Nun sind es 47 Jahre, dass die Autoren dieses Blogs Endlagerprojekte für radioaktive Abfälle begleiten und etwa 50 Jahre, seitdem die Nordostschweizerischen Kraftwerke ihre Suche nach einem geologischen Standort im aargauischen Tafeljura und am Südrand des Gotthardmassifs, im Val Bedretto und im Val Canaria starteten, damals mit der erklärten Absicht, noch vor Ende des zwanzigsten Jahrhunderts über eine Lösung zum Preis von 2 Mia CHF zu verfügen. Nach bereits 50 vollendeten Jahren, sollen nun nochmals mindestens 40 Jahre, mit grosser Wahrscheinlichkeit aber noch mehr als ein halbes Jahrhundert vor uns (und der kommenden Generation) liegen, bis die Abfälle auf die sicherst mögliche Art versorgt sind und dies zu einem Preis von 20.6 Mia CHF, nach Berechnungen aus dem Jahr 2011.

100 Jahre oder mehr zur Realisierung eines 30-Jahre Projektes? Und 10 Mal (und wahrscheinlich sehr viel) höhere(n) Kosten, als ursprünglich geplant? All das scheint unglaublich, und zwar so unglaublich, dass man nicht umhin kommt, einige unwürdige Fragen zu stellen. Fragen, auf die wahrscheinlich jeder Kenner seine eigenen Ansätze zu Antworten hat, aber kaum alle dieselben. Und man fragt sich auch, ob überhaupt jemand die wirklichen Antworten kennt?
Zur Verantwortung: Was sagt das Gesetz?
Kernenergiegesetz, Artikel 31, besagt: „Art. 31 Pflicht zur Entsorgung:
1 Wer eine Kernanlage betreibt oder stilllegt, ist verpflichtet, die aus der Anlage stammenden radioaktiven Abfälle auf eigene Kosten sicher zu entsorgen. Zur Entsorgungspflicht gehören auch die notwendigen Vorbereitungsarbeiten wie Forschung
und erdwissenschaftliche Untersuchungen sowie die rechtzeitige Bereitstellung eines geologischen Tiefenlagers.“
Juristisch sind in der Schweiz die Betreibergesellschaften verantwortlich für die Entsorgung der aus Kernanlagen anfallenden Abfälle. Dies sind:
- Die BKW als Betreiber des KKM
- AXPO als Betreiber von KKB 1 + 2
- Kernkraftwerk Gösgen AG, Haupt-Beteiligungen von Alpiq und Axpo
- Kernkraftwerk Leibstadt AG, Haupt-Beteiligungen von Axpo und Alpiq
Zudem fallen Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF) an, für die der Bund geradesteht.
Kantone sind die wichtigsten Aktionäre der Werke, allen voran Zürich und Aargau (AXPO) und Bern (BKW). U.a. hält aber auch der französische Staat einen wichtigen Anteil an ALPIQ, und damit namentlich am Kernkraftwerk Gösgen.
Der Bund ist Aufsichts- und Bewilligungsbehörde und vertritt die MIF-Produzenten. Im Rahmen des Sachplans Geologische Tiefenlager ist er auch koordinierende Behörde. Wie teilt er nun die Verantwortung mit den Betriebsgesellschaften und mit deren Aktionären, den Kantonen?
„Strom“: eine kleine Nachtgeschichte
Man kann das bis zur Stromliberalisierung wirkende „Elektrizitätswerk Schweiz“ mit einem Pot-au-Feu vergleichen:
Zur Versorgung von Bevölkerung und Industrie versorgten die Kantone bis zur Liberalisierung des Strommarktes die Wirtschaft mit billigem Strom und forcierten dessen Abnahme – wie bei Elektroheizungen – wo es auch nur ging (Pot-au-Feu). Gekocht wurde – wie sollte es anders sein – auf einem Elektroofen. Damit alles spielte, wirkten Regierungsräte gleichzeitig als Köche und (in der Funktion von Verwaltungsräten der Elektrokonzerne) als Stromproduzenten und -lieferanten. Wirtschaft und Bevölkerung bezahlten den zu billig verkauften Strom und trugen gleichzeitig über die Stromrechnung ihr Schärfchen zum Staatsbudget bei. Alle Beteiligten waren zufrieden und wollten in keinem Fall durch unnötige Investitionen, etwa in die Entsorgung radioaktiver Abfälle, das Pot-au Feu-verteuern. Der Bund überblickte die Szene mit Wohlwollen und versicherte die Bevölkerung, dass international anerkannte Sicherheitsnormen eingehalten würden. Das ursprünglich auf sieben Jahre geplante „Projekt Gewähr“ wurde als Alibiprogramm auf kleinem Feuer weichgekocht und über fast drei Jahrzehnte hingezogen.
Dann kam 2006 zuerst die Anerkennung des Entsorgungsnachweises durch den Bundesrat. Die internationale Klimadebatte nahm zudem Fahrt auf. Die Kantone und ihre Elektrobranche witterten Morgenluft und reichten Rahmenbewilligungsgesuche für drei neue Kernkraftwerke ein. Der 2008 beschlossene Sachplan sollte dafür herhalten, das leide Thema des Endlagerstandorts aus der Welt zu schaffen. Einmal mehr sollte in kürzester Zeit bewiesen werden, dass die Entsorgung der radioaktiven Abfälle Realität werden konnte.
Aber die Liberalisierung des Strommarktes, begleitet von einem kurzen Anstieg und dann dem dramatischen Einbruch der Strompreise, sowie der Unfall von Fukushima, setzten dem Traum ein Ende. Unterdessen hatten sich die geschätzten Kosten für die Entsorgung gegenüber 1980 bereits verzehntfacht; die Elektrokonzerne und damit die Kantone hatten die Kontrolle über den Strompreis verloren und die bereits Anfangs der 1980er Jahre vorausgesagte Pleite zeichnete sich nun am Horizont ab. Kein Grund mehr also, den Sachplan voranzutreiben: Vielmehr volle Kraft zurück und Verlängerung der Fristen um weitere 10 bis 20 Jahre! Und damit wiederum: Verteuerung um X Milliarden CHF.
Aber wen kümmerts?
Die Stromkonzerne, allen voran ALPIQ, verkaufen das Tafelsilber, die „Bijoux de famille“ (z.B. die Beteiligung an Swissgrid). Bund, Sicherheitsbehörden, Nagra, Kantone und Experten sind in einem Kampf um den Sachplanprozess verstrickt und verlieren dabei die zentralen Fragestellungen aus den Augen. Dies kann nicht im Interesse der künftigen Generationen sein.
Fragen (nur Fragen!) zur Verantwortung für die Projektverzögerung und – verteuerung
Die Verzögerung der Entsorgung bedeutet ein zusätzliches Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung und enorme Mehrkosten. Das Projekt stört die wirtschaftliche Entwicklung in den Zielregionen und bedroht den sozialen Frieden. Das waren Erkenntnisse, die bereits im Report 14 „Atomenergie – die grosse Pleite“ gezogen worden waren. Mit Blick auf solche Erkenntnisse und Warnungen kommt man nicht umhin, die Frage nach Fehlern und der Art und Zuweisung der Verantwortung für diese Missstände zu stellen, Fragen, mit denen sich die Philosophen Hans Jonas in seinem „Prinzip Verantwortung“, Günther Anders in seiner „Antiquiertheit des Menschen“ oder Robert Spaemann in seinem „Nach uns die Kernschmelze“ auseinandersetzten. (In jüngerer Zeit auch Günter Ropohl in verschiedenen Schriften).
- Inwiefern liegen die Fehler für diese Entwicklung bei den Betreibergesellschaften, den Elektrokonzernen und ihren leitenden Instanzen? Nahmen und nehmen diese ihre Verantwortung generell wahr? Verzögerten und verzögern sie den Prozess? Falls ja: mit welchen Motiven? Geht es darum, Kosten aufzuschieben? Geht es am Ende gar darum, die Entsorgungskosten nach einer Pleite der Betriebsgesellschaften und Elektrokonzerne auf Kantone und Bund, also vom Stromkonsumenten ( v.a. Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen und Verkehr) auf den Steuerzahler (v.a. Arbeitnehmer) abzuwälzen? Sind auch sie Opfer ihrer Erwartungen und eines ausser Kontrolle geratenen Optimismus? Und bei der Entsorgung: Spielt die NAGRA in diesem Sinn im Auftrag der Werke und der Stromkonzerne auf Zeit? Trägt die NAGRA selbst an der Schuld für Verzögerung und Verteuerung des Projektes mit, etwa durch falsche Planung, oder ist sie als reiner Wasserträger der Elektrowirtschaft zu betrachten? Inwiefern ist die NAGRA selbst Initiant der Strategie?
- Welche Fehltritte gehen zu Lasten der Kantone? Wollten die Kantone als Hauptaktionäre der Kernkraftwerke durch die Verzögerung der Entsorgung ihre Dividenden aus dem Stromverkauf schützen? (was wohl bei den heutigen Marktverhältnissen ohnehin nicht mehr funktioniert) Oder: Wollen die Regierungen der Kantone (v.a. Aargau, Zürich) als Standortregionen für die geologischen Tiefenlager Zeit gewinnen? Aber Zeit wofür? Politische Zeit bis zur nächsten Wahl? Zeit zur Hinausschiebung der grossen Kosten zu ihren Lasten? Ist etwa die Vorschiebung des Standorts Lägern Nord im Auswahlverfahren des Sachplans wirklich nur durch Sicherheitsüberlegungen begründet? Oder geht es schlussendlich auch darum, das Verfahren zu schützen, indem ein anderes Szenario möglich wird, als das längstens Vorbestimmte der Nagra-Aktennotiz AN11-711?
- Welches ist der Anteil an Verantwortung der politischen und administrativen Bundesbehörden, namentlich des UVEK, des Bundesamts für Energie BFE und des Sicherheitsinstituts ENSI? Müsste der Bund nicht eine effektive Kontrolle über die strategischen Planungsvorhaben, Zeitplanung und Budgetplanung der NAGRA ausüben, sodass die Projektplanung in Funktion der zu lösenden Probleme formuliert und die jeweiligen Mittel der Entsorgungsorganisation auch wirklich den Bedürfnissen angepasst werden? Haben sich die Administrationen die erforderlichen Ressourcen und die notwendige Unabhängigkeit, ein Programm dieser Dimension erfolgsversprechend zu leiten?
- Welches ist die Verantwortung der Wissenschaft und seiner Institutionen? (Kästchen 1)
- Hat nicht auch das Parlament seinen Anteil an diesem Debakel, indem es die Verschiebungen der Entscheide zum Abstellen der Werke nach der Nicht-Erbringung der „Gewährs“-Klausel akzeptierte und in den folgenden 30 Jahren nicht hinterfragte? Ist ein Parlament nicht blind, dass es erlaubt, für tausende von Generationen hochgradig gefährliche Abfälle entstehen zu lassen, ohne für deren sichere und dauerhafte Entsorgung zu sorgen? Müssten nicht unsere Parlamentarier dafür Sorge tragen, dass derartige Übertretungen in Sachen Nachhaltigkeit schnellstens korrigiert würden?
- Und schliesslich: haben nicht auch die Schweizer Industrie und das Schweizer Volk ihren Anteil an diesem Debakel, indem es bei verschiedenen Gelegenheiten verpassten, der Nuklearenergie eine Absage zu erteilen und auszusteigen und damit Eliten und Verwaltung in ihrer kurzsichtigen Politik legitimierten? Indem es billige Energie konsumierte zu Lasten der Nachfahren?
Dieser Fragenkatalog ist sicher unvollständig und ungenügend, und auch die Antworten darauf dürften nicht genügen, um die Lage in der Entsorgung voll zu verstehen. So müsste man sicher noch weiter greifen und auch die internationale Situation in die Analyse mit einbeziehen, und zudem auch militärische Aspekte und aussenpolitische Interessen betrachten. Als Einwohner dieses Landes quälen in jedem Falle die Fragen: Ist es Betrug, Mogelei, Unwissenheit oder menschliche Arroganz die uns in diese Situation geführt haben? Oder alles zusammen? Eine Schande jedenfalls ist es allenthalben!
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Kästchen 1: Fragen zu Wissenschaft und Technik
Wissenschaft und Technik haben eine besondere Verantwortung bezüglich den Folgen ihres Handelns. A. Priller stellt dazu folgende Aussage Albert Einsteins an den Anfang ihrer diesbezüglichen Überlegungen zum Dilemma des Wissenschaftlers in der modernen technisierten Gesellschaft: “Der Gelehrte ist gezwungen, sich auf Befehl der ständigen Vervollkommnung der Mittel für die allgemeine Vernichtung der Menschen zu widmen. Muss sich der Wissenschaftler wirklich dieser Herabwürdigung beugen? Hat er in blinder Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit seine menschliche Verantwortung und Würde vergessen?”[1] Diese Einsicht kann auch den Beteiligten in der Entsorgung gespiegelt werden.
- Stellt die Langzeitsicherheit die Wissenschaft vor derart schwierige Fragen, dass diese kaum, nicht wirklich, oder gar nie beantwortet werden können?
- Sind die Wissenschaften mit der Komplexität solcher technischer Lager in ihrer natürlichen Umgebung überfordert?
- Werden sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse je so weit stabilisieren, dass nicht nur einige Experten, sondern die „Gemeinschaft der Wissenschaftler“ und die Öffentlichkeit, inklusive die betroffene Bevölkerung dahinter stehen werden?
- Versteckt man sich heute nicht hinter gewissen Vorstellungen (zum Beispiel der langen Geschichte der Erde als Garant der Sicherheit), um so nicht alle Problemkreise (technische Barrieren der Abfälle, Abfallbehandlung) bis zur Reife zu erforschen?
- Glauben die Wissenschaftler noch immer an die Transmutation (Umwandlung) der Abfälle als Lösung und zögern deshalb die Tiefenlagerung zu realisieren?
- Und vor allem: wie gehen Wissenschaft und Technik und die darin wirkenden Menschen mit ihrer Verantwortung um?