Marcos Buser
Rotpunkt Verlag
Eine kurze Einführung
Am 14. Juni 2012 trat Marcos Buser aus der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit zurück. Unter Protest. Nach viereinhalb Jahren Zugehörigkeit. Seinem Rücktritt ging ein knapp einjähriges inneres Ringen voraus, während dessen er nach Auswegen und Lösungen aus einer für ihn unhaltbar gewordenen Situation gesucht hatte. Wenn ein Experte aus einem Gremium zurücktritt, das ihm weit über Fachkreise hinaus sowohl im In- wie Ausland Ansehen und Respekt verschafft, muss ein ernster Grund vorliegen, zumal, wenn der Schritt unter Protest geschieht. In seinem Fall war dieser Grund das, was in der Schweiz gern als »Filz« bezeichnet wird: ein System, das persönlich eng verknüpft im Hintergrund zusammenspannt und zusammenarbeitet und das die Bedingungen und Voraussetzungen nicht gewährleistet für einen interessenunabhängigen und sachgerechten Umgang mit einem der gefährlichsten Güter, das die Menschheit bisher hergestellt hat: radioaktive Abfälle.
Auf seinen Rücktritt folgten monate-, ja jahrelange Berichterstattungen in den Medien. Knapp ein Jahr nach seinem Ausscheiden aus der Kommission eröffnete die Schweizer Bundesanwaltschaft ein Verfahren wegen Verletzung der amtlichen Schweigepflicht gegen ihn und seinen Informanten. Die Atomaufsicht und die Entsorgungsorganisation der Atomkraftwerkbetreiber waren zuvor mithilfe von zwei Untersuchungsberichten – so gut das überhaupt noch möglich war – »reingewaschen« worden. Ein Systemwechsel fand jedoch nicht statt. Die verantwortlichen Instanzen hielten an der seit Jahrzehnten bewährten Aufgabenteilung fest: Die Atomwirtschaft zog die Fäden wie bisher aus dem Hintergrund, die Aufsicht trabte brav hintendrein, die Kommissionen nickten die Entscheide verlässlich ab, die verfahrensleitenden Stellen auf Bundesebene sorgten für die politischen Mehrheiten. Wie erwartet blieben die Probleme bestehen oder mehrten sich sogar.
Wohin mit dem Atommüll? Die Suche nach einem Standort für atomare Endlager schleppt sich seit bald fünf Jahrzehnten dahin. Die Rückschläge wiederholen sich. Die Verzögerungen nehmen kein Ende. Mit der Zwischenlagerung des hochgefährlichen Abfallguts verschieben die verantwortlichen Stellen die Probleme in die Zukunft. Auf unzählige Generationen. Nicht nur in der Schweiz. Auch nicht nur in Deutschland. Sondern in allen kernenergienutzenden Staaten der Welt. Deswegen schweigen sich die verantwortlichen Institutionen und Experten über unbequeme Wahrheiten aus. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aus offiziellen Kreisen kommt kaum Einspruch gegen diese unhaltbaren Zustände. Man schweigt zu diesen Sachverhalten und macht weiter wie bisher. Im Glauben, es werde sich schon einmal eine Lösung über den bisher verfolgten Pfad finden lassen.
Wie es in Industrieländern mit demokratischen Systemen überhaupt möglich ist, dass Institutionen, die die Kontrolle über Hochrisikobereiche ausüben müssten, in eine derartige Abhängigkeit von Interessensgruppen geraten, wird in diesem Buch beschrieben. In einem ersten Teil wird der Rahmen der Handlung kurz umrissen und die bisherige Geschichte der nuklearen Expansion in einem großen, internationalen Bogen beleuchtet. Zu dieser Geschichte gehören die überrissenen Hoffnungen einer Gesellschaft in ein goldenes Zeitalter, die nukleare Aufrüstung und die Expansion der friedlichen Nutzung der Atomenergie wie auch die Misserfolge bei der Bewältigung der anstehenden Probleme. Dazu gehört auch die systematische Unterdrückung von Warnungen und Kritik durch Wissenschaftler aus den eigenen Reihen.
Diesem historischen Überblick über das internationale Geschehen folgt der zweite Teil des Buchs, der sich der Geschichte der Atomenergie in der Schweiz im Allgemeinen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle im Speziellen annimmt. Das reichhaltige Material, das vier Jahrzehnten eigener Erfahrungen und der Auswertung einer umfangreichen wissenschaftlichen Literatur entspringt, beschreibt den Umgang des politischen Systems mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle und die Illusionen einer schnellen Lösung. Es zeigt die Methoden, die bei der Abwehr eines wissenschaftlich offenen Diskurses zur Anwendung kommen, insbesondere im Rahmen des gegenwärtig laufenden Standortsuchverfahrens für geologische Tiefenlager. Schließlich thematisiert dieser zweite Teil die verdrängten Probleme im Umgang mit dem radioaktiven Legat, die nun zunehmend sichtbar werden.
Im einem kurzen dritten Teil des Buchs wird schließlich das Vorgehen der mächtigen Institutionen im Bereich der Nuklearindustrie reflektiert. Es werden Mechanismen aufgezeigt, wie diese Durchsetzung konkret strukturiert ist und wie die Steuerung eines solchen Systems erfolgt. Diese Schlussbetrachtung endet mit einer kleinen Analyse über die erforderlichen Reformen, die eingeleitet werden müssten, um bei der Bewältigung der ungelösten Probleme vorwärtszukommen.
Dieses Buch will erklären. Es will in erster Linie Mechanismen aufzeigen und Missstände benennen und gilt nur in zweiter Linie den Personen, die darin verwickelt sind. Denn diese sind austauschbar und spielen nur die untergeordnete Rolle von »Zähnen und Rädern« in einer großen institutionellen Maschinerie. Es geht um grundlegende Fragen der Organisation von Sicherheit von Hochrisikoanlagen, um systemische Mängel und um Fehlfunktionen, die von einer Gesellschaft und ihren politisch verantwortlichen Institutionen bedacht und anders beantwortet werden müssten. In diesem Sinne ist dieses Buch auch als Zeitdokument zu verstehen; es soll auch künftigen Leserinnen und Lesern einen Blick in die Dunkelkammern von Machtsystemen und die Kultur des copinage unserer Zeit ermöglichen – als Gegenpol zu offenen Systemen mit funktionierender Auf-Sicht.
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