenstrahlung und die schwindenden Sicherheitsreserven bei der Sprödbruchtemperatur des Behältermaterials zeigen nun aber, dass die Sicherheitsmarge für den Betrieb des Blocks 1 de facto aufgebraucht ist. Einen indirekten Nachweis für den Ernst der Lage liefert auch Ensi-Direktor Wanner, der beileibe nicht als Atomkritiker bezeichnet werden kann: laut „Baublatt“ sei Beznau 1 „bereits so weit gealtert, dass dieser Block bald ausser Betrieb genommen werden müsse.“[2]
Schweickardt’s Einsicht
Natürlich ist bei solchen Aussagen Vorsicht geboten. In der Vergangenheit haben sich schon viele Absichtserklärungen von Strombranche oder der hierfür zuständigen Behörden als leere Versprechen oder massive Übertreibungen erwiesen. Dass die Situation aber hoffnungslos und hoffnungsloser für die Branche wird, wird auch von den eingefleischtesten Supportern der Atomtechnologie eingeräumt. Vor wenigen Tagen gab Rolf Schweickardt, ehemaliger Alpiq-Verwaltungsratspräsident, in der NZZ ein langes Interview zum Zustand der europäischen Strombranche, mit dem selbstredenden Titel „Ein Grosser wird die Bilanz deponieren“.[3] Die Erosionserscheinungen sind nicht mehr zu übersehen, das System bröckelt. Die ehemals so effiziente Schweizer Stromgeldmaschine ist in der Krise. Der liberalisierte Markt macht den Produzenten von Grossproduktionsanlagen schwer zu schaffen, insbesondere seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008. In der Folge ging die „wirtschaftliche Tätigkeit deutlich zurück, insbesondere in den stromintensiven Sektoren“. Die europäische Desindustrialisierung mit der Verlagerung von stromintensiven Unternehmungen ins Ausland wurde so zur Quelle der Stromüberkapazitäten Es waren also nicht in erster Linie die immer wieder hierfür verantwortlich gemachten Überkapazitäten von erneuerbarem Wind- und Photovoltaikstrom in Deutschland. Die Mär der drohenden Stromlücke, die Schweickardt und Ex-Axpo-Chef Karrer noch vor wenigen Jahren als Schreckensgespenst an die Wand malten, hat sich im Nichts aufgelöst.
Laut Schweickhardt befindet sich die Strombranche in einem grundlegenden Umstrukturierungs-Prozess von einer bisher auf zentralen Grossproduktionsanlagen fussenden Struktur zu einer flexiblen dezentralen Energieproduktion. In fünf bis zehn Jahren würden Grosskraftwerke „nicht mehr gefragt sein, höchstens als Residualkraftwerke, um Schwankungen auszugleichen, dies aber nicht in einem grossen Umfang. Die gesamte Strominfrasstruktur wird umgekrempelt.“ In dieser neuen Ökonomie hat es darum auch keinen Platz mehr für zentralisierte und teure Hochrisikoanalagen wie die konventionellen Atomkraftwerke. Ihr Untergang ist besiegelt und dürfte sehr viel rascher kommen, als manchen bewusst ist. Das Waterloo der Nukleartechnik ist in vollem Gang.
Weitsicht ist nicht formell untersagt!
Das wusste man schon seit Jahrzehnten (wenn man dies wissen wollte!). Der Erste, der dies vorausgesagt hatte war James Conant, Berater verschiedener amerikanischer Präsidenten, unter anderen auch von Präsident Roosvelt in den entscheidenden Jahren des amerikanischen Bombenbauprojektes während der Kriegsjahre und langjähriger Präsident der Eliteuniversität von Harvard. Seine 1951 anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der amerikanischen Chemischen Gesellschaft vorgetragene Warnung hätte nicht klarer sein können: Fünfzehn oder zwanzig Jahre nach der Zündung der ersten Atombombe werde eine nüchterne Analyse zu einer grundlegenden Neubewertung der atomaren Spaltung führen und zeigen, dass sie nicht der Mühe wert sei. Die unerschöpfliche Solarenergie würde die Atomenergie verdrängen.[4] Alvin Weinberg, einer der grossen Nuklearoptimisten und -propheten gestand in den erwähnten Memoiren, dass er seine Warnung nicht genügend ernst genommen hatte. Das war 1994 und Weinberg hatte bereits Abschied vom „ersten atomaren Zeitalter“ genommen.
Andere sahen das Ende schon sehr viel früher. In der Schweiz waren es junge Wissenschaftler, die in ihren in den späteren 1970er Jahren publizierten Berichten wie etwa dem Rapport „Jenseits der Sachzwänge“ und vielen anderen Berichten das Aufkommen der erneuerbaren Energien vorhersagten. Vertreter der Atomenergie machten sich damals über solche Analysen öffentlich lustig, so auch der damalige „Energie-Papst“ Michael Kohn, der kein gutes Haar an den erneuerbaren Energien liess.[5] 1984 publizierte die Schweizerische Energie-Stiftung ihren Report Nr. 14 mit dem vielsagenden Titel „Atomenergie: die grosse Pleite.“ Der Autor, der deutsche Physiker Ruggero Schleicher, wies die horrenden Kostenfolgen der Atomenergie bereits damals im Detail nach, und er schloss seine Analyse mit einer Folgerung, die für jeden schon damals sichtbar war, der es wissen wollte: „Der Niedergang der Atomenergie entwickelt sich offenbar zum grössten Debakel der Technikgeschichte. Die Entwicklung der Kernenergie stellt sich heute dar als Geschichte von Fehleinschätzungen und falschen Fragestellungen. Allein mit wirtschaftlichen Interessen lässt sie sich kaum rational begründen. Nicht nur eine machtgierige Elektrizitätswirtschaft oder eine geschäftshungrige Atomindustrie standen dahinter. Bezeichnenderweise war gerade die Energiewirtschaft bis zum Ende der sechziger Jahre weltweit sehr skeptisch gegenüber der Atomenergie. Treibende Kräfte waren damals eher Teile der staatlichen Bürokratie und der Wissenschaft, eine allgemeine Atomeuphorie, das Militär, später die Kraftwerkshersteller“ (S. 173).
Diese staatlich-industrielle Interessensallianz hat es bis vor kurzem verstanden, ihren Besitzstand gegen den Ansturm der Zeit zu verteidigen. Mit katastrophalen Folgen, denn jetzt holen die unbewältigten Probleme die Kraftwerksgesellschaften mit voller Wucht ein. Die mangelnde Rentabilität der Nuklearindustrie wird ihr schon bald das Genick brechen, sie hinterlässt einen gewaltigen Schuldenberg von Milliarden und Abermilliarden, die wieder einmal auf die Schultern der Allgemeinheit verteilt werden wird. Voraussichtlich einmal mehr ohne Konsequenzen für die wirklich verantwortlichen Kreise.
Die Lebenslüge
Denn Schuld daran war – wie schon immer in solchen historischen Situationen – niemand. Hinter dem ulyssischen „Niemand“ lässt es sich gut verstecken. Man konnte es nicht wissen, auch beim besten Willen nicht, wird dann vorgeschoben. Diese Lebenslüge ist historisch bei allen Fehleinschätzungen belegt, auch bei jenen, die bis heute noch bestehen, wie etwa bei allen Geschichten von Extermination und Bevölkerungsabschlachtung. Bezeichnend ist ja auch hier der Selbstbetrug bei jedem Holocausts: „Wir haben es nicht gewusst“. Obschon alle es sehr wohl wussten. Dies gilt auch für das Drama der Atomenergie.
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